Immer wieder wird in der Presse von Rücktritten prominenter junger Spitzensportler berichtet. Häufig sind es Fußballnationalspieler, die ihre Karriere beenden, obwohl sie körperlich sicherlich noch einige Jahre auf hohem Niveau hätten spielen können. So erklärte beispielsweise Fußballweltmeister Benedikt Höwedes in einem Interview (Haack, 2019): „Viele vergessen, dass die Fußballkarriere endlich ist. Nach zehn bis 15 Jahren muss man zwangsweise wieder ein normales Leben führen.“ Erst im Anschluss an die Karriere als Sportler damit zu beginnen, sei deutlich herausfordernder, „als schon früh zu erkennen, dass man sich von Materialismus und Oberflächlichkeit nicht blenden lassen sollte.“
Die Fragen „Wer bin ich ohne den Sport?“ und „Wie möchte ich mein Leben nach der Sportkarriere gestalten?“ bewegen viele Spitzensportler und stellen eine große Herausforderung dar. In den Kommentaren und Interviews von Athleten, die ihren Rücktritt bekannt geben, findet man übereinstimmende Aussagen zu den Beweggründen und der Bewertung der Erfahrungen im Spitzensport. Demnach haben viele Sportler das Gefühl, in einer Blase zu leben, in der das ganze Leben ausschließlich auf den Sport ausgerichtet ist. Dieser Fokus erlaubt es ihnen zwar, sich komplett auf den Sport konzentrieren zu können, allerdings kommt jegliche anderweitige Entwicklung in der Folge zu kurz. Alles, was dem sportlichen Erfolg und der Leistungssteigerung nicht dienlich ist, wird ausgeblendet. Somit bleiben andere Kompetenzen – wie z.B. Persönlichkeits- und Werteentwicklung oder Selbstwahrnehmung – oftmals unterversorgt oder ganz auf der Strecke (siehe auch König & Graf, 2021). Dies ist besonders problematisch, da die Athleten den Spitzensport als eine Welt beschreiben, in der enormer Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und zum Teil Oberflächlichkeit vorherrschen.
Um mit diesen Rahmenbedingungen umgehen zu können, sollten Spitzensportler über eine reife und gefestigte Persönlichkeit verfügen. Diese in einem Umfeld zu entwickeln, in dem sie mehr wie hochgetunte Rennmaschinen denn als Menschen mit entsprechenden Verpflichtungen, Aufgaben und Werten auch außerhalb des Sports behandelt werden, ist jedoch äußerst schwierig. Und dies gilt nicht nur für finanziell gutgestellte Sportarten wie Fußball, sondern z.B. auch für sämtliche olympische Sportarten, in denen junge Athleten ihr ganzes Leben dem Sport unterordnen müssen, um eine Chance zu haben, sich in der Weltspitze zu etablieren. Ein Lösungsweg aus der beschriebenen Problematik ist der verstärkte Einsatz von ganzheitlichen, sportspezifischen Coaching-Angeboten, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.
Die vorhandenen Angebote zur systematischen Betrachtung der Persönlichkeit von Leistungssportlern sind in der Regel nicht ganzheitlich ausgerichtet, sondern setzen gezielte Schwerpunkte. Auch wenn es nach Beobachtung des Autors in den letzten Jahren einen regelrechten Boom an psychologischen Angeboten im Spitzensport gab, konzentrieren sich diese bisher in vielen Fällen fast ausschließlich auf die Steigerung und Aufrechterhaltung der Performance der Spitzensportler bzw. dienen der Krisenintervention im Falle psychischer Probleme (siehe Abb. 1): Mentaltrainer sorgen für Fokussierung und Konzentrationsfähigkeit vor und während wichtiger Spiele bzw. Wettkämpfe. Psychologische Berater fungieren als Ansprechpartner im Falle persönlicher Krisen. „Motivationskünstler“ sorgen dafür, die Spannung im Team hochzuhalten.
Was bei diesen Angeboten allerdings meist fehlt, ist ein ganzheitliches, langfristig angelegtes Programm, das junge Sportler dabei unterstützt, neben ihren physischen Leistungen auch ihre Persönlichkeit in gleichem Maße zu entwickeln. Dabei wird der Fokus auf die Entwicklung einer reflektierten, gefestigten Persönlichkeit gelenkt. Grundsätzlich wird durch diese Herangehensweise potenziell auch die Performance der Sportler gesteigert, da der Ansatz sie mental stärkt, sie dabei unterstützt, in neue Rollen (z.B. Führungspositionen im Team) hineinzuwachsen und sie weniger anfällig für Versuchungen oder Provokationen von außen macht.
Ziel der möglichst langfristig angelegten Coaching-Prozesse sollte ein optimales Zusammenspiel aus sportlicher Leistungsfähigkeit, mentaler Stärke und einer voll entwickelten Persönlichkeit der Leistungssportler sein. Die Kombination dieser drei Bereiche befähigt die kompletten Sportler, mit unterschiedlichsten Widrigkeiten und Herausforderungen im Laufe der Karriere (und vor allem auch danach) umzugehen. Gegenüber rein auf den sportlichen Bereich fokussierten Athleten verfügen komplett ausgebildete Sportler potenziell über wesentlich mehr konstruktive Problemlösungsstrategien, eine größere Reflexionsfähigkeit, eine höhere Stressresistenz und einen besseren Umgang mit Drucksituationen im Leistungssport.
Bei der längerfristig angelegten Unterstützung und Begleitung der Sportler im Coaching können u.a. diese Themen behandelt werden:
Ein weiterer erfolgversprechender Coaching-Ansatz kann die Betrachtung von Wirkfaktoren für eine erfolgreiche Karriere im Leistungssport und die Verbindung dieser Erfolgsfaktoren mit der individuellen Persönlichkeit sein. Die Persönlichkeit der Sportler prägt die individuellen Verhaltensmuster innerhalb jedes Erfolgsfaktors. Daher ist es sinnvoll, im Coaching darauf einzugehen, wie die Sportler für zentrale Erfolgsfaktoren wie den Umgang mit Druck und Stress oder den Umgang mit Rückschlägen individuell aufgestellt sind. Das jeweilige Persönlichkeitsprofil der Sportler ist hier ein perfekter Ausgangspunkt für alle weiteren Analysen und Handlungsstrategien.
Im Optimalfall wird ein mehrstufiger Prozess in Form eines strukturierten Programms etabliert, das neben individuellem Coaching weitere Bausteine beinhaltet und die Sportler wie oben beschrieben auf unterschiedlichen Ebenen in ihrer Entwicklung unterstützt. Konkret könnte so ein Programm z.B. wie folgt ausgestaltet werden (siehe Abb. 2):
Für Coaches, die sich im Umfeld des Leistungssports auskennen und Erfahrung haben, bietet dieses ganzheitliche Konzept einen interessanten Wirkungsbereich, in dem viel Potenzial steckt. Überwiegend fehlt es derzeit erfahrungsgemäß häufig noch an einer systematischen und nachhaltigen Betreuung der Spitzensportler. Dabei kann sich der Mehrwert des Coachings unabhängig von der jeweiligen Sportart und unabhängig davon, ob es sich um einen Mannschafts- oder Einzelsport handelt, entfalten.
Im Folgenden wird ein Coaching-Programm eines Profisportvereins beispielhaft skizziert, in dem sportspezifische Coaching- und Trainingselemente im Rahmen der Nachwuchsförderung von jungen Sportlern umgesetzt werden. Die Teilnahme an den verschiedenen Modulen ist für die Sportler freiwillig. Das Programm erfreut sich allerdings großer Beliebtheit und wird nach Möglichkeit von allen Sportlern wahrgenommen. Nach einem gemeinsamen Kick-off-Termin stellt die Bearbeitung des Persönlichkeitstests den ersten Baustein des Programms dar. Dieser liefert eine Standortbestimmung, Informationen zur Motivation für die Ausübung des Sports auf Leistungsniveau und den Ausgangspunkt für einen Abgleich des Persönlichkeitsprofils mit zentralen Erfolgsfaktoren des Leistungssports. Auf Basis der Standortbestimmung werden gemeinsam mit professionellen Coaches Zielparameter auf sportlicher und persönlicher Ebene definiert und geklärt, wie die einzelnen Module des Programms helfen können, diese Ziele zu erreichen. Weitere Bausteine des Programms sind:
Im Rahmen der verschiedenen Bausteine erlernen die Teilnehmenden konkrete Fähigkeiten, stärken ihre Selbststeuerungsfähigkeiten und erarbeiten gemeinsam mit den Coaches konkrete Handlungsstrategien zur Erreichung ihrer definierten Ziele. Im weiteren Verlauf des Programms werden die erarbeiteten Handlungsstrategien umgesetzt und in Zusammenarbeit mit den Coaches angepasst, um einen optimalen Umsetzungsgrad zu erreichen.
Das beschriebene Beispiel stellt eine Möglichkeit dar, Coaching und psychologische Beratung im Leistungssport zukünftig breiter als bisher aufzustellen und damit aus dem Kontakt mit den Coaches einen noch größeren Nutzen für die Teilnehmenden zu generieren. Gleichzeitig bieten die vorgestellten Konzepte für Coaches und Berater die Option, das stetig steigende Interesse an psychologischen Fragestellungen im Sport mittels tatsächlich nutzenstiftender Angebote anzusprechen und somit auch für sich neue Betätigungsfelder zu erschließen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung der vorgestellten Programme sind gut ausgebildete Coaches, ein echtes Interesse und Commitment der beteiligten Sportinstitutionen (z.B. Vereine, Verbände) sowie natürlich ein stimmiges, ganzheitliches Programm mit dem Ziel der Ausbildung kompletter Sportlerpersönlichkeiten.