Indem ein konkreter Coaching-Prozess beschrieben wird, wird er auch zur öffentlichen Praxisreflexion. Die Beschreibung des Vorgehens und die Reflexion möglicher Schwierigkeiten verbinden sich mit dem Anspruch einer durch Theorie geleiteten Praxis und der Notwendigkeit, jeden Auftrag als einen sich von anderen Aufträgen unterscheidenden Prozess zu begreifen. In diesem Sinne ist der hier beschriebene Prozess ein Solitär. Verändert wurden nur jene Daten, die Rückschlüsse auf das Unternehmen und die hier tätigen Personen ermöglicht hätten.
Konflikte in Organisationen lernt man erst dann kennen, wenn man nicht nur die Sicherheitssperren in Form von Schranken und Sicherheitspersonal überwunden hat, sondern auch sprachlich hinter den wohlfeilen Erklärungen angekommen ist. Wer dort Platz nimmt, wo Krawatten gelockert und Schuhe abgestreift werden dürfen, wird auch eingeladen, bei Konflikten hilfreich zu sein. Im folgenden Beispiel entstand der Kontakt zu den betroffenen Konfliktparteien über deren Führungskraft. Sie hatte bereits erfolgreich mit dem Autor zusammengearbeitet.
Innerhalb eines rechtlich unabhängigen Unternehmens, das im Besitz eines international operierenden Großkonzerns ist, kam es zwischen den beiden gleichberechtigten Geschäftsführern, Herrn Ost und Herrn West, zu einer wüsten Auseinandersetzung. Anwesend war auch der Divisionsleiter Dr. Bergwald. Es drohten weitere Eskalationen mit entsprechenden Auswirkungen auf das Unternehmen. Letztlich einigte man sich auf den Versuch, mit der Hilfe eines Coachs den Konflikt zu lösen.
Der Konflikt entstand jedoch nicht erst durch diese spontane Eruption. Er entwickelte mit dem aktuellen Ausbruch lediglich einen unerträglichen Höhepunkt in einem länger verlaufenden Prozess. Der Divisionsleiter rief den Autor an und bat um dessen Hilfe. Vor einem ersten Treffen wurden Telefonate mit Herrn Ost und Herrn West vereinbart und geführt. Dr. Bergwald sollte zukünftig über den Prozess, nicht jedoch dessen Inhalte, via E-Mail in Kenntnis gesetzt werden.
Wenn bei der Lösung von Konflikten Bordmittel der Klienten, wie Flucht, kommunikative Abschirmung, Trennung und so weiter nicht ausreichen oder nicht einsetzbar sind, beginnen die Beteiligten, vermehrt Erklärungen zu suchen. Es kommen Freunde, Lebenspartner und andere als Einflüsterer zum Einsatz. Nicht selten wird dann Allgemeinwissen aus den Disziplinen gesunder Menschenverstand, Moral, Psychologie und Soziologie bemüht. Im vorliegenden Fall war von tiefen Verletzungen, Generationsproblemen, Vater-Sohn-Konflikten und angedeuteten Minderwertigkeitskomplexen aufgrund unterschiedlicher Ausbildungsniveaus die Rede. Die Partnerin eines der Herren ergänzte dies um eine weitere Erklärung: der tiefer liegenden Sohn-Vater-Problematik. Sigmund Freud als Volksheld lässt grüßen. Natürlich wurde auch eine geschlechtsspezifische Variante bemüht: Männer sind ebenso.
Konflikte, insbesondere wenn eruptive Ausbrüche zu befürchten sind, verbrennen Energie und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. In der Not, in der sich die Betroffenen befinden, wird nach Erklärungen gesucht. Zutiefst eingewoben und erzogen in linear kausalen Denkschemata, favorisieren wir Erklärungen, die den Gegenspieler als Ursache allen Übels ausweisen, und halten dies für eine Erkenntnis nahe an der Wahrheit. Aber auch die selbstquälerische Variante erfreut sich einer gewissen Beliebtheit: Ich bin schuld.
