Der Erfolg eines Sportlers hängt von der Bewertung durch externe Bezugspunkte ab. Diese sind für die Öffentlichkeit objektiv nachvollziehbar und drücken sich durch eine erreichte Zeit, Höhe, einen Tabellenstand oder geschossene Tore aus. Die eigene Bewertung eines gelingenden Lebens nimmt der Sportler während seiner Karriere auf Basis dieser externen Bezugspunkte vor. Vielleicht gibt er diese Bewertung sogar komplett in die Hände anderer. Ein innerer Kompass zur Orientierung außerhalb der Sportwelt wird oft sehr wenig bis gar nicht entwickelt.
Als Teil eines funktionierenden Systems sind Sportler in ein Netzwerk von Unterstützern eingebunden. Trainer, Ärzte, Psychologen, Manager und die Familie nehmen ihnen Nebentätigkeiten ab. So müssen sich Sportler „nur“ auf ihren Job konzentrieren. In einem Bild: Sie müssen schauen, dass sie möglichst viele Kohlen in den Kessel schaufeln, damit die Dampflok auch schnell fährt. Das Training sowie der erfolgreiche Wettkampf stehen im Mittelpunkt jeglichen Handelns und Denkens.
Dass sie auf dem richtigen Gleis unterwegs sind, bezweifeln Spitzensportler in der Regel nicht – außer es tauchen Krisen und Leistungseinbrüche auf. Seit sie im Kindes- oder Jugendalter mit ihrem Sport begonnen haben, wurde in ihrer Sportart Auslese betrieben. Mit jedem Erfolg bei einer Schülermeisterschaft, jeder Berufung in die Kreis- oder Landesauswahl wurde ein Stück klarer, dass es das richtige Gleis ist. Und diejenigen, die an der Spitze angekommen sind, gelten als Gewinner. Auch wenn sie keine Weltmeistertitel erringen, stellen die Sportler ihren Weg nicht in Frage, denn die Leidenschaft für den eigenen Sport und die Erfolgserlebnisse sind sowohl erfüllend als auch anspornend. Sich einer ultimativen Herausforderung zu stellen, diesen Weg zu bestreiten, die Qualen und Schmerzen zu spüren – das ist das Grundgehalt eines Sportlers. Die Medaillen sind Leistungsboni.
Die ultimative Fokussierung bringt oft außergewöhnliche Leistungen hervor, die einen Hobbysportler staunen lassen. Gleichzeitig ist in der Psychodynamik eine Schwerpunktsetzung zu beobachten. Alles, was dem Erfolg nicht dienlich ist, wird ausgeblendet. Somit bleiben Kompetenzen wie z.B. eine innere Selbstwahrnehmung oftmals unterversorgt (siehe Tabelle). Für die Planung eines Lebens nach dem Sport sind diese jedoch zentral. Sie zu schärfen, stellt somit ein zentrales Ziel eines Coachings dar, das Sportler auf ihre zweite Karriere vorbereitet.
Hauptsächlich im Fokus | Vernachlässigte Kompetenzen |
---|---|
Funktionieren | Sein, Genießen, Entdecken |
Äußere Bezugspunkte | Innere Selbstwahrnehmung |
Innere Bedürfnishemmung | Förderung eigener Bedürfnisse und Interessen |
Vorgaben einhalten | Eigenen Rhythmus und Interessen erkennen |
Talente werden erkannt | Eigene Talente sehen, würdigen und fördern (die vielleicht nicht olympiareif oder objektiv wahrnehmbar sind) |
Zieldienlich handeln | Fühlen, Wahrnehmen, Zeit für innere Resonanz und Entscheidung haben |
Erfolgreiches Leben | Gefühl für sinnvolles, zufriedenes Leben entwickeln |
Krisen heroisch überstehen | Sich Schwächen eingestehen und diese anderen Menschen zeigen |
Tabelle: Fokus und häufig vernachlässigte Kompetenzen von Spitzensportlern
Diese Psychodynamik im Blick zu haben, ist eine wichtige Voraussetzung für das Coaching von Spitzensportlern. Sonst bleibt beim Perspektivwechsel auf eine zweite Karriere die bis dahin erlebte innere Dynamik erhalten und wird unreflektiert fortgeschrieben, was in einem anderen Berufsfeld dysfunktional sein könnte.
