Konzepte

Konfliktmanagement im Coaching

Hilft Achtsamkeit bei der Konfliktbewältigung?

9 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 11 | 2022

Menschen und Unternehmen stehen herausfordernden Zeiten gegenüber: Covid-19 hat das gesellschaftliche Leben wie auch die Unternehmenskultur nachhaltig verändert. Preissteigerungen und Homeoffice, Digitalisierung, Lieferengpässe und die tägliche Konfrontation mit dem Ukraine-Krieg sind nur einige Beispiele dafür.

Auf eine Veränderung folgt die nächste und allgegenwärtig steht die Frage im Raum: Was kommt danach? Der Anpassungsdruck ist groß, die verbleibende Reaktionszeit gering. In Unternehmen ist ein gutes Change-Management kein Wettbewerbsvorteil mehr, sondern schlicht die Voraussetzung für das weitere Bestehen am Markt.

Doch mit großen Veränderungen und Einschränkungen steigen nicht nur Unsicherheit und Stressempfinden, sondern auch das Konfliktpotenzial. Es müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden, die große Auswirkungen auf die Zukunft haben werden. Um Konflikteskalationen zu vermeiden und konstruktive Lösungen zu finden, die Fortschritt bewirken, anstatt diesen zu blockieren, ist effektives Konfliktmanagement notwendig.

Konfliktmanagement als wichtiger Coaching-Inhalt

In diesem Zusammenhang kann ein Ergebnis der Coaching-Marktanalyse 2022 (Rauen et al., 2022) gesehen werden. Die Bearbeitung von Konflikten nimmt demnach als Thema bzw. Anliegen im Coaching an Bedeutung zu. So rangiert das Thema Konfliktmanagement innerhalb des Coaching-Themenspektrums nun – hinter der Reflexion und Entwicklung der Führungsrolle – auf dem zweiten Platz. In der Vorjahreserhebung lag es noch im Mittelfeld.

Hieraus ergibt sich die Frage, was effektives Konfliktmanagement ausmacht. Im Folgenden wird argumentiert: Oft reicht ein Konfliktmanagement, das zwar auf Kompromissfindung zielt, ohne jedoch Aspekte zu berücksichtigen, die eine echte Annäherung, gegenseitiges Verständnis und die Wahrnehmung eigener Konfliktanteile auf Klientenseite ermöglichen, nicht aus, um Konflikte nachhaltig zu bearbeiten. Der Schlüssel zur erfolgreichen Konfliktbewältigung liegt daher in vielen Fällen in Achtsamkeit.

Warum Konfliktmanagement allein nicht ausreicht, um Konflikte zu lösen

Fast jeder hat schon einmal von Konfliktmanagement gehört. Jedoch scheitern selbst erfahrene Führungskräfte oftmals an der Umsetzung der ihnen bekannten Konfliktbewältigungsstrategien. Doch woran liegt das?

Leonard L. Riskin und Rachel A. Wohl (2015) haben sechs Faktoren identifiziert, die Hindernisse auf dem Weg zur Konfliktlösung darstellen und durch Konfliktmanagementmethoden nicht gelöst werden. Diese sechs Faktoren sind:

  1. Übermäßig egozentrische Sichtweisen
  2. Starke negative Emotionen
  3. Automatisierte, gewohnheitsmäßige Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen
  4. Zu große oder zu geringe Empfänglichkeit für Emotionen
  5. Unzureichende soziale Fähigkeiten
  6. Unzureichende Konzentration

Im Umkehrschluss müssen also folgende Voraussetzungen erfüllt sein, damit Konfliktlösungsstrategien erfolgreich zur Konfliktlösung angewendet werden können:

  1. Offenheit und Mitgefühl für andere Perspektiven
  2. Eine neutrale bis positive emotionale Grundeinstellung
  3. Eigenständige Denkweise und Reflexionsvermögen
  4. Gefühlskontrolle und Einfühlungsvermögen
  5. Sozialkompetenz
  6. Konzentrationsfähigkeit

Zur Veranschaulichung des Konzepts soll folgende Metapher dienen: Konfliktmanagement ist wie ein Samenkorn, das alle Informationen enthält, damit eine schöne Blume (eine Konfliktlösung) daraus wachsen kann – theoretisch. Denn auch die Umweltbedingungen müssen stimmen. In Analogie zu den genannten sechs Faktoren braucht die Pflanze Wasser, Licht, Erde, CO2 und bestimmte Spurenelemente, um tatsächlich zu erblühen.

Auf den Punkt gebracht bedeutet das: Konfliktbewältigung erfordert ein hohes Maß an Einfühlungs- und Reflexionsvermögen, Selbstkontrolle sowie Offenheit gegenüber dem Konfliktpartner. Sind diese nicht vorhanden, kann selbst das beste Konfliktmanagement kaum etwas ausrichten.

