Ethik

Innere Arbeit am eigenen Selbst

Warum Spiritualität für Führungskräfte und für das Business-Coaching essenziell ist

In den letzten Jahren ist eine Vielzahl an Büchern zum Selbst- und Zeitmanagement entstanden. Der Blick auf die äußeren – strukturellen und organisatorischen – Rahmenbedingungen kann nur eine Perspektive sein. Der Blick nach innen und auf das Management dieser „inneren Bühne“ ist ebenso wichtig. Die These dieses Beitrags lautet daher: Authentische Ziele und stimmige Maßnahmen können im Coaching nur dann mit Erfolg entwickelt werden, wenn die Sinnebene der Spiritualität mit einbezogen wird.

14 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2020 am 18.11.2020

Eine Frau zeichnet ihr Porträt.

Die „Wiederentdeckung der Spiritualität“ wurde nicht von einem Theologen oder Philosophen erkannt, sondern von einem Biologen beschrieben. Der Engländer Rupert Sheldrake gilt als Grenzgänger, der sich immer wieder auf neues Terrain vorwagt, auch wenn es ihm nicht immer Anerkennung einbringt. Sein Ansatz besteht darin, die formalen Grenzziehungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft in Frage zu stellen. Bei Sheldrake (2018) bedeutet Spiritualität die tiefe innere Akzeptanz dessen, was die Natur als Weisheit in sich trägt. Seine Thesen gelten bis heute zum Teil als umstritten, doch sie besitzen zumindest die Kraft, über die Ebene der Spiritualität tiefer nachzudenken – und dieser eine Bedeutsamkeit zu geben. Erich Schäfer schreibt dazu: „Die Aussage, dass der Mensch ein biopsychosoziales Wesen sei, ist wissenschaftlich unbestritten. Doch der Mensch ist noch mehr, er ist darüber hinaus auch ein spirituelles Wesen. Erst wenn wir auch diese Dimension berücksichtigen, erfassen wir die Gesamtheit des Menschen.“ (Hanstein & Lanig, 2020, S. IX)

Diese „Innenwelterkundung“ (ebd.) ist ein wesentlicher Bereich der Arbeit von Coaches. Mit der Forderung nach der Berücksichtigung spiritueller Kompetenz wird ein Terminus aufgegriffen, der schon seit Jahren in der Philosophie und Theologie existiert, aber in das digitale Zeitalter hinein weltanschaulich neutral neu zu bestimmen ist. Denn die spirituelle Kompetenz weitet die mentale Kompetenz, insofern es der letztgenannten lediglich um Techniken geht. Spiritualität aber beschreibt eine Haltung, besonders in Zeiten des Wandels.

Haltung: nicht ohne die Erfahrung von Halt

Merkwürdige Dinge haben mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie den Alltag geprägt. Gewohnte, fest in private wie berufliche Abläufe eingeschliffene Muster wurden vom Grunde auf in Frage gestellt: „Wie verhext, es gibt jeden Tag etwas, worüber wir uns in die Haare kriegen“, analysierte eine junge Mutter, die parallel ihre Abteilung – virtuell – zu managen hatte. Streit und (fehlende) Struktur gehören zusammen, das war in solchen Coaching-Sitzungen zu lernen. „Die Leute sind wie unter Strom, man muss mit allem rechnen“, klagte ein Mittelständler in den ersten Wochen der Corona-Einschränkungen. Dieses Bild trifft es gut, denn durch die Corona-Angst wurden die Hirnareale stärker stimuliert und durchblutet, die für die steinzeitlichen Grundreaktionen Kampf, Flucht oder Erstarrung bis heute abrufbar sind. Das mag – zumindest theoretisch – erklären, weshalb der Verstand nicht selten wie ausgeschaltet war. Und bei jedem dominiert nach dem steinzeitlichen Verhaltenscodex eine andere Reaktion, oft wechselhaft. Das erzeugt zusätzliche Unsicherheit und Unruhe. Der Umgang mit Covid-19 – persönlich, beruflich wie gesellschaftlich – ist daher ein eindrückliches Beispiel für die Wichtigkeit spiritueller Haltung.

In der Corona-Krise stürzte sich der eine in neue Arbeit, der andere konnte sich nicht mehr motivieren. Während einer seine Emotionen überspielte, kam der nächste nicht mehr von ihnen los. Und doch würden theoretische Erklärungsversuche nur bedingt helfen. Wenn Körper und Seele unbewusst reagieren, ist es die vorsprachliche Ebene der Bilder, der Emotionen und Erinnerungen, der frühkindlichen Prägungen, die im Coaching berührt sein will. Die Grundfrage lautet: Wie hat es der Einzelne erlernt, mit dem Phänomen einer grundsätzlich immer möglichen Offenheit – philosophisch „Kontingenz“ genannt – umzugehen? Industriegesellschaft und Digitalisierung haben dies ebenso wenig vermittelt wie die Umsorgung der so genannten Hubschrauber-Eltern-Generation. Was „macht“ es mit dem Einzelnen, wenn er warten, etwas auf unbestimmte Zeit aushalten muss? Womöglich kam die Kriegs- und Nachkriegsgeneration deshalb so gut mit der Corona-Situation zurecht, weil sie diese Erfahrung bereits aushalten musste? Etwas Aushalten zu können sowie der Umgang mit dem So-oder-anders-Sein sind grundlegende Aspekte spiritueller Kompetenz.

Spiritualität: Handling des Auf-sich-zurück-geworfen-Seins

In Managerkursen und maßgeschneiderten spirituellen Führungsseminaren kann man immer wieder erleben, wie Stille, Besinnung und innere Achtsamkeit einen relativ langen – buchstäblichen – An-Weg benötigen (Hanstein & Lanig, 2020). Denn es braucht Übung, zuerst einmal das (vermeintliche) Nichtstun zuzulassen und es dann noch als Chance, ein kleines Stück mehr zu sich zu kommen, anzunehmen. Mehrere Tage mit sich allein zu sein, seinen Gedanken, Träumen und Erinnerungen, das lässt ebenfalls merkwürdige Dinge passieren: Man wacht z.B. mitten in der Nacht auf, hat plötzlich ein Bild aus der Kindheit vor Augen, riecht den Ort, sieht die Farben und empfindet intensiv dasselbe damalige Gefühl. Es mag banal klingen (so lange man es nicht versucht hat), aber all das will erstmal ausgehalten sein. Diese inneren Kräfte kommen, sind da, man lernt sich ihnen zu stellen, ihnen „ins Angesicht zu schauen“. Schön, wenn es positiv ist, wenn man das Lächeln auf dem Gesicht spürt und einfach nur tiefe Dankbarkeit empfindet. Dann gibt es kein Heute und kein Gestern mehr, die Erfahrungen des Lebens verdichten sich in diesem einen Moment.

Die fernöstliche Weisheit kennt den Satz: „Nur in einem ruhigen Teich spiegelt sich das Licht der Sterne.“ Das, was für gewöhnlich als rührend-kitschige Kalenderliteratur abgetan wird, bewahrheitet sich in solchen Tagen der Selbsterfahrung. Die „innere Pluralität“ (Schulz von Thun) der eigenen Persönlichkeit wird mehr und mehr erkennbar. Der Klient bekommt mit Hilfe des Coachs und unter Zuhilfenahme geeigneter Tools die nötige Distanz, seine inneren „Teamplayer“ zu identifizieren, zu ordnen und ggf. neu zu „stellen“.

Das ist Spiritualität: mit dem Rück-geworfen-Sein auf sich selbst umgehen zu lernen, sich seinen Empfindungen dabei ehrlich zu stellen und sie anzunehmen. Die Ebene der Religion ist erst eine zweite – zwar potenzielle, aber für das Bewusstsein der spirituellen Ebene nicht zwingende. Denn alle Religionen und Konfessionen sind geprägt von Glaubensinhalten, die der Gläubige zu teilen hat. Die Theologie bezeichnet dieses kollektive Wissen als „fides quae“, also Inhalte, welche zu glauben sind. Gleichzeitig gibt es den Glauben als „fides qua“, also als Dimension, durch die geglaubt wird. Was theoretisch klingt, lässt sich an existenziellen Situationen des Lebens nachvollziehen, besonders im Umgang mit Sterben und Tod als letzter Form des Rück-geworfen-Seins: Es hat für die Bewältigung des Sterbevorgangs und für die Akzeptanz des nahenden Todes wenig Bedeutung, ob der Sterbende noch ein Bekenntnis (fides quae) „herbeten“ kann, sondern letztentscheidend ist, dass er Ruhe findet und im besten Fall gelassen „gehen“ kann. Das tiefe innere Bewusstsein, dass es „jetzt gut sein darf“, hat eine somatische Auswirkung; Worte allein könnten es so nicht leisten. Seele und Körper stehen im engen, stimmigen Austausch – ein allerletztes Mal. Sprachlich bemerkt man dies an einer starken Fokussierung auf das Wesentliche; einer Klarheit, die für manche unerträglich ist.

Spirituelle Kompetenz: wertfrei und fehlerfreundlich 

Dieser Exkurs in die Seelsorge kann verdeutlichen, dass es auch im Leben und im Beruf kleine und größere „Tode“ gibt: wenn sich Lebenspläne trotz aller Anstrengungen nicht erfüllen, die Insolvenz unabwendbar ist, Wünsche, Hoffnungen und Ziele buchstäblich durchkreuzt werden. Diese „Tode“ lassen sich zwar für gewisse Zeit (unbewusst) verdrängen, letztlich muss man sich ihnen aber stellen, wenn man gesund und beruflich erfolgreich bleiben will. Andernfalls kommt „der Ball immer wieder hoch, wenn man zur Ruhe kommt“, wie es ein Mann feststellte, als er ein Seminar zum Thema mit den Worten abbrach: „Das geht gar nicht, ich lasse das lieber, im Geschäft liegt genug Arbeit.“ Hierbei ist entscheidend, welche Werte man in Erziehung und Sozialisation vermittelt bekommen hat. Eine aufstrebende, junge Führungskraft im E-Commerce hatte unbewusst eine Kausalität zwischen Leistung, Einsatz und Erfolg verinnerlicht. Doch da diese Logik zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr aufging, musste jemand hierfür die „Schuld“ tragen. Da die Führungskraft entsprechend der Hierarchie verantwortlich war, war dies für sie gleichbedeutend mit „schuldig“. Eine ethische Reflexion über den Unterschied zwischen Verantwortungsethik und „Sündenbock-Prinzip“ hätte maximal ihren Verstand beschäftigt. Denn auch wenn es die gegenwärtigen ökonomischen Einbrüche waren, welche die Verluste verursacht hatten, so redete sich die Führungskraft das Mantra ein, „so was wenigstens voraussehen“ zu müssen.

Sich nicht an den Anfang einer Kette unvorhersehbarer Umstände, Zusammenhänge und Folgen zu setzen, bedeutet nicht, den Schaden kleinzureden. Doch es ist ein Unterschied, ob man selbst daran zu Grunde geht, etwas als Katastrophe zu sehen, oder die Vorkommnisse als bedauerliche Gegebenheiten einstuft, mit denen es konstruktiv umzugehen gilt. Beides sind nicht nur Worte, sondern Bewertungen. Derlei Umstände als Führungskraft spirituell zu verarbeiten, setzt eine Haltung voraus, die der Theologe Reinhold Niebuhr in seinem bekannten Gelassenheitsgebet so formuliert hat: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Man muss nicht gläubig sein, um diesen Satz für sich anzunehmen. Evident dürfte aber sein, dass man eine solche Gelassenheit nicht selbst „machen“ kann. Sie wird erlangt, steht also außerhalb menschlicher Bemühungen. Was möglich ist und – mystisch gesprochen – den „Pfad“ zu dieser Haltung darstellt, ist, sich in „Kontemplation“ zu üben. Doch der „Betrachtungsraum“ (lat. templum) der Seele muss zuerst einmal gefunden werden. Beobachtet man Kinder in ihrer spielerischen Vergessenheit von Zeit und Raum, so wird deutlich, wie diese sich ihren Pfad ins Innere (noch) erhalten haben. Albert Einstein begründete seinen Erfolg damit, dass er immer Kind geblieben sei.

Spirituell leben: „verweile doch …“ 

Seminare zur Spiritualität von Führungskräften sollten nicht als Workshops ausgeschrieben werden, um die Handlungsebene nicht anzutriggern. Denn niemand kann die inneren Bilder, angestauten Energien und bislang nicht genutzten Ressourcen durch einen Willensakt nach „oben“ ins Bewusstsein befördern. Führungskräfte sind es gewohnt, von der Handlung her zu denken. Es ist daher ein erster Schritt der Reflexion, Handlung von Reaktion abzugrenzen. Wer seine Reaktion beherrscht, der kann auch seine Affekte – mehr oder weniger – gut regulieren, der handelt statt sich zu verhalten. Diese Grundkompetenz von Führung zu erlernen, gehört bereits ins Onboarding-Coaching. Sie weiter zu reflektieren und zu optimieren, ist Teil des Führungskräfte-Coachings. Zur Handlung gehört die Wirksamkeit, andernfalls verlieren sich Zweck und Ziel und damit letztlich der Sinn einer Handlung. Damit eine Handlung wirksam werden kann, bedarf es u.a. des richtigen Zeitpunktes (griech.: kairos). Eine – fast alle Arbeitsbereiche übergreifende – Gemeinsamkeit im Umgang mit der Zeit ist, dass sie an Prozesse der Wertschöpfung gebunden ist. Insofern ist der Bezug auf die Corona-Krise auch hier aufschlussreich. Denn sie hat der Gesellschaft wie dem Einzelnen gezeigt, wie sich Entschleunigung einstellen kann und was diese – durchaus ambivalent, wenn man darauf innerlich nicht vorbereitet war – bewirkt.

Der Philosoph Byung-Chul Han hat bereits vor Jahren treffend festgestellt: „Die heutige Zeitkrise hängt nicht zuletzt mit der Verabsolutierung der vita activa zusammen. Sie führt zu einem Imperativ der Arbeit, der den Menschen zu einem arbeitenden Tier […] degradiert. Die Hyperaktivität des Alltags nimmt dem menschlichen Leben jegliche Kraft zum Verweilen und zur Kontemplation. Dadurch wird die Erfahrung erfüllter Zeit unmöglich.“ (Han, 2015, S. 15) Die vita activa (hier: das Berufsleben) hinter sich zu lassen und immer wieder neu in die Rekreation der vita contemplativa (hier: der Besinnung auf sich selbst) einzusteigen, ist anfangs oft ein steiniger Weg. Eine Führungskraft in der letzten beruflichen Phase beschrieb es so: „Ich hätte nie gedacht, dass das so schwierig sein soll, ‚einfach‘ nur da zu sitzen, sich auf seinen Körper zu konzentrieren und sich innerlich zu lösen. Ich habe mehrere Firmen aufgebaut und war immer vorne mit dabei. Schaffen kann ich weiß Gott. Aber das hier, das war härter als Holzhacken.“ Insbesondere für diese Generation, für die im Fleiß einer der wichtigsten Werte besteht, sind solche Selbsterfahrungen nicht untypisch – aber ebenso wichtig. Denn der vorletzte Übergang in die „passive“ Lebensphase will ebenso erlernt sein wie letztlich das Sterben, so hart das klingen mag. Aber an diesen Beispielen wird klar, wie buchstäblich existenziell diese Frage des Innehaltens und Verweilens ist.

Spirituell führen: von außen nach innen hören 

Keine Führungskraft ist für das kontemplative Leben geboren. Insofern ist das Zurück aus der Besinnung und dem Schweigen ebenso wichtig wie der Weg hinein. Der Weg „in die Stille“ führt von außen nach innen: vom bewussten Wahrnehmen und über das Wirken lassen von Eindrücken. Wer sich auf eine Meditation darüber einlässt, wie viel an nur einem einzigen Tag an einem „vorbeifließt“, anstatt dass es buchstäblich gewahr geworden ist, der betritt den Weg der inneren Achtsamkeit (Hanstein, 2016). Denn niemand reagiert rein aufgrund einer Bemerkung, sondern aufgrund dessen, was die Äußerung in ihm ausgelöst hat. Besonders Führungskräfte sollten um diesen Zusammenhang wissen. Erstens, um stimmig zum inneren Selbst zu handeln. Zweitens, um nicht manipulierbar zu sein. Und drittens, weil Führung immer mit Selbstführung beginnt.

Da der Mensch ein Geist-Leib-Seele-Wesen ist, ist der Körper das „Medium“ dieses Gewahrwerdens, und dies nicht nur äußerer Vorgänge, Bemerkungen von Mitarbeitern, von Prozessabläufen u.a., sondern auch von kreativen Assoziationen und innovativen Ideen. Ein leitender Ingenieur berichtete im Coaching: „Nachdem ich mir wochenlang den Kopf zerbrochen hatte, wie wir das Problem lösen können, war es plötzlich da, wie aus dem Nichts.“ Was hier beschrieben wurde, ist – spirituell verstanden – die Ebene der Inspiration, wörtlich: der „Einhauchung“. Dieser Hinweis bietet die sprachliche Erklärung des Wortes Spiritualität. Denn mit der Ebene des Geistes wird die des „Machens“ verlassen. In der altgriechischen Philosophie fanden sich drei Wirklichkeitszugänge: Theorie, Praxis und Poiesis: „[D]as handwerkliche Fertigen wie das industrielle Herstellen ist nach diesem Schema keine Praxis, sondern Poiesis. Hier zählt nicht nur das Produkt, hier zählt die Leistung. Poiesis mündet in ein quantifizierbares Ergebnis. Was die alten Griechen indes unter Praxis verstanden, ist […] nicht rein physisches Schaffen. Es ist […] die Gestaltung von Wirklichkeit schlechthin.“ (Hanstein & Lanig, 2020, S. 76). Genau dieser Aspekt ist vorrangige Führungsaufgabe und er leitet sich nicht davon ab, wie effizient im Sinne der Poiesis – also nach heutigem Verständnis „praktisch“ – eine Führungskraft arbeitet, sondern wie stimmig sie dieses Verhältnis gestaltet. Je mehr sie dabei in sich ruht, je gelassener sie mit einer Situation umgehen kann, umso größer auch die Führungskompetenz, die ihr – unbewusst, unausgesprochen, aber im Team doch wirksam – zugesprochen wird. So erst wird resonante und dialogische Führung wirkmächtig.

Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders in Krisenzeiten. Aus der spirituellen Haltung heraus betrachtet ist die krisis (griech.) aber jener „Wendepunkt, an dem – woher auch immer – plötzlich Neues aufbricht: neue Ideen ebenso wie neue Kraft. Bei Veränderungsprozessen lässt sich beobachten, dass die meisten Change-Prozesse am Punkt der – vermeintlichen – Krise abgebrochen werden […]. Die krisis durchzuhalten […,] wird daher […] als zentraler Aspekt einer spirituellen Kompetenz begriffen. Sie anzunehmen […,] sich auf sie einzulassen und nicht mit Aktionismus zu überlagern, verspricht letztlich erst Höchstleistungen.“ (Hanstein & Lanig, 2020, S. 57)

Spirituelles Selbstmanagement 4.0

Was für die bisherige analoge Arbeitswelt gilt, verdichtet sich auf mehrdimensionale Art und Weise durch die Digitalisierung. Als in der Corona-Krise allerorten über Nacht der Hebel auf digital umgelegt wurde, wurde der Schwerpunkt auf Infrastruktur und Technik gelegt. Das ist nicht weiter verwunderlich, spiegelt es nur die E-Learning-Debatte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts und ist insofern eine wichtige Phase. Doch durch eine zu starke Fokussierung auf technische Fragen wird der Blick dafür verstellt, dass die Digitalität alte philosophische und anthropologische Fragen neu aufwirft. Diese können allesamt als Aspekte der Frage nach Spiritualität gefasst werden, beispielhaft: Fokussierung entgegen Zerstreuung, Rhythmisierung entgegen omnipräsenter Verfügbarkeit, Autonomie entgegen virtueller Gebundenheit, Entschleunigung entgegen digitaler Dynamisierung usw. Phänomene wie diese entfalten in der virtuellen Welt eine spezielle Dynamik.

Insofern ist der Erwerb spiritueller Kompetenz nicht nur eine Kernaufgabe moderner Führungskräfte, die vor allem eines bedeutet: innere Arbeit am eigenen Selbst. Um eine innere Stabilität in den modernen Herausforderungen des digital gestützten Führungsalltags auch langfristig zu sichern, benötigen heutige Führungskräfte in Zeiten der „Führung 4.0“ zudem ein „spirituelles Selbstmanagement 4.0“. Denn bei fortschreitender Digitalisierung werden sich auch digitale Phänomene verdichten, die auf das Selbst zugreifen, es unbewusst in Frage stellen und authentische Antworten verlangen. Eine Spiritualität im Kontext dieser Phänomene kann eine tragfähige Resilienz gewährleisten, weil sie die Sinn-Ebene stützt. Entsprechende Tools können im „spirituellen Coaching“ maßgeschneidert ausgebaut und als Selbst-Coaching in den beruflichen Alltag implementiert werden.

Doch auch auf der Seite des Coachs kann in einer spirituellen Haltung – und im besten Fall auch Praxis – ein Mehrwert für Coaching gesehen werden. Auf diese Bedeutung und den Bedarf in der Qualifizierung von Coaches kann an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden. So viel sei angedeutet: Spiritualität unterstützt beispielhaft die asketische Haltung, welche für einen autonomen Coaching-Prozess basal ist.

Literatur

  • Han, Byung-Chul (2015). Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. 12. Auflage. Bielefeld: transcript.
  • Hanstein, Thomas & Lanig, Andreas K. (2020). Spirituelle Kompetenz in digitalen Lern- und Arbeitswelten. Erfolgreich studieren und arbeiten mit Spirituellem Selbstmanagement 4.0. Baden-Baden: Tectum.
  • Hanstein, Thomas (2018). Selbstmanagement – mit Coachingtools. Ressourcen erkennen, nutzen und pflegen. Baden-Baden: Tectum.
  • Hanstein, Thomas (2016). Das Heilige in allem hören. 40 Impulse zur Achtsamkeit. Leipzig: Benno.
  • Sheldrake, Rupert (2018). Die Wiederentdeckung der Spiritualität. 7 Praktiken im Fokus der Wissenschaft. 2. Auflage. München: Barth.

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