In einer Sportlerkarriere ist ein Bruch in der zweiten Lebenshälfte absehbar. Bei nahezu allen Sportarten ist die körperliche Leistungsgrenze im jüngeren Erwachsenenalter oder spätestens in der Mitte des Lebens erreicht und kann nicht mehr zu Spitzenleistungen führen. Diese Veränderung tritt meist zu einem Zeitpunkt ein, an dem die berufliche Karriere von anderen Menschen richtig in Fahrt kommt. Wie findet der Sportler nun ein passendes, neues Gleis? Der Umbruch von der sportlichen Karriere zu einer zweiten beruflichen Karriere ist eine Herausforderung, die mit einigen Hürden versehen ist. Diese gilt es, im Coaching zu berücksichtigen:
Welche Maßstäbe setzt der Sportler an die zweite Karriere? Es wird oftmals von einer Karriere nach der Karriere gesprochen. Plan B. Zweite Karriere. Das impliziert bereits eine Wertung. O-Ton einer Sportlerin: „Am meisten habe ich damit zu kämpfen, dass ich in allem, was danach kommt, nicht mehr Weltklasse sein werde, bestenfalls nur gut oder sogar nur Mittelmaß.“
Wie wird mit dem Rollenwechsel umgegangen? Im Coaching wird oft deutlich, dass sich die Rollenlogik des Sportlers auf andere Rollen übertragen kann. „In Situationen, in denen meine Mannschaft unter Druck steht, gehe ich offensiv den Gegner an.“ Wird diese Logik auf einen persönlichen Konflikt im privaten oder im beruflichen Kontext übertragen, könnte dies den Konflikt eskalieren lassen. Zuzuhören, verstehen zu wollen und sich in die Rolle des Gegenübers hineinversetzen zu können, wären klärende Fähigkeiten. Hier gilt es für Sportler, sich ihrer Muster aus dem Sport bewusst zu werden und sich andere kognitive, methodische sowie persönliche Kompetenzen anzueigenen, um situativ stimmig handeln zu können.
Ist der berufliche Wechsel nur ein äußerer Wechsel oder auch die Möglichkeit, sich innerlich neu zu sortieren? Der berufliche Wechsel wird, wenngleich er oft als Bruch elebt wird, meist ein fließender Übergang sein. Gleichzeitig findet die Qualifizierung (Ausbildung, Studium, Lehrgänge) parallel zum Sport statt. Sich in dieser Doppelbelastung eine Auszeit zum Durchdenken und Sortieren zu nehmen, kann sinnvoll sein. Je nach Persönlichkeit des Sportlers können die Coachings mit mehr oder weniger Tiefgang stattfinden. Von reiner Berufsplanung, bis hin zur Arbeit auf der Ebene von persönlichen Mustern, Emotionen und Glaubenssätzen.
Wie kann neu mit Erwartungen umgegangen werden? Menschen, die von klein auf nach den Vorstellungen der Eltern aufgewachsen sind und verinnerlicht haben, dass sie Eindruck machen müssen, um Resonanz von anderen zu bekommen (Narzissmustrauma), könnten in diesem Übergangsprozess auf die eigene Scham stoßen. Die Scham, nichts Eigenes in sich zu spüren. Auch unter Druck oder beim Scheitern einer Sportkarriere kann dieses Muster zum Vorschein kommen. In diesen Momenten braucht es vom Coach oder auch von Menschen im Umfeld das Signal, dass nichts erwartet wird. So kann Resonanzfähigkeit für die eigenen Berufswünsche entstehen und das Muster sich wandeln.
Was, wenn die Leidenschaft für den Sport weiter existiert, aber der Körper nicht mehr mitmacht? Das Loslassen einer Leidenschaft, die einen ein Leben lang getragen hat, ist nicht einfach. Der Prozess des Abschiednehmens braucht Mut zur Trauer, um sich auf neue Alternativen einlassen zu können. Dies gelingt am Besten mit einem Gegenüber, das Fingerspitzengefühl für eine pragmatische Gefühlsansprache hat. Zu identifizieren sind Muster der Selbststeuerung, die sich aus der Sportlerkarriere ergeben haben (Antreiber: „sei stark/perfekt/schnell“, „mach es allen recht“, „streng dich an“). Der Versuch, diese auf eine zweite Karriere zu übertragen, ist ggf. zu reflektieren und sollte auf Funktionalität in möglichen neuen Umfeldern überprüft werden.