Solche Deutungen und Beschreibungen sind, wenn wir darin einen Erklärungswert erkennen, eine temporäre Beruhigung. Sie entlasten kurzfristig, sie lösen aber keine Konflikte. Jeder fähige Gegner wird die Erklärung als Chance zur Eskalation aufgreifen. Auf diese Weise bekommt der Satz von Paul Watzlawick seine Bedeutung: Die Lösung ist das Problem.
Erklärungen sind also ein Lösungsversuch mit Bordmitteln, und genau dies gilt es, zu respektieren und anzuerkennen: Ich sehe, Sie haben sich schon viele Gedanken gemacht. Nicht die gewählte Erklärung, sondern den Versuch gilt es zu würdigen. Jeder gut ausgebildete Business-Coach, der sich in Fragetechniken auskennt, kann solche Erklärungen zum Anlass für weitere Fragen nutzen. Ohne die gefundenen Erklärungen zu teilen, können sie zum Dialog mit dem Coach führen.
Konflikt-Coaching ist thematisch verwandt mit Mediation. Sie gibt jedoch keine Empfehlungen und formuliert keine Vorschläge. Mediation kennt keinen Verursacher und damit kein Schuldprinzip. In ihrer Konzentration auf den kommunikativen Aushandlungsprozess ist eine gewisse Nähe zu systemisch orientiertem Konflikt-Coaching deutlich erkennbar.
In der folgenden Strategie fließen zusätzlich Elemente des Harvard-Konzeptes ein, wie:
Versteht man Konflikt-Coaching als eine Ausformung von Business-Coaching, ist die Bewältigung eines Konfliktes durch die Beteiligten mit der Hilfe des Coachs zwar notwendig, aber nicht ausreichend. Der Aufwand und die Investition lohnen sich erst dann, wenn hieraus Lerneffekte für die Organisation erzielt werden.
Coaching im Sinne von Trouble-Shooting, als Ultima Ratio oder zur Vermeidung hoher Abfindungen, ist ein dürftiger Anspruch. Konfliktlösungen durch Reflexion und Dialoge haben eine eigene Qualität und müssen Eingang in das Kulturprogramm finden. Konflikte nicht zu ignorieren, nicht in jedem Fall durch Trennung von einem Mitarbeiter zu lösen, sondern durch Coaching zu klären, ist eine relevante Markierung im Kulturprogramm der Organisation, wie Siegfried J. Schmidt ausführt. Gleichzeitig sichert dies die Nachhaltigkeit der jeweils gefundenen Lösung.
Systemtheoretisch argumentiert sind alle sozialen Systeme in ihrer spezifischen Ausformung unterschiedlich. Dies gilt gleichermaßen für Konflikte. Jeder hat seine eigene Geschichte, seine spezifischen Ausformungen und Risiken. Akzeptiert man dies, muss auch die Vorbereitung des Coachs inhaltlich jeweils anders sein. Möglicherweise kommen Rohlinge zum Einsatz. Sie werden aber, in der Analogie der Bildhauerei bleibend, für jeden Prozess unterschiedlich, zum Konflikt passend, geformt.
Der Autor geht hierbei Wege, die nicht lehrbuchtauglich sein dürften. Neben der Formulierung einiger Standardfragen im Sinne der Rohlinge findet ein Prozess statt, der sich mit einem temporären Gedankenwälzen umschreiben lässt. Dies beginnt mit der Vereinbarung des Termins und endet in einem Drehbuch. Gleichsam einem Skirennläufer, der die gesamte Rennstrecke mental immer wieder abfährt, sie gedanklich antizipiert, wird ein Drehbuch entwickelt. Um im Bild zu bleiben: Es werden die Richtungswechsel Sprünge, Kurven und Stolpersteine gedanklich gewälzt. Damit wird deutlich: Systemisches Konflikt-Coaching ohne strategische Vorbereitung mag Gurus gelingen. Der solide Praktiker mit Qualitätssicherungsansprüchen kommt ohne Strategie nicht aus. Allerdings und dies ist eine wichtige Einschränkung: Jede Strategie muss sich der Metaregel unterordnen, bei Bedarf nicht zur Anwendung kommen zu müssen. Ein gewisses Maß an Flexibilität muss daher eingebaut sein.
