Die Praxis zeigt und wissenschaftlich ist es längst belegt, dass Menschen durch Techniken und Methoden allein nicht nachhaltig beeinflusst werden können und dass Lösungsstrategien, die auf linearen Ursache-Wirkungsmechanismen und vorgeplanten Verhaltenszielen beruhen, nicht greifen können. Carl Rogers, Begründer des Personzentrierten Ansatzes, war einer der ersten, der diese Modelle schon in den 1950er-Jahren widerlegte und sie als realitätsfern betrachtete. Nach seiner Auffassung besitzt jeder Mensch die Fähigkeit, sich konstruktiv zu entwickeln und Probleme eigenverantwortlich zu lösen, wenn seine Ressourcen und Potentiale erkannt und gefördert werden. Dies ist nur möglich, wenn die Person sich in Beziehungen erfahren kann, in denen sie sie selbst sein, sich selbst entdecken, entwickeln und steuern kann. Rogers zeigte in seinen Forschungen, dass es wachstumsfördernde Beziehungen sind, die Veränderungs- und Persönlichkeitsentwicklungsprozesse wirksam machen.
Entgegen verbreiteter pädagogischer und psychologischer Auffassung verändern Menschen ihr Erleben und Verhalten demnach nicht durch Einflüsse oder Verhaltensvorschriften von außen, die sich nicht auf ihre eigenen Ressourcen, Interessen und Motive beziehen.
Die aktuelle Coaching-Forschung bestätigt die Ergebnisse von Rogers: Prof. Dr. Erik de Haan fokussierte beim 3. Internationalen Fachkongress „Coaching meets Research“ (Olten, Schweiz) im Juni 2014 Erkenntnisse der Coaching-Ergebnisforschung sowie aktuelle Resultate einer Coaching-Studie mit rund 4.000 Teilnehmenden. Zentrales Ergebnis: Weniger die Techniken, sondern insbesondere die Qualität der Beziehung zwischen Coach und Klient sei für den Coaching-Erfolg von maßgeblicher Bedeutung (RAUEN Coaching-Newsletter 2014-07/08).
Aus seinen Forschungen leitete Rogers sechs Beziehungsbedingungen für die Ermöglichung von Persönlichkeitsentwicklung ab. Die Relevanz der Beziehungsbedingungen wurde durch zahlreiche Forschungsergebnisse bestätigt und zwar nicht nur in Bezug auf psychologische Beratung und Psychotherapie, sondern in Bezug auf alle professionellen Beziehungsprozesse – beispielsweise auch für Personzentrierte Führung und für die Beratung in der Personal- und Organisationsentwicklung (Rogers, 2012). Die Beziehungsbedingungen für Persönlichkeitsentwicklung werden als Grundlagenforschung betrachtet und sind als schulenübergreifende Metatheorie zu verstehen (Rogers, 2009; Rogers, 1977; Schmid, 2002).
Diese Beziehungstheorie wurde bisher in der Coaching-Szene nicht bzw. reduziert rezipiert und wird hier für Personzentriertes Coaching im Überblick beschrieben (nach Rogers, 1991b/2009; 168):
Die Punkte drei bis fünf sind als sogenannte „core conditions“, sprich Kernbedingungen, auch im Coaching relativ bekannt und meist schulenübergreifend anerkannt. Die persönlichkeitstheoretische zweite Bedingung und die interaktionellen Bedingungen eins und sechs werden dagegen häufig nicht beschrieben und unterschätzt.
Die „core conditions“ werden häufig als Interventionskompetenzen, Techniken oder Verhaltensanweisungen missverstanden wie z.B. bei Hockel & Jiranek (2012). Im schlimmsten Fall wird der Personzentrierte Ansatz auf eine „mechanistische Technik des aktiven Zuhörens“ reduziert, indem das vom Klienten Gesagte wiederholt wird, was (zu Recht) als unzureichend kritisiert wird.