Wie Achtsamkeit hilft, Konflikte zu lösen

Achtsamkeit kann auf wissenschaftlich fundierter Basis dabei helfen, die sechs genannten Hindernisse zu überwinden und damit die Voraussetzungen zur effektiven Konfliktlösung zu erfüllen (mehr dazu im nächsten Abschnitt).

Unter dem Begriff „Achtsamkeit“ versteht sich die bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments in all seinen Facetten, ohne darüber zu urteilen. Das beinhaltet Gedanken, Gefühle, Ereignisse, das Umfeld und das Verhalten der an der Situation beteiligten Menschen.

Achtsamkeit hilft somit, sich vom eigenen Erleben durch Gefühle und Gedanken zu distanzieren und diese reflektieren zu können. Gleichzeitig ermöglicht Achtsamkeit, ebenso die Gefühle und Gedanken des Gegenübers urteilsfrei wahrzunehmen. Statt sofort auf eine Aussage des Konfliktpartners offensiv und unkontrolliert emotional zu reagieren, kann durch einen achtsamen Zustand die Botschaft des Gegenübers urteilsfrei aufgenommen und begutachtet werden. Das wiederum gibt Raum, um Verständnis und Mitgefühl für andere zu entwickeln.

Konkrete Wirkungsweisen und Effekte der Achtsamkeitspraxis

Die Wirkweisen der Achtsamkeitspraxis haben in den letzten Jahren großes Interesse von wissenschaftlichen Untersuchungen auf sich gezogen. Dabei wurden vor allem die Teilnahme an MBSR-Kursen (Mindfulness Based Stress Reduction) und die Mediation untersucht. Folgende nachgewiesenen Effekte von Achtsamkeit helfen, die sechs von Riskin und Wohl identifizierten Hindernisse auf dem Weg zur Konfliktlösung zu überwinden:

1. Achtsamkeit fördert das Mitgefühl (Michaelsen et al., 2021):

Egozentrische Sichtweisen können durch Achtsamkeitstraining losgelassen werden, indem Bewertungsfreiheit den notwendigen Raum schafft, den Standpunkt des Konfliktpartners anzunehmen, zu untersuchen und zu verstehen. Durch das tiefere Verständnis entstehen Mitgefühl und emotionale Verbundenheit.

2. Achtsamkeit fördert die Fähigkeit zur Selbstreferenz (ebd.):

Selbstreferenz bedeutet, den Einfluss der eigenen Person und des eigenen Handelns auf ein Geschehen zu analysieren. Selbstreferenz resultiert somit in Selbstreflexion und regt dazu an, sich mit den persönlichen Gefühlen, Gedanken und Handlungen eigenständig auseinanderzusetzen, anstatt gewohnheitsmäßigen Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen freien Lauf zu lassen.
Im Konfliktgespräch fördert Selbstreflexion die Klarheit über eigene Wünsche, Lösungsansätze und die Ursachen des Problems, welche den Konflikt ausgelöst haben. Außerdem eröffnet Selbstreflexion die Tür zur Erkenntnis, durch welche Verhaltensweisen und Fehler eine Person selbst zum Konflikt beiträgt. Diese Akzeptanz eigener Fehler wiederum fördert das Verständnis für den Standpunkt des Gegenübers sowie lösungsorientiertes Verhalten.

3. Achtsamkeit fördert die Gefühlskontrolle und Souveränität:

Unter großem Stress verlieren Menschen schnell die Kontrolle über die eigenen Gefühle. So kommt es bei Konflikten rasch zur Eskalation durch starke negative Emotionen. Indem Achtsamkeitstraining Stress nachweislich reduzieren kann (Khoury, 2015), fällt es automatisch leichter, in schwierigen Situationen ruhig und gelassen zu bleiben. Das wiederum ermöglicht die sachliche Kommunikation und insofern die gemeinsame Entwicklung einer Konfliktlösung. Auch stressbedingte Körperreaktionen wie hohe Muskelspannung, Herzrasen oder Rotwerden werden verringert.

4. Achtsamkeit fördert die Konzentrationsfähigkeit (Lao et al., 2016)

Gerade bei komplexen Konflikten mit vielen Beteiligten ist ein Konflikt durchaus eine kognitive Herausforderung. Die Standpunkte und Argumentationen aller Beteiligten zu erfassen, im Gedächtnis zu behalten und geeignete Lösungen zu entwickeln, erfordert ein gewisses Maß an Konzentrationsfähigkeit. Durch achtsame Präsenz ist es möglich, sich selbst bei abschweifenden Gedanken wieder bewusst zum Thema zurückzuholen.

