In einem Produktionswerk eines Technologie-Konzerns intervenieren die Teamleiter eines Produktionsteams bei ihrem übergeordneten Vorgesetzten, dem Bereichsleiter, gegen ihren direkten Chef, den Abteilungsleiter, wegen massiven und fortgesetzten Fehlverhaltens in der Führungsrolle. Es ist von einem rauen Umgangston die Rede, von Drohungen gegen mehrere Mitarbeiter und einige der Teamleiter. Der Abteilungsleiter ist in Urlaub, weiß und ahnt nichts von der Initiative seiner Teamleiter. Er ist eine „gestandene“ Führungskraft, die zwar schon früher durch ein eher ruppiges Führungsverhalten unangenehm aufgefallen war, jedoch blieben spürbare Sanktionen bis zu dieser Eskalation aus. In dieser Situation nimmt der Bereichsleiter, der diese Funktion erst seit kurzem innehat, die Anklagen der Teamleiter ernst und kommt gemeinsam mit dem Personalleiter zu dem Schluss, dass der Abteilungsleiter abgemahnt werden müsse. Dieser erfährt von der Konsequenz seines Verhaltens am ersten Tag nach der Rückkehr aus seinem Urlaub- und fällt aus allen Wolken.
Das Klienten-System zeichnet sich durch die Mischung aus einer „Familienclan-“ und einer „Experten-Kultur“ aus. Die hierarchische Kultur hat dazu geführt, dass die bisherigen Irritationen, die der Abteilungsleiter in seiner Umgebung hervorgerufen hat, nicht zu disziplinarischen Konsequenzen geführt haben. Die jetzige Eskalation der Teamleiter ist im Klienten-System mit „Verrat“ gleichzusetzen.
Der Ruf der betroffenen Abteilung sowie des Bereichsleiters im Werk sind durch den Vorfall gleichermaßen in Gefahr. Der Bereichsleiter war nach einem kurzen Einsatz in der Zentrale des Unternehmens in neuer Funktion an den Produktionsstandort zurückgekehrt und steht dort unter hohem Erfolgsdruck. Das Produktionsteam arbeitet in einem überaus kompetitiven Umfeld und steht täglich unter einem messbar hohen Leistungsdruck. Die Organisation kann sich einen Konflikt zwischen den Führungsebenen, der in dieser Form als „Meuterei“ wahrgenommen wird, nicht leisten.
Die Vorwürfe gegenüber dem Abteilungsleiter widersprechen sowohl den Werten als auch dem Führungsleitbild des Unternehmens. Die wiederholte Duldung des Fehlverhaltens einer Führungskraft, eines negativen „Rollenmodells“ auf Abteilungsleiterebene, würde in einem Umfeld hoher Kommunikationsdichte wie dieses Produktionswerkes unkontrollierbare Folgen nach sich ziehen.
Darüber hinaus ist es für den Bereichsleiter wichtig, die Situation genau zu analysieren: Handelt es sich um eine notwendige Eskalation, da die Teamleiter ihre direkte Führungskraft kommunikativ nicht mehr erreichen? Oder ist es der Versuch, eine unbequeme Führungskraft, die fordernd, leistungs- und erfolgsorientiert ist, loswerden zu wollen?
Der unternehmensinterne Leiter der Organisationsentwicklung holt zwei prozesserfahrene Beraterinnen an Bord, die zugleich systemisch ausgebildete Coaches sind. Nach der intensiven Situationsanalyse entscheiden sie sich, gemeinsam mit dem Auftraggeber-System (Bereichsleiter und interne Organisationsentwicklung) einen Gesamtprozess, der aus der Verzahnung von zwei Coaching-Prozessen besteht, aufzusetzen:
Das Beraterteam konzipiert und steuert den Prozess gemeinsam. Bereichsleiter und Abteilungsleiter kennen den Gesamtprozess, die Teamleiter haben nur Kenntnis von ihrem Team-Coaching-Prozess. Ziel dieses Beratungsdesigns war, aus zwei unabhängigen (Berater-)Perspektiven auf den Gesamtprozess zu schauen, diesen gemeinsam beurteilen zu können – und, wenn notwendig, über Interventionen in dem einen oder anderen Prozess gemeinsam im Sinne des Gesamtprozesses zu entscheiden.
Der nach außen hin unabhängige Einsatz der beiden Beraterinnen sollte es den Teamleitern ermöglichen, das notwendige Vertrauen zu entwickeln, um sich auf einen offenen Klärungsprozess mit dem Abteilungsleiter einzulassen. Es hätte sonst die Gefahr bestanden, dass diese Diskussion sich auf eine „Schuldfrage“ verengt hätte. Die Integration des individuellen und des Team-Coaching-Prozesses auf Beraterebene war notwendig, um diese komplexe Situation aus der Gesamtsicht verstehen und mit den geeigneten Interventionen im Sinne des Unternehmens steuern und die Konflikte bearbeiten zu können.
Der Auftrag bestand darin, allen Betroffenen und Beteiligten die Chance zu geben, in eine konstruktive Kommunikation zurückzufinden. Der Ausgang der Krisenintervention war bewusst und explizit für alle Betroffenen durch den Auftraggeber ergebnisoffen gehalten worden.
Der Prozess begann mit dem individuellen Coaching des Abteilungsleiters. Nach dieser ersten Sitzung wurde auch der Team-Coaching-Prozess durch eine Auftragsklärung mit dem internen OE-Leiter, dem Bereichsleiter, dem Abteilungsleiter und den Teamleitern aufgesetzt. Insgesamt hat dieser trilaterale, hierarchieübergreifende Prozess neun Monate gedauert. In dieser Zeit haben zehn individuelle Coaching-Sitzungen, zwei Telefonkonferenzen mit Vorgesetztem, Klienten und Coach, elf Team-Coaching-Sitzungen und eine Mediationssitzung zwischen dem stellvertretenden Teamleiter und dem Abteilungsleiter stattgefunden. Diese Prozessintensität war notwendig, um den Abteilungsleiter in die aktive Führungsrolle zurückzubringen, das Team zu stabilisieren und die Arbeitsfähigkeit für das operative Geschäft wieder herzustellen.
Ergebnis des Gesamtprozesses nach neun Monaten war, dass das Team mit seinem Abteilungsleiter in der ursprünglichen Konstellation auf der Basis eines neubegründeten, gegenseitigen Vertrauens in die handelnden Personen und deren Leistung mit einem anderen Verständnis über Rollen und Zusammenarbeit weiter arbeiten konnte.
Der Erstkontakt zwischen Klient und Coach fand im Rahmen der Auftragsklärung mit dem Vorgesetzten und dem OE-Leiter „unter acht Augen“ statt. Die Atmosphäre war dem Anlass des Treffens entsprechend angespannt: Das Coaching war von der Organisation „verordnet“ worden, der Klient, eine gestandene, aber in Ungnade gefallene Führungskraft, die sich in der Vergangenheit sehr wohl in schwierigen Projekten ausgezeichnet hatte, sollte eine ihm unbekannte, externe Unterstützung zur Veränderung des eigenen Verhaltens nutzen. Der Bereichsleiter formulierte den Coaching-Auftrag sehr klar: Der Abteilungsleiter sollte die Wahrnehmung für die Wirkung seines Führungsverhaltens, das schließlich zur Abmahnung geführt hat, erkennen können sowie mit dem Coach seine Persönlichkeitsmerkmale herausarbeiten, die in der Vergangenheit immer wieder zu unkontrolliertem Verhalten und Eskalationen geführt haben.
In der direkt im Anschluss folgenden Auftragsklärung „unter vier Augen“ – Klient und Coach – wurde die Betroffenheit des Klienten deutlich, aber auch, dass er die Ereignisse, also die „Meuterei“ seiner Teamleiter, noch nicht vollständig auf sein eigenes Verhalten als Auslöser beziehen konnte. Die Zielsetzung des Auftrags durch den Bereichsleiter wurde damit bestätigt.
Im Coaching-Prozess hat sich das Bild eines rationalisierenden Menschen herauskristallisiert, hochemotional in seinem Verhalten und doch ohne Zugang zu seiner Emotionalität. Verletzungen machte er mit sich selbst aus und nahm – unbewusst – nur „Seinesgleichen“ wertschätzend wahr und an, also Menschen, die wie er emotional belastbar sind, strukturiert vorgehen und durch eine dominierende Sachorientierung geprägt sind.
Bis zu dieser Eskalation hatte der Klient keine Wahrnehmung für seine eigene Energie und deren mächtige Wirkung. Vielmehr hielt er seinen Energie-Level für „Normal-Null“ und übertrug diesen Maßstab unreflektiert auf seine Mitarbeiter. Dass es zu der Eskalation und folgenden Abmahnung gekommen war, lag aus seiner Sicht an dem individuellen Führungsverständnis des neuen Bereichsleiters, wie auch an dem sich in den letzten Jahren wandelnden Führungsverständnis im Unternehmen.
Die Phase des „Verstehens“ hat etwa ein Drittel der Prozess-Laufzeit und etwa die Hälfte der Individual-Coaching-Termine beansprucht. Alle Prozess-Elemente, also die Termindichte zu Prozessbeginn, die Einbindung des Bereichsleiters via Telefonkonferenzen, die Reflexion der Team-Coaching-Feedbacks und -erfahrungen in seinem individuellen Prozess sowie die Verzahnung der Themen und Interventionen durch die Meta-Kommunikation der externen Beraterinnen haben letztlich dazu geführt, dass der Klient beginnen konnte, seine Persönlichkeitsmuster zu reflektieren und seine Verhaltensmuster zu verändern. Die Wahrnehmung der sich verändernden Unternehmenskultur, in der es andere Muster für „Hierarchie“ gibt und sich damit auch die Anforderungen an „Führung“ verändern, haben den Ehrgeiz und den Stolz des Abteilungsleiters geweckt, für sein Image und seinen Status zu kämpfen.
Zu Beginn des Team-Coachings war es notwendig, die Teamleiter und den Abteilungsleiter erst einmal in die Lage zu versetzen, miteinander zu kommunizieren. Dazu wurden die Ziele für diesen Team-Coaching-Prozess gemeinsam definiert, unter anderem:
Um die ersten Schritte in Richtung einer neuen, gemeinsamen Vertrauensbasis zu gehen, war es – vor allem für die Teamleiter – wichtig, dass der Bereichsleiter zu Beginn des Prozesses anwesend war und die gemeinsamen Ziele für den Prozess bekräftigt hat. Es war notwendig, den Teamleitern zu versichern, dass ihre Eskalation bezogen auf das als destruktiv und regelwidrig empfundenes Verhalten des Abteilungsleiters für sie, die Teamleiter, keine disziplinarischen Folgen haben würde. Erst dann waren die Teamleiter bereit, sich für den Prozess zu öffnen. Der Bereichsleiter machte deutlich, dass er von den Teamleitern erwarte, die Verantwortung für den Prozess, den sie mit ihrer Eskalationskommunikation ausgelöst hatten, zu übernehmen, also sich aktiv in diesen Prozess der Klärung und Auseinandersetzung zu begeben. Als eine weitere Voraussetzung für eine belastbare Führungsbeziehung wurde des Weiteren formuliert, dass die Teamleiter sich auch in ihrer jeweils individuellen Beziehung zum Abteilungsleiter sehen und reflektieren – nicht nur als Gruppe, die gemeinsam Interessen gegenüber dem Abteilungsleiter formuliert.
Der methodische Einstieg zu einer offenen, authentischen Kommunikation gelang durch die individuelle, graphisch-kreative Darstellung des Weges jedes Teamleiters und des Abteilungsleiters – aus ganz persönlicher Perspektive. Dadurch öffneten sich die Blickwinkel, die Personen wurden hinter den Rollen und verhärteten (Feind-)Bildern sichtbar, alle Beteiligten konnten beginnen, in einer anderen Form aufeinander zuzugehen.
Im weiteren Verlauf wurden mit dem persolog-Persönlichkeitsprofil die unterschiedlichen Kommunikationsbedürfnisse und -fähigkeiten analysiert und mit den fünf „Dysfunctions of a Team“ von Patrick Lencioni das Thema „Vertrauen“ als Notwendigkeit für die weitere Zusammenarbeit und den zukünftigen Erfolg des Teams erarbeitet.
Ein weiteres Kernthema neben der Herausforderung, sich (wieder) Vertrauen zu schenken, war die Erarbeitung der gegenseitigen Rollenbilder oder Funktionsverständnisse. Obwohl dies Inhalt fast aller Teamentwicklungsprozesse ist, hatte dieses Team auf Grund von Historie und unglücklichen Konstellationen nie die Chance, mit einer gewissen Offenheit aufeinander zuzugehen und die Rollenerwartungen im Team zu klären. Stattdessen hat sich gezeigt, dass Bilder und Erfahrungen Dritter sowie Vorurteile von Beginn an das Umgehen miteinander beeinträchtigt und verengt haben. Dies betraf vor allem das Verhältnis zwischen dem Abteilungsleiter und seinem Stellvertreter. In einer bilateralen Sitzung konnten beide ihre unterschiedlichen Erwartungen, Bedürfnisse und Verletzungen austauschen. Dies hat dann – einvernehmlich – zu einem Wechsel in der Funktion des Stellvertreters geführt, was die Situation für das gesamte Team entlastet und es dem Abteilungsleiter ermöglicht hat, seine Rolle teilweise „neu“ zu definieren.
In diesem Zusammenhang konnte dann auch das sich verändernde Führungsrollenverständnis im Unternehmen diskutiert werden, wodurch der Abteilungsleiter sein Führungsverhalten – angestoßen durch die Arbeit im individuellen Coaching-Prozess – vor den Teamleitern darstellen und mit ihnen diskutieren konnte. Die Familienclan-Kultur wurde von allen Beteiligten nach wie vor als dominierend erlebt, allerdings wurde deutlich, dass „Hierarchie“ inzwischen mehr Transparenz und Einbindung erfordert als in früheren Zeiten. Dies wurde dem Abteilungsleiter deutlich gemacht, und er hat im Laufe des Prozesses begonnen, sein Verhalten diesbezüglich zu verändern – was für sein Selbstverständnis als Führungskraft eine einschneidende Entwicklung darstellt.
Um den Mehrwert dieses Beratungsdesigns mit zwei parallel gestarteten Coaching-Prozessen unter einer übergeordneten Zielsetzung zu erzielen, war es notwendig, für den Meta-Prozess der „Verzahnung“ konkrete Spielregeln aufzustellen: Die Beraterinnen tauschen sich über die Fragestellungen, die in beiden Prozessen deutlich werden und vor allem auch über die Wirkung der jeweiligen Interventionen aus – ohne den Vertrauensschutz der Klienten zu verletzen. In diesem „Meta-Prozess“ spielte auch die Leitung der internen OE als Prozessverantwortliche gegenüber dem Unternehmen eine entscheidende Rolle. Mit der nötigen professionellen Kompetenz ausgestattet war es dem OE-Leiter möglich, die Dramaturgie eines solchen Prozesses zu verstehen und dafür zu sorgen, dass sowohl die notwendige Aufmerksamkeit im Management, als auch die Ressourcen für den Prozess zur Verfügung gestellt wurden. Damit konnte auf der Ebene der Konfliktursachen angesetzt und so vertieft gearbeitet werden, wie dies auf der reinen Symptom-Ebene nicht möglich gewesen wäre. Die Rollen und Spielregeln wurden folgendermaßen definiert:
In einer Phase, in der sich das Führungsverständnis im Klientensystem wandelt, hat der Prozess die Voraussetzung – den notwendigen (virtuellen) Raum – für die Erprobung eines neuen Führungsverhaltens geschaffen und im Ergebnis für die Arbeitsfähigkeit einer Abteilung gesorgt. Anstatt wie gewohnt – und damit unreflektiert – mit „Niederschlagung der Meuterei“ und „Bestrafung“ zu reagieren, ging das Auftraggebersystem in Aktion und beauftragte ein lösungsneutrales Ergebnis. Damit waren die Akteure gezwungen, den Raum zu betreten und sich auf den Prozess einzulassen. Weil sie Entlastung erfahren haben, konnten sie die tradierten Rollen der „Opfer“ und „Verfolger“ aus der Distanz betrachten und die unterschiedlichen Auslöser für die Vorfälle, auch die Mechanismen, die sie in Gang gesetzt haben, wahrnehmen.
Der Prozess hat die direkten Konfliktparteien in die Lage versetzt, nicht mehr nur reflexartig mit einem reduzierten Verhaltensrepertoire zu reagieren, sondern sich wieder einen Zugang zu den eigenen Ressourcen zu erarbeiten, der dann den Weg zur Lösung der unterschiedlichen Konflikte ermöglicht hat. Die Konfliktparteien konnten sich im geschützten Raum des Team-Coaching-Prozesses anders begegnen und gegenseitig erleben.