Die Beziehungsbedingungen beschrieb Rogers jedoch nicht auf der Handlungsebene, sondern auf einem hohen Abstraktionsniveau als eine Einstellung – „a way of being“. Sie können nicht methodisch hergestellt werden, sie müssen von Coaches als Haltung gelebt werden. Das konkrete Verhalten und die Interventionen des Coachs müssen sich von Moment zu Moment neu und individuell auf das Erleben des Klienten ausrichten. Die empirischen Analysen zeigen, dass Methoden, die nicht auf einer entsprechenden Einstellung basieren, Entwicklungsschritte der Klienten verzögern oder verhindern (Höger, 2006).
Unconditional positive regard („positive“ im Sinne von „sicher, konstruktiv, ausdrücklich“) meint eine ausdrückliche Beachtung des Klienten. Der Coach macht seine aufmerksame Zuwendung von keinerlei Bedingungen abhängig. Er erlebt, dass er sich allen Facetten des Klienten mit der gleichen hohen Aufmerksamkeit zuwenden kann (Lammers & Biermann-Ratjen, 2013).
Einfühlsames Verstehen ist ein kognitives und emotionales Einfühlen und Hineindenken in die subjektive Wirklichkeit des Klienten, ohne diesen zu bewerten. Ob ein Coach empathisch ist, erfährt er vor allem durch die Reaktion des Klienten. Die Forschung zeigt, dass Klienten das Maß an Empathie besser als die Professionals einschätzen (Rogers, 2005).
Nicht an Bedingungen geknüpfte Beachtung und empathisches Verstehen des Klienten beinhaltet ein hohes Maß an Aktivität, denn es bedeutet, mit dem Erleben des Klienten in Kontakt zu kommen und ständig zu bleiben und ihn bei der Selbstreflexion zu unterstützen.
Eine als hilfreich erfahrene Beziehung kann nicht erzeugt, sondern nur angeboten werden. Die Wirksamkeit des Beziehungsangebots entfaltet sich nur dann, wenn ein Klient es als für sich förderlich wahrnimmt. Dies bedarf einer kontinuierlichen Aufmerksamkeit des Coachs,
Hervorgehoben wird, dass Rogers Empathie als ein Sich-Einfühlen in den Inneren Bezugsrahmen des Klienten definierte. Dies beinhaltet, dass ein Coach
Dieses Vorgehen im Coaching, das sich in der Klient-Coach-Beziehung entwickelt, ist in höchstem Maße relational, am Klientensystem orientiert, situations-, problem-, interaktions- und prozessspezifisch, denn „es gibt ebenso viele ‚wirkliche Welten‘, wie es Menschen gibt“ (Rogers, 2005b; 179).
Die Aktualisierungstendenz bildet eine zentrale zweite Säule der Personzentrierten Konzeption. Sie ist ein fundamentales Axiom und besagt, dass jeder Mensch „eine inhärente Tendenz zur Entfaltung aller Kräfte besitzt, die der Erhaltung oder dem Wachstum des Organismus dienen“ (Rogers, 1977; 35). Sie ist angeboren, wirkt verhaltenslenkend, energetisierend und ist auf positive Ziele wie z.B. psychische Reife, Bedürfnis nach Wachstum (growth motivations), Entwicklung hin zur Autonomie und weg von Heteronomie sowie auf Kreativität ausgerichtet. In Krisenzeiten und schwierigen Lebensphasen steht häufig die Selbsterhaltung im Vordergrund, es wird an einst bewährten Bewältigungs- und Beziehungsmustern festgehalten und die Selbstentfaltungstendenz ist eingeschränkt(er).
Die Aktualisierungstendenz als ein gestaltpsychologisches Prinzip der Selbstorganisation besagt auch, dass anderen Menschen nicht direkt etwas gelehrt oder vermittelt werden, sondern dass nur ihr Lern- und Entwicklungsprozess gefördert werden kann. Geht es im Coaching um signifikante Veränderungsprozesse, d.h. um Selbsterfahrungen des Klienten, die sein Selbstkonzept erweitern und flexibilisieren können, dann kann dies zunächst psychische Spannung und Angst auslösen. Häufig kann sich ein Klient mit seinem Anliegen nicht selbst empathisch verstehen und sich nicht selbst bedingungsfrei positiv beachten – er ist mit sich uneins.
Beispielsweise hat eine Führungskraft das Ideal, alle Mitarbeiter kooperativ zu führen. Sie macht die Erfahrung, dass sie mit diesem Führungsstil an Grenzen stößt – z.B. bei einem Mitarbeiter, der bei Besprechungen Beschlüsse positiv mit abstimmt, sich aber nicht daran hält. Die Führungskraft hat den Impuls, autoritär zu reagieren, was nicht mit ihrem Selbstkonzept übereinstimmt. Sie kann diese Selbsterfahrung nicht in ihr Selbstkonzept integrieren und wird dadurch unter Umständen handlungsunfähig, wodurch Coaching-Bedarf entsteht. Die Integration neuer Selbsterfahrungen in das Selbstkonzept eines Klienten (bezogen auf das Beispiel: ein subjektiv stimmiges, flexibles Führungsverhalten zu finden) bedarf deshalb eines Sich-sicher-Fühlens in der Beziehung zum Coach, in dem sich der Klient nicht bedroht fühlt.
Kernbedingungen
Kongruenz
Als Coach in der Lage sein, sich alle Gefühle, Gedanken und Erfahrungen, die er in der Beziehung mit seinen Klienten erlebt, bewusst machen zu können und zu wissen, welche von seinen Hier-und-Jetzt-Gefühlen er einbringen möchte, damit sie im Dienst des Wachstumsprozesses des Klienten stehen. Ferner bedeutet es, authentisch zu sein und nicht maskenhaft mit einer professionellen Fassade aufzutreten.
Bedingungsfreie Positive Beachtung (BPB)
Nicht die Verhaltensweisen des Klienten zu billigen oder gutzuheißen, sie ist keine gleichbleibend freundliche Haltung. BPB meint, einen Klienten so wahrzunehmen und ausdrücklich aufmerksam zu achten, wie er sich sieht, einschließlich all seiner Einstellungen, Gefühle und Ideen. Der Coach macht seine aufmerksame Zuwendung von keinerlei Bedingungen abhängig und kann sich unterschiedslos allem Erleben seines Klienten zuwenden.
Empathie
Bedeutet weder Mitgefühl zu haben, noch sich mit dem Klienten zu identifizieren, auch nicht verständnisvolle Billigungen auszusprechen oder den Klienten in seinen Gefühlen zu bestätigen. Sie bedeutet, ein möglichst vollständiges und genaues Sich-Einfühlen in den Inneren Bezugsrahmen des Klienten mit all seinen Bedeutungen und die Genauigkeit der Wahrnehmung des Coachs mit dem Klienten zu überprüfen.
Das Spezifische der Personzentrierten Auffassung ist, dass es die Beziehung zwischen Coach und Klient ist, die wirksam sei. Methoden betrachtete Rogers als sekundär – „außer in dem Ausmaß, in dem sie als Kanäle für die Erfüllung einer der genannten Bedingungen dienen“ (Rogers, 2009; 182). Er gab bewusst weder Regeln zum Aufbau einer hilfreichen Beziehung noch Techniken oder Interventionen, die eine Entwicklung der Beziehung zwischen Coach und Klient ermöglichen, vor (Biermann-Ratjen & Auckenthaler, 2008).
Gutberlet (2008; 49–50) formulierte Bedingungen für die Integration von Methoden ohne Einbuße der Wirkkraft des Personzentrierten Beziehungsangebots:
Zusammenfassend wird hervorgehoben, dass die Beziehungsbedingungen weit mehr als Beziehungsaspekte in dem Sinn sind, dass sie funktional eingesetzt werden, um den Klienten zur Mitarbeit zu gewinnen. Die Klient-Coach-Beziehung dient nicht der Vorbereitung auf das Coaching oder der Unterstützung des Coachings. Personzentriertes Coaching setzt auf Veränderung durch Beziehung mit dem Ziel, dass ein Klient bisher inkongruente Beziehungserfahrungen korrigieren und eine authentischere und selbstempathischere Beziehung zu sich selbst entwickeln kann.