5. Achtsamkeit fördert die Sozialkompetenz

Durch verbessertes Einfühlungsvermögen, verbesserte Konzentrationsfähigkeit, Selbstreflexion und die Akzeptanz des Gegenwärtigen fallen aktives Zuhören und sachliche Kommunikation leichter. Dem Konfliktpartner kann dadurch offen und auf Augenhöhe begegnet werden, sodass das Konfliktgespräch sachlich geführt werden kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Achtsamkeit fokussiert die konstruktive und positive Einstellung zum Konflikt. Das Bedürfnis, sich beweisen und gewinnen zu müssen, wird ersetzt durch freundliche Neugier, Mitgefühl und Verständnis gegenüber dem Konfliktpartner sowie offenem Interesse an einer gemeinsamen Konfliktlösung.

Konfliktmanagement im Unternehmen: Potenziale achtsamer Führung

Für Unternehmen ist Konfliktbewältigung ein besonders relevantes Thema. Durch die Interaktion von vielen Menschen unterschiedlichster Positionen und Interessen entstehen potenziell täglich Konflikte. Vor dem Hintergrund des hier diskutierten Themas und der Tatsache, dass Konfliktbewältigung zu den Kernkompetenzen von Führungskräften zählt, ist achtsame Führung ein wesentlicher Hebel zur Verbesserung des Arbeitsklimas, der Mitarbeiterzufriedenheit und der Produktivität in Unternehmen.

Die Kommunikation ist dabei zentraler Bestandteil: Statt Abgrenzung und Druck zu erzeugen, schafft achtsame und gewaltfreie Kommunikation Verbindung und Vertrauen.

Achtsame Führung trägt zudem dazu bei, dass Führungskräfte Konfliktherde frühzeitig erkennen können. Durch ehrliches Interesse an Mitarbeitenden, aufrichtige Kommunikation und urteilsfreies Beobachten werden Probleme im Idealfall gelöst, sobald sie das erste Mal auftauchen. Konflikte können damit in vielen Fällen vermieden werden.

Ein weiterer Vorteil der achtsamen Führung entsteht auf der Wahrnehmungsebene. Statt sich als Führungskraft unnahbar und kalt zu zeigen, fühlen sich Mitarbeitende und Kollegen bei achtsamer Führung eher geschätzt und verstanden. Statt Entscheidungen über Mitarbeitende hinweg zu treffen, werden sie einbezogen und angehört.

Achtsamkeitstraining im Konflikt-Coaching integrieren

Die letzte Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Wie können Coaches das Wissen über den positiven Einfluss von Achtsamkeitstraining auf Konflikte nutzen, um ihren Klienten bei bestehenden Konflikten weiterzuhelfen?

Folgende zwei Möglichkeiten sind denkbar:

Möglichkeit 1: Einen vollständigen MBSR-Kurs absolvieren

Wie bereits angedeutet basiert ein Großteil der Studien zu den Effekten und Wirkweisen von Achtsamkeit auf der von John Kabat-Zinn entwickelten MBSR-Methode. Dass Coaches ihren Klienten die Teilnahme an einem MBSR-Kurs empfehlen, scheint daher naheliegend.

Allerdings geht diese Möglichkeit mit offensichtlichen Nachteilen einher: Ein MBSR-Kurs bezieht sich nicht direkt auf das Problem des Klienten – in diesem Fall die Konfliktlösung. Zudem dauert ein MBSR-Kurs durchschnittlich erfahrungsgemäß einige Wochen, was einen erheblichen Zeitaufwand für den Klienten bedeuten würde. Und zuletzt hat der Coach keine direkte Einsicht oder Kontrolle über das Gelernte.

Möglichkeit 2: Elemente aus der Achtsamkeitspraxis in das Coaching integrieren

Alternativ zur ersten Methode kann der Coach einzelne Elemente und Übungen aus dem Achtsamkeitstraining in sein Coaching integrieren. Das können z.B. kurze Meditationen, angeleitete Gedankenreisen oder diverse Atemübungen sein.

Die Übungen könnten je nach Bedarf direkt im Coaching angewendet werden, um den Klienten zu mehr Klarheit über das Wesen, die Ursachen und seinen Eigenanteil am Konflikt zu verhelfen. Oder sie dienen der Eigenanwendung: Durch selbstständiges Praktizieren der vom Coach empfohlenen Achtsamkeitsübungen kann der Klient in Konfliktsituationen angemessen reagieren und von den oben genannten Wirkweisen profitieren.

Die Kombination beider Anwendungsszenarien ist vermutlich die erfolgversprechendste: Coaches würden eine Übung während einer Coaching-Einheit einführen und im Anschluss darauf hinweisen, dass ebendiese Übung auch eigenständig vom Klienten durchgeführt werden kann – mit dem Ziel, nach und nach offen, positiv und gelassen auf Konflikte reagieren zu können.  

Literatur

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