Wie weit im voraus hat der Sportler an den Wechsel gedacht und sich vorbereitet? Da ein Übergang zwangsläufig vollzogen werden muss, ist den Sportlern dieser bevorstehende Wechsel durchaus bewusst. Auf welche Weise damit umgegangen wird, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Eher vertrauend oder sicherheitsbedacht? Eher mit sich selbst ringend oder im Austausch mit anderen? Eher mit viel Planung und Sicherheitsnetzen oder mit Spontanität für den Augenblick, wenn er da ist? Je nachdem, wie der Sportler mit zukünftiger Entwicklung umgeht, kann das Coaching an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Mal braucht es die Bewusstwerdung für den Wechsel, mal Planung und Koordination des Übergangs oder Sparring beim Finden der stimmigen Feinjustierung.
Die drei Fragen „Wo stehe ich?“, „Was möchte ich der Welt geben?“ und „Wie komme ich ins Laufen?“ bieten Orientierung bei der Prozessgestaltung. Die folgend skizzierte Methodensammlung soll Denkanstöße für einen zielgerichteten Coaching-Prozess liefern. Die gewählten Beispiele zur Veranschaulichung der Methoden sind der Praxis entnommen und anonymisiert.
„Ich habe als Zwölfjährige mit meinem Sport begonnen. Ich war nicht mal gut. Aber es hat mir einfach Spaß gemacht.“ Mit diesen Worten blickt eine Olympiasiegerin auf ihre Anfänge zurück. Wo steht sie jetzt? Blickt sie mit der spielerischen Freude der Zwölfjährigen oder dem Anspruch der Olympiasiegerin auf ihre Situation? Zum Start eines Coaching-Prozesses bieten sich zur Standortbestimmung Methoden an, die einen Überblick liefern und helfen, aus der Metaperspektive die eigene Situation einordnen zu können:
Die Erfahrung zeigt, dass es für den Klienten ungewohnt ist, innerhalb des Prozesses keiner Bewertung zu unterliegen. (Zitat eines Sportlers: „Du erwartest nichts von mir, das ist so ungewohnt.“) Es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ Aussagen, sondern Erfahrungen und Ressourcen, die der Sportler im Laufe seiner Karriere gesammelt hat. Dies zu verinnerlichen, braucht Zeit. So entstehen ein bewussterer Umgang mit dem individuellen Lebenslauf, ein Verständnis für noch nicht annehmbare Wendungen wie auch die Akzeptanz der Vergangenheit. Neue Freiheiten im Denken und für die eigene Entwicklung entstehen. Ein Sportler sprach davon, dass er durch den Rückblick gut abschließen und sich dem neuen Lebensabschnitt widmen konnte.
Die Sorge der Athletin weiter oben im Text, „in allem, was jetzt kommt, nicht mehr Weltklasse zu sein“, ist aus Sportlerperspektive nachvollziehbar. Ein Perspektivwechsel und Mehrwert kann sich für sie aus folgenden Fragestellungen ergeben: „Was kann ich aus meinem innersten Selbst der Welt geben? Was macht mir Freude im Leben und wie kann ich mit meinen Talenten und Interessen der Welt dienlich sein?“ Hilfreiche Methoden sowie Modelle zur Arbeit an der Verbindung von Talenten und Sinn (einer als sinnvoll erlebten Tätigkeit) sind:
In diesem Schritt schaut der Coach mit dem Sportler in dessen Inneres. Oft sind den Sportlern die objektiv sichtbaren Zusammenhänge zwischen Beruf, Ausbildung, Familie und Leistungssport in den täglichen Abstimmungen der Lebenswelten bewusst. Unbewusst – weil bisher nicht beachtet – bleiben die dahinterliegenden Motive des täglichen Tuns: „Wieso mache ich eine Ausbildung in einem handwerklichen Beruf? Wieso habe ich xy studiert? Wieso trainiere ich in meiner ohnehin knapp bemessenen freien Zeit noch Kinder?“ Die Fragen nach dem Motiv oder der eigenen Motivation zeigen das Bedürfnis des Sportlers nach Resonanz, Akzeptanz und dem eigenen Selbstausdruck. „Weil es mir Spaß macht“, ist oft die Rückmeldung.
Mit einem Sportler wurde über die Methode „Transferable Skills“ und dem Ikigai-Modell eine Brücke geschlagen von den Tätigkeiten, in denen Leidenschaft steckt, zu dem, wofür er positive Resonanz aus dem Umfeld bekommt. So konnte er vier Interessensfelder herauskristallisieren, denen er im dritten Schritt, der sich um die Frage dreht, wie er „ins Laufen“ kommt, nachgehen konnte.
Leistungssportler sind es gewohnt, Ziele zu haben – konkrete und möglichst hohe. „Mir ist eher beiläufig aufgefallen, dass ich seit über zehn Jahren jedes Jahr Europameister wurde, auf verschiedenen Distanzen. Es zählt halt nur Olympia.“ (O-Ton eines Sportlers). Evolution und Entwicklung brauchen neben schneller Zielfokussierung auch ein wenig Gemächlichkeit und spielerisches Ausprobieren. Dann aus Wendungen und Umwegen schöpferische Kraft zu ziehen, kann eine Chance sein. Es geht darum, mit dem Sportler Optionen zu entwicklen. Um das Beschreiten neuer Wege im Coaching unterstützen zu können, sind folgende Modelle hilfreich:
Der Austausch des Sportlers mit ihm nicht oder nur wenig bekannten Menschen außerhalb seines oftmals homogenen Ökosystems, das Einholen eines Fremdbildes zu seiner Person, kann ein wertvoller Bestandteil bei der Entwicklung von Optionen sein. Bemerkenswert in den von den Autoren begleiteten Prozessen war, dass selbstbewusste und hochdekorierte Athleten, die Stress, Unsicherheit, Druck und das Sprechen vor Menschen (z.B. bei Medienauftritten) gewohnt sind, plötzlich unsicher waren. Dass sie teils unglaubliche Lebensgeschichten zu erzählen haben, „normale“ Menschen diese als inspirierend empfinden könnten und sich daher gerne als Gesprächspartner für eine Erweiterung der Perspektiven anbieten, war ihnen nicht bewusst. Und obwohl sie eine Unmenge an Kontaktpunkten haben, bestand ein weiteres Hindernis darin, diese Menschen zu benennen. Sie haben die Kontakte immer nur aus der sportlichen Perspektive und nicht als potentielles berufliches Netzwerk betrachtet. Bereits über eine oberflächliche Analyse wurden sie sehr schnell und reichhaltig fündig. Hochrangige Manager (z.B. von Sponsoren), fundierte Experten (z.B. aus dem Wissenschaftsbereich) und langjährige private Weggefährten waren bereitwillige Sparringspartner oder Kontaktgeber für weitere Gespräche mit wiederum neuen Inputgebern. Durch diese Gespräche konnten sich die Sportler ein lebendiges Bild von neuen Arbeitswelten und -Umfeldern machen. In den finalen Coachings ging es dann um ein Priorisieren der vorhandenen Optionen und um die Planung eines gelungenen zeitlichen Übergangs.
Spitzensportler schlagen nach dem Ende ihrer aktiven Laufbahn verschiedene Wege ein. Sie gründen Firmen, arbeiten als angestellte Spezialisten, Sachbearbeiter, Handwerker oder Führungskräfte. Andere bleiben ihrer Sportart als Trainer, Manager oder Funktionäre verbunden. Sich dem (voraussehbaren) Umbruch zu stellen, braucht Mut und Entschlossenheit, aber auch die Fähigkeit, loszulassen und den Übergang emotional zu verarbeiten. Im Coaching von Spitzensportlern ist es deshalb sinnvoll, als Coach selbst in vielfältigen Kontexten Erfahrung zu haben. Dafür braucht es Coaches, die sich mit dem Umfeld von Sportlern sowie der Wirtschaft auskennen und die Methoden aus dem Karriere-Coaching sinnvoll auf einen so frühen Lebensabschnitt der Sportler beziehen können.