Die Brockhaus Enzyklopädie definiert: „Spiritualität, die geistig-geistliche Orientierung und Lebenspraxis eines Menschen; (…) die vom Glauben (als Grundelement des religiösen Lebens) getragene und grundsätzlich die gesamte menschliche Existenz unter den konkreten Lebensbedingungen prägende ‚innere‘ Orientierung und ‚äußere‘ Lebensform“ (Brockhaus, 2006, S. 785).
Und der Psychologe Anton A. Bucher präzisiert: „Auf Basis zahlreicher qualitativer Studien, die zu rekonstruieren versuchten, was unterschiedliche Personengruppen unter Spiritualität verstehen, Laien ebenso wie Experten, Krankenschwestern (…) setzt sich mehr und mehr als Konsens durch, Spiritualität als ‚Verbundenheit‘ (…) zu würdigen (…). Diese Verbundenheit hat zum einen eine vertikale Ausrichtung, hinauf zu etwas, das umfassender und stärker ist als wir, in der abrahamitischen Tradition üblicherweise ‚Gott‘; zum anderen hingegen eine horizontale, bezogen auf die Natur und die soziale Mitwelt.“
Und so lassen sich noch weitere Stimmen finden, wie die des Psychologen und Theologen Renaud van Quekelberghe (2007), der resümiert: „Der Mensch kann nicht anders, als spirituell sein. Es kann ihm bewusster werden, indem er sich selbst zu erkennen versucht. Sokrates´ Spruch ‚Erkenne dich selbst‘ könnte man als Motto oder Merksatz nehmen, um die hier gesuchte ‚Definition‘ der Spiritualität in drei Worte zu fassen.“
Auch der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, der sich bekanntermaßen für eine Brücke zwischen Ost und West einsetzt, hat sich immer wieder zum Thema geäußert: „Bei der Spiritualität geht es um jene Qualitäten menschlicher Gesinnung – wie Liebe und Mitgefühl, Geduld, Toleranz, Vergebung, Zufriedenheit, Verantwortungsgefühl, Harmoniestreben – die einen selbst und andere glücklich machen. Deswegen sage ich bisweilen, dass wir möglicherweise ohne die Religion auskommen können, aber auf keinen Fall ohne diese grundlegenden spirituellen Eigenschaften.“ Vielen Definitionen ist gemein, dass in ihnen eine Verbundenheit aller lebenden Wesen zum Ausdruck gebracht wird, einer Verbundenheit, die auch durch eine laufende gegenseitige Beeinflussung bestimmt ist. Das innere Wachstum, die Reifung des Menschen, wird ebenfalls (in unterschiedlichen Ausprägungen) wiederholt genannt. Zusätzlich wird oftmals auch eine Ausrichtung zu einer höheren, übergeordneten Macht, Kraft oder dergleichen dargestellt, die letztlich erschaffend oder ordnend und Sinn gebend wirkt.
Spiritualität ist aber ein Thema, das hierzulande einerseits populär und virulent ist, andererseits sich aber durch eine gewisse Heimatlosigkeit auszeichnet. Hatte hierzulande die Katholische Kirche über Jahrhunderte ein Monopol auf das Thema, zerbrach dies in der Reformation. Und im Zuge der Aufklärung wurde Spiritualität zur Privatsache erklärt. Breite und primäre Relevanz wurde fortan vor allem der Wissenschaft zuerkannt. Basis der Humanwissenschaften wurde im 19. Jahrhundert das Maschinenmodell der Newtonschen Mechanik (Helg, 2000).
Auch heute noch neigen wir dazu, den Aussagen der Wissenschaft eher Glauben zu schenken als jenen der Spiritualität (Elahi, 2001). Ein Grund dafür liegt darin, dass die beiden Bereiche in der Gesellschaft unterschiedlich institutionalisiert und anerkannt sind. Die materiellen Wissenschaften wie Medizin, Physik oder Biologie werden (im Gegensatz zur Spiritualität) in Westeuropa in gesellschaftlich anerkannten Instituten gelehrt.
Allerdings hat sich der wissenschaftstheoretische Diskurs inzwischen deutlich verändert. Das Maschinenmodell-Weltbild wurde durch ein neues, an der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik orientiertes abgelöst. Eine Entwicklung, die auch vor den Sozialwissenschaften nicht Halt machte. Die moderne Systemtheorie entstand beispielsweise durch die Anregungen des Ökologen Gregory Bateson, des Biologen Humberto Maturana, des Physikers Heinz von Foerster oder jene des Soziologen Niklas Luhmann.