Drehbücher als Vorbereitung erfüllen eine widersprüchliche Funktion. Sie beinhalten einen Plan für die Vorgehensweise nebst Zeitleiste und Regieanweisung. Sie helfen, den Prozess zu ordnen, also im Drehbuch zu bleiben. Aber es gibt kein Drehbuch, das nicht durch den Prozess verändert wird: Planungselemente werden weggelassen, andere hinzugefügt. Auch die zeitliche Taktung wird meistens verändert. Man könnte fragen, wozu ein Drehbuch, wenn es ohnehin dem Prozess geopfert wird? Das Drehbuch begrenzt ausufernde Prozessdynamik und hilft zu steuern, in dem es bei großer Abweichung, den Coach zur Regulierung mahnt. Der Autor operiert nicht vordergründig anhand von Tools, anhand von Werkzeugen. Das dahinter liegende Prinzip, eine Lösung für viele Probleme, ist meistens nicht tragfähig. Das Drehbuch hingegen bietet eine immer neue Komposition von Möglichkeiten. Es operiert nach dem Prinzip viele Lösungen für ein Problem und orientiert den Einsatz von Tools an den Kontextbedingungen des Prozesses. Es besitzt mehr Kundenspezifität und mehr Elastizität als prozessübergreifende Werkzeuge dies leisten können.
In dem hier beschriebenen Kundenfall wird von großen, mit Härte ausgetragenen Differenzen berichtet. Es ist somit von einer angespannten Grundstimmung auszugehen. Erste Fragen gleichen einer Erkundung der Landschaft. Gleichzeitig ermöglicht dies, die Ressourcen auf der Beziehungsebene auszuloten, um zu verstehen, wie sich die Dynamik der Partner darstellt, welche kleinen Änderungen schnell möglich sind und welche Themen noch nicht besprechbar sind. Das Verfahren erfolgt nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Die Antworten sind zusammengefasst:
Das erste Ziel von Konflikt-Coaching besteht darin, den relevanten Konflikt in einer, für alle akzeptablen Form besprechbar zu halten. Dadurch verlieren Konflikte vorerst einen wesentlichen Teil ihrer destruktiven Dynamik. Sie wandeln sich zum Alltagsphänomen von Dissens, wie Elke Zwingmann ausgeführt hat. Dissens ist handhabbar und das Belastende von Dauerkonflikten weicht langsam der Gelassenheit. Gleichzeitig steigt damit das Vertrauen in die Stärken des Systems. Der Wandel zum alltäglichen Dissens wiederum ist kein statischer Zustand, er kann jederzeit wieder entgleisen. Die Teilnehmer werden gebeten, jene Bereiche zu benennen, in denen es maximale Differenzen gibt. Diskussionen oder Korrekturen durch den Partner werden unterbunden. Zusätzliche Fragen sorgen für eine differenzierte Sichtweise der Unterschiede, die wiederum Lösungsoptionen generiert. Mögliche Fragen zu den Differenzen sind:
Die genannten Themen werden auf einem Flipchart aufgezeichnet und später den Kunden, meistens in Form eines Diagramms, das alle relevanten Differenzierungen beinhaltet, zur Verfügung gestellt. Hierbei sind aktive Strukturierungsleistungen, ohne pädagogischen Zeigefinger oder subkutane Moralisierungen unverzichtbar. Nur so wird dieser Teil des Prozesses erst möglich. Durch diese Unterstützung erbringen die Kunden eine Leistung, die sie bisher nicht bewältigen konnten. Die folgenden Teilziele definieren den Prozess im Wesentlichen:
Diese Vorgehensweise im Konflikt-Coaching orientiert sich an der im Harvard-Prinzip vorgeschlagenen Trennung zwischen Mensch und Problem.
Wenn ein Konflikt sich über lange Zeit entwickelt und damit chronisch wird, führt seine gemeinsame Thematisierung durch die Konfliktparteien bereits zu einer enormen Veränderung. Nach den Erfahrungen des Autors ist es strategisch günstiger, die weitere Bearbeitung im Sinne von Lösungssuche auf den nächsten Termin zu verschieben.
Innerhalb der systemischen Therapie gilt das Prinzip, Veränderungen nicht zu beschleunigen, sondern tendenziell zu verlangsamen. Eine solche Orientierung hat sich auch im Konflikt-Coaching als hilfreich erwiesen. Im Gegensatz hierzu sind Führungskräfte gewohnt, konkrete Ergebnisse mitzunehmen. Dies ist ihre tägliche Arbeitsweise und fördert daher ihre Zuversicht und ihr Vertrauen in den begonnenen Prozess.
Die Vereinbarung von konkreten, den Konflikt blockierenden Regeln, kann hierbei sehr hilfreich sein. Im beschriebenen Prozess wurden zwischen Herrn Ost und Herrn West Regeln vereinbart, die nach dem Coaching-Termin in Form einer E-Mail schriftlich zugesandt wurden:
Alle Beteiligten kennen aus anderen Zusammenhängen (Arztbesuch, Elternabend in der Schule der Kinder) abschließende Kommentare. Auch wenn die hier skizzierte Dienstleistung damit kaum Ähnlichkeit aufweist, kann man die Bekanntheit einer solchen Vorgehensweise für sich nutzbar machen. Der konkrete Kommentar des Coachs hatte in diesem Fall folgenden Wortlaut:
„Beide Herren sind achtenswerte und fähige Gegner. Siege über den Anderen sind daher höchst ungewiss und ohne eigene Beschädigung kaum realisierbar. Kompromissbildungen können daher wertvoller sein. Sollte es zu Verletzungen der obigen Regeln kommen, ist dies Ausdruck der Dauer des Konflikts, sehr menschlich und sollte nicht gegen die eigene Person gerichtet interpretiert werden. Die Regeln sind sehr streng. Es bedarf sehr vieler guter Voraussetzungen, um sie überhaupt umsetzen zu können. Bei eigenem Ärger über den Anderen kann es helfen, sich auf das gemeinsam Geleistete zu konzentrieren.“
Es gelang, zu beiden Herren eine gute und auch belastbare Arbeitsbeziehung herzustellen. Die vorher konzipierte Strategie hat sich im Wesentlichen als tragfähig erwiesen. Auch das Minimalziel, dass beide Partner sich zu einer Fortsetzung des Prozesses bekennen, wurde erreicht. Bisher, so die Kunden, endeten alle Klärungsversuche mit wenigen Ausnahmen in Form handfester verbaler Auseinandersetzungen. Jetzt war es immerhin gelungen, über eine Strecke von einigen Stunden im Dialog zu bleiben. Dies alleine ist für die Kunden eine wertvolle Erfahrung. Das Ergebnis ist für einen ersten Kontakt respektabel, aber es gibt keinen Grund zu Euphorie. In jedem Fall liegt noch ein großer Teil der Strecke vor den Beteiligten. Wie wertvoll der erste Kontakt war, wird sich in der Umsetzung zeigen. Das Problem existiert schon sehr lange. Die Interaktionen, besser gesagt die Kampfmuster, sind fest etabliert und somit gibt es noch keinen Grund für großen Optimismus.
Lesen Sie Teil zwei des Artikels: "Eine überraschende Wendung", erschienen im Coaching-Magazin 1-2012.