Berührt vom Werdegang einer Kollegin. Es geht ihr schlecht. Sie ist dieser Tage als Leiterin einer Beratungsstelle fristlos entlassen worden. Viele ihrer bearbeitet geglaubten psychischen Probleme sind zurück.
Sie ist eine anerkannte Expertin und Lehrtrainerin ihrer Fachgesellschaft. In diesem Kontext wirkte sie noch kurz davor kompetent und mit bester Ausstrahlung als Referentin und als Supervisorin. Sie ist eine kompetente Mutter, hat eine schwierige Scheidung gut überstanden.
Obwohl sie gerne freiberuflich tätig gewesen wäre, hat sie den Zugang dazu nicht gefunden. Potentielle Partner haben ihre fachliche Mitwirkung geschätzt, aber am Ende zu einer geschäftlichen Kooperation nicht ja sagen können.
Auch in ihrer Institution, die sie selbst mit aufgebaut hat, war sie in ihrem fachlichen Wirken unumstritten, doch hatten sich die Probleme in der Auseinandersetzung um ihre Leitungsfunktion zugespitzt. Drei neue Mitarbeiter haben ihre Führung nicht akzeptiert und sind in der Probezeit gegangen. Da sie mehr arbeitete, als ihrem Deputat entsprach, hatte sie wenig auf eine Trennung nebenberuflicher Interessen und ihrer Tätigkeit geachtet. Dies wurde Thema, als sie sich mit einem neuen Aufsichtsgremium konfrontiert sah.
Die Jahre davor wurde alles irgendwie im persönlichen Kontakt mit den Mitgliedern des alten Aufsichtsgremiums geregelt, die sie im Wesentlichen machen ließen. Sie verweigerte sich letztlich einer formgerechten Klärung ihrer Tätigkeit und Funktion als Leiterin. Sie erlebte dies als Beschädigung ihrer persönlichen und fachlichen Integrität und versuchte sich in den sich aufschaukelnden Konflikten durch persönliche und fachliche Auseinandersetzung mit dem Leiter des Aufsichtsgremiums durchzusetzen.
Das Ergebnis ist bekannt. Ihr weiteres Berufsleben und ihr psychisches Gleichgewicht sind infrage gestellt – gerade jetzt, wo die Kinder ihr mehr Spielraum für die ihr wichtige Berufstätigkeit lassen. Ein Fall für Egostate-Therapie? Vielleicht. Ich möchte im Folgenden weitere Perspektiven durchsprechen, die einer solcher Situation gerecht werden könnten.
Wie können wir Teile von Persönlichkeit und deren Bezüge dafür konzipieren? Ich möchte bei der Beantwortung nicht so sehr den Kontext von privater Ausstattung und Biographie hervorheben, sondern den Zusammenhang mit Profession, Organisation und Gesellschaft. Ich bitte dies nicht als konkurrierende, sondern als ergänzende Perspektive zu begreifen. Ausgehend von inneren Wirklichkeiten lenke ich meine Aufmerksamkeit auf berufliche Beziehungen, die mit diesen interagieren.
Ich komme so von Egostates auf Rollen im Beruf, in Organisationen und auf anderen gesellschaftlichen Bühnen. Damit löse ich mich auch von privater Persönlichkeitssausstattung und Biographie und frage nach notwendigen persönlichen Kompetenzen, um in Berufs- und Organisationswelten zurechtzukommen. Diese Personenqualifikation ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Systemqualifikation: Wie sollen berufliche Kontexte und Organisationen gestaltet werden, damit Menschen darin leistungsfähig und gesund sein können? Welche Berufsbiographien möglich sind, hat mit dem professionellen Feld und seinen Organisationsmustern zu tun. Wie sich Menschen in Organisationen dem Organisationszweck und gleichzeitig ihrem Wesen gemäß entwickeln können, hat etwas mit Organisationskultur zu tun. Beides interagiert mit Gesundheit und privatem Leben.
Die Frage, ob es gelingt, den Herausforderungen im Beruf und in Organisationen zu begegnen sowie ein erfüllendes Berufsleben zu gestalten, wirkt auf die seelische Gesundheit und die private Lebensführung in erheblichem Maß zurück.
Wenn genügend Stress im Berufsleben entsteht, reagiert jeder in einer Weise, die man als psychisch „gestört“ betrachten kann. Wir gehen ja heute davon aus, dass problematische Muster im Gehirn eher nicht gelöscht werden können. Sie werden eher positiv überformt. Wenn die Überformungen ermöglichen, sich auszukennen, wertgeschätzt zu werden und wirksam zu sein, hat man gute Voraussetzungen, gesund zu sein. In allen drei Dimensionen musste die erwähnte Kollegin massive Verluste hinnehmen. Wenn also Gesundheit erreicht wurde, aber dann wieder verloren geht, muss das nicht heißen, dass eine Störung wieder durchbricht, sondern dass weitere Überformungen und Entwicklungen notwendig sind, um gesund zu bleiben. Der Einbruch bei der Kollegin war nicht vorrangig durch ihre persönliche Entwicklung bedingt, sondern durch Änderungen im Umfeld, für die sie nicht gerüstet war bzw. für die sie nicht im notwendigen Maß dazulernte. Sie hätte auch gesund bleiben können, wenn sie ihre freiberufliche Entwicklung erfolgreicher betrieben hätte und die Organisation hätte verlassen oder wechseln können.
So verstrickte sie sich zunehmend in problematische Erlebens- und Verhaltensmuster, die von früheren Zeitpunkten ihrer Biographie bekannt sind. Die Art, wie sie gestört auf diesen Stress reagiert hat, ist eine sehr persönliche. Aber heißt das, dass auch persönliche weitere Therapie angesagt ist? Oder kann man anderes tun, damit der psychische Druck soweit nachlässt, dass sie wieder Wasser unter den Kiel bekommt?
Angenommen, das neue Aufsichtgremium würde abberufen oder besänne sich auf eine deeskalierende und persönlich bezogene Gangart, dann würde der Stress vielleicht soweit nachlassen, dass sie an überformenden Kompetenzen wieder Anschluss finden würde und jetzt erkennen könnte, welche Weiterentwicklungen im Beruf und in ihrer Organisationsfunktion ihr zusätzlich Spielräume verschaffen könnten. Vielleicht würde sie nun – zusätzlich zu ihren vorhandenen fachlichen Voraussetzungen – auch Kompetenzen im Leiten von Beratungsstellen erwerben. Würde sie sich mit Stellenleitern austauschen, eventuell zusammen mit dem Aufsichtsgremium eine neue Kultur des Zusammenwirkens erarbeiten und lernen, dazu kompetente Vorschläge zu machen und überzeugend dazu einzuladen, wäre für ihre psychische Gesundheit vielleicht mehr gewonnen als mit Psychotherapie.
Diese Entwicklungen kann man aber nicht allein aus der jeweiligen Fachlichkeit heraus bewältigen. Die Fachlichkeit muss in ein umfassenderes Verständnis von Professions- und Organisationswelten eingebunden werden.
Manche Musiker z.B. üben und üben, anstatt zu lernen, sich im Berufsfeld und auf den Märkten zu bewegen. Das Problem ist oft, dass sie und ihre Lehrer sich in begrenzten Wirklichkeitsblasen aufhalten, aus denen heraus es entweder nur wenige Lösungsdimensionen gibt oder alle sich irgendwie durchschlagen, aber Dimensionen jenseits ihrer ursprünglichen Fachlichkeit nicht dem Professionsverständnis zugeschlagen werden. Damit finden diese Kompetenzdimensionen auch keinen Eingang in den offiziellen Konzeptkanon und in die ausgewiesene Professionskultur. Gelingt es z.B. solchen Musikern, ihre Kompetenz bezüglich des Professions- und Organisationsfeldes zu erhöhen, dann könnten sie sich dort sicherer bewegen, was wiederum ihre Gesundheit verbessern könnte. Letzteres wiederum könnte ihre musikalische Entwicklung beflügeln.
Einzelne können eine entsprechende berufliche Identität schlecht gegen die Gewohnheiten ihres beruflichen Umfeldes entwickeln. Auch ein erweitertes Verständnis ihrer Organisationsfunktion können sie nicht ohne Zusammenspiel mit ihrer Organisationsumwelt etablieren. Daher sind nicht nur Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch Professions- und Organisationskulturentwicklung angesagt.
Es ist vielleicht deutlich geworden, dass auch andere Inhalte und Kontexte entscheidend werden können und nicht nur jene, mit denen man durch psychologische Schulung vertraut gemacht wird. Verständlicherweise sehen sich Psychologen nicht für Professions- oder Organisationsentwicklung zuständig. Sie wollen mit Persönlichkeit und persönlichen Beziehungen arbeiten, Persönlichkeit, vielleicht verstanden als System von Ich-Zuständen, Beziehungen vielleicht verstanden als komplexe Egostates-Konferenzen.
Professionskulturen und Organisationskulturen sind die Außenwelt, in die sich die Innenwelten der Persönlichkeit hinein vernetzen. Fraglich ist, wie konstruktiv man die Innenwelten ohne Einbeziehung der Außenwelten erfassen kann – und natürlich umgekehrt.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass Wohlergehen mit Kompetenz zu tun hat. Kompetenz kann hier aber nicht allein auf die Weiterentwicklung von persönlich-biographischen Erlebens- und Verhaltensmustern begründet werden, sondern muss kontextbezogen definiert werden. Die Welt, in der man eine Kompetenz beansprucht, entscheidet, ob diese zur Geltung kommt. Natürlich kann und soll dabei auf die entwickelten Egostates Bezug genommen werden, doch sollten sie in kontextgemäße Rollen transformiert werden. Andererseits soll niemand Sklave bestimmter Kontexte werden und sich dabei in seinem Wesen verlieren.
Sie bemerken vermutlich: Ansatzpunkte für persönliche Gesundheit konzentrieren sich hier weniger auf privat-persönliche Biographie und private Selbstaktualisierung. Mehr ins Blickfeld kommen die Kulturen der Professionswelten (z.B. Märkte oder Verbände) oder die Kulturen der Organisationen, in denen man leistungsfähig und gesund sein will.
Wenn also jemandem geholfen werden soll, aus einer sich nicht nur privat darstellenden Krise herauszukommen oder eine befriedigende und gesunde Berufsbiographie zu entwickeln, dann kann das neben Psychotherapie bedeuten:
Welche Beratungs- bzw. Therapieansätze stark gemacht werden sollen, ist auch eine Frage des sinnvollen Einsatzes von gesellschaftlichen Ressourcen. Wenn in einem Unternehmen oder in einem Gesellschaftsbereich viele Personen Störungen entwickeln, dann sind neben persönlichen Hilfen Investitionen in Kultur gefragt. Wenn sich persönliche Probleme in bestimmten Professionen häufen oder diese Profession in ihrer Bedeutung für eine Organisationen oder für die Gesellschaft stagniert, dann muss über die Profession nachgedacht werden. Dies ist dann indirekt persönliche Hilfe, aber auch ein Beitrag zur Gesundheit von Organisationen und Gesellschaft und damit zur Gesundheit vieler dort lebenden Menschen.
Wenn beispielsweise in einem Verband Ausbildungskandidaten sehr viel eigene Psychotherapie brauchen und die Ausbildungsgänge sehr lang werden, dann muss schon die Frage erlaubt sein, ob die Rahmen stimmen, ob die Professionskulturgewohnheiten nicht die Menschen unnötig belasten. Und selbst wenn sie damit zurechtkommen: Entwickeln sie angemessene Resilienz? Stimmt ihr Kompetenzprofil für künftige Welten mit starken Veränderungen? Sind sie sich darüber klar, dass sie noch weitere und vielleicht ganz andere Kompetenzen brauchen, um in diesen Welten gesund bleiben zu können?
Wir haben es also, was die Entwicklung eines gesunden Berufslebens betrifft, mit einer Vielfalt von Egostates und beteiligten Systemen zu tun. Sie angemessen zu berücksichtigen, führt über Psychologie hinaus. Von diesen weiten Perspektiven aus betrachtet, kann jeder nur Ausschnitte bedienen und braucht interdisziplinäres Zusammenspiel, um bei seiner Spezialisierung die größeren Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren.
Dort, wo Menschen biographisch so belastet sind, dass sie sich sehr schwertun, mit den Verhältnissen zurecht zu kommen und das notwendige zu lernen, ist Psychotherapie sicher wichtig. Dort wo Spielräume sind, ist zu überlegen, welche Art von Lernprozessen zur Wahl stehen und wie Ressourcen für den Einzelnen und für gesellschaftliche Bedingungen von Gesundheit einzusetzen sind.