Im Gegensatz zur Psychologie – hier haben sich längst Konzepte wie das Kohärenzprinzip in der Salutogenese oder die Achtsamkeitsorientierung in der Psychotherapie etabliert – ist im systemischen Coaching die Erforschung der möglichen, sinnvollen gegenseitigen Beeinflussungen mit Spiritualität noch sehr unterentwickelt. Nino Tomaschek (2009) sieht im Lebens- oder Menschenbild des Coachs eine Voraussetzung, damit Coaching gelingen kann. Im systemisch-konstruktivistischen Menschenbild sind die Kunden prinzipiell autonom, strukturdeterminiert, selbstorganisierend und selbstreferenziell. Der Coach betrachtet seinen Kunden eben nicht als „triviale Maschine“, sondern als autopoetisches System (Maturana). Coaching geht von der Haltung aus, dass sich der Coach (auf Prozessebene) und der Kunde (für den beruflichen Kontext) als Experten treffen. Für Günter Bamberger (2005) geht es bei der Haltung des Coachs um eine authentische Begegnung des Coachs mit dem Kunden – ohne zu urteilen oder gar zu verurteilen. Dabei ist die innere Haltung des Coachs gefordert; unter anderem Achtsamkeit in der Wahrnehmung, im Zuhören und in der Anerkennung der Wirklichkeiten des Kunden. Björn Migge (2007) schließlich regt Coaches dazu an, die eigenen spirituellen Wurzeln zu suchen, da die Sehnsucht nach dem Göttlichen immer schon zum Menschen gehöre. In unserer schnelllebigen Zeit, mit laufend neuen Trends und wirtschaftlichen Umbruchsituationen, gingen oftmals Halt und Orientierung verloren. Durch die Beschäftigung mit Spiritualität können sie wieder zurückgewonnen werden.
Zu den wenigen, die sich mit dem Thema systemische Beratung und Spiritualität explizit befassen, gehören Susanne Mingers und Philipp Wildburg (2005). Ein Ergebnis einer in den USA durchgeführten Studie (in deren Verlauf rund 1.700 Manager interviewt wurden) ist, dass Unternehmen, die Spiritualität berücksichtigen, erfolgreicher sind: sie sind flexibel, vertrauenswürdig, sinnstiftend und visionär. Ihre Mitarbeiter weisen geringere Krankenstände auf, sind kreativer, leistungsfähiger, motivierter und mit dem Unternehmen stärker identifiziert. Die Verknüpfung von Spiritualität und Wirtschaft kann den Unternehmen also auch wirtschaftliche Vorteile bringen.
In ihren Ausführungen entwickeln Mingers und Wildburg eine Verbindung zwischen Spiritualität und Wirtschaft, indem sie davon ausgehen, dass durch die Globalisierung ein ebenso globales Denken und Handeln gefordert ist. Mit spirituellem Denken und Handeln wird eine ganzheitliche Betrachtung angestrebt. Coaches haben die zentrale Aufgabe, unterschiedlichste Kommunikationen zu gestalten und zu steuern. Die Interventionen müssen immer wieder an die spezifische Situation angepasst werden. Das verlangt hohe Sensibilität und Einfühlungsvermögen. Zusätzlich befinden sich Coaches an exponierter Stelle und sind damit teilweise auch immer wieder Projektionsfläche für Emotionen, wie Wut, Ärger, Resignation und Hoffnung der gecoachten Personen. Erfolgreiche Coaches verfügen für diese Herausforderungen über eine große Bandbreite an Wahrnehmungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen. Der Auf- und Ausbau dieses Repertoires ist nur möglich, wenn sie sich auch laufend um ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung (unter anderem das Überdenken der eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten und Glaubenssätze), die Selbstbeobachtung und Selbstreflexion kümmern. Die Spiritualität könne diese Entwicklungsprozesse unterstützen.
Das Forschungsinteresse des Autors zielt auf die Fragen, inwieweit
Hierzu wurden fünf Lehrbeauftragte der ESBA sowie zehn Coaches, die alle eine Coaching-Weiterbildung an der ESBA absolviert hatten, mittels eines leitfadengestützten Experteninterviews befragt. Die Stichprobe ist hinsichtlich eines gemeinsamen Coaching-Verständnisses sowie Menschenbilds und Haltung homogen, da alle Befragten auf Basis des „Kieler Beratungsmodells“ arbeiten, das dem ESBA-Studiengang zugrunde liegt. Die Stichprobe ist überschaubar, aber angesichts der weitgehenden Unerforschtheit der Fragestellung bietet sie die Chance der intensiven qualitativen Exploration, auf der dann weitere Untersuchungen aufbauen können.
Neben der persönlichen Wichtigkeit des Menschenbilds und der Haltung der Coaches wurden auch weitere Aspekte abgefragt. So spielen bei allen großen spirituellen Überlieferungen die spirituellen Eigenschaften wie Liebe, Mitgefühl, Geduld, Toleranz, Achtsamkeit, Zufriedenheit und Verantwortungsgefühl eine zentrale Rolle. Deren Auf- und Ausbau wird für die Persönlichkeitsentwicklung große Bedeutung beigemessen. Inwieweit diese Auswahl an spirituellen Eigenschaften auch für Coaches relevant für den Auf- und Ausbau des eigenen Menschenbilds und der Haltung sind, sollte daher untersucht werden.
Ebenfalls werden in den großen spirituellen Überlieferungen eine Reihe von spirituellen Praktiken geübt, die helfen sollen, den spirituellen Weg erfolgreich zu beschreiten. Sieben solcher spirituellen Methoden (Meditation, Mantra, Musik, Yoga, Pilgern, tägliche Reflexion der eigenen Handlungen, Tanz) wurden den Befragten zur Bewertung vorgelegt. Zusätzlich hatten sie danach noch die Möglichkeit, weitere spirituelle Methoden zu nennen und zu bewerten sowie einzuschätzen, inwieweit sie diese Praktiken selber bereits anwenden oder zukünftig einsetzen wollen. Ebenfalls wurde nach relevanter Literatur ge fragt. Anschließend wurde nach der Relevanz von spirituellen Methoden für die Coaching-Weiterbildung gefragt. Hier sollten auch diesbezügliche Verbesserungsvorschläge erfragt werden.
Für alle Befragten ist sowohl das Menschenbild als auch die Haltung „sehr wichtig“. Über 80 Prozent aller Befragten sehen die Spiritualität als wesentlich für den Auf- und Ausbau des Menschenbilds als auch für die Haltung des Coachs an.
Liebe, Toleranz, Achtsamkeit und Verantwortungsgefühl werden von der Mehrheit der Befragten als „sehr wichtige“ Qualitäten eingestuft. Mitgefühl und Geduld werden im Schnitt als „wichtig“ und Zufriedenheit als durchschnittlich wichtig beurteilt.
Meditation, Achtsamkeitsübungen, tägliche Reflexion der eigenen Handlungen werden von den Befragten als sehr hilfreiche Praktiken angesehen. Musik, Mantra und Yoga erscheinen immerhin als hilfreich. Pilgern hingegen wurde eher eine untergeordnete Rolle zugesprochen. Darüber hinaus gaben die Befragten noch weitere spirituelle Praktiken an, die ihrer Meinung nach „sehr hilfreich“ für Coaches sein können:
Sehr aufschlussreich ist auch der Bericht über die spirituellen Praktiken, die die Befragten selber durchführen. Das Reflektieren und der Austausch mit anderen Menschen ist für einen Großteil der Befragten eine sehr hilfreiche Unterstützung. Einige üben auch Yoga, Meditation, Achtsamkeitsübungen oder Atemgymnastik regelmäßig. Vor Coaching-Sitzungen werden manchmal auch spezielle kinesiologische Übungen oder Selbsthypnose zur Konzentration und zum Stressabbau durchgeführt. Zusätzlich kann auch ein Ritual, beispielsweise bewusst die Hände zu waschen zur Vorbereitung auf das Neue, das Hineinspüren und die Bitte, dass das Coaching-Gespräch gut verläuft, oder ein Mantra zur Einstimmung helfen. Für einige Interviewte zählt das Gebet zu einer regelmäßigen Tätigkeit. Weitere spirituelle Praktiken der Befragten waren: Innehalten und sich mehrmals pro Woche aus dem Alltag heraus „beamen“, allein sein, Wahrnehmungspositionswechsel auch im Privatbereich, Musik hören und das Lesen von spiritueller Literatur.
Am häufigsten wurden Bücher aus der östlich orientierten Spiritualität genannt, hier vor allem die „Autobiographie eines Yogi“ von Paramahansa Yogananda, „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“ von Sogyal Rinpoche, aber auch der (westliche) Achtsamkeitsklassiker „Gesund durch Meditation“ von Jon Kabat-Zinn. Oftmals wurden auch christlich geprägte Texte, beispielsweise des Benediktinerpaters Anselm Grün, aber auch die Bibel selber genannt, gefolgt von diversen Büchern aus der Psychotherapie (z. B. Viktor Frankl) und dem Coaching.
Der Ausbau von Achtsamkeit steht für viele Befragte im Mittelpunkt der spirituellen Aspekte, mit denen sich die Befragten in Zukunft noch stärker auseinandersetzen wollen, um ihre Coaching-Kompetenz auszubauen. Hierbei wollen sie sich zukünftig unter anderem verstärkt mit Meditation oder generell mit Achtsamkeitsübungen auseinandersetzen. Die „bewusste Pause“ wird dabei auch öfters genannt, sich also bewusster in Zukunft auch Zeit für sich selbst zu nehmen, um Ruhe und Kraft tanken zu können oder auch, um diese Zeit für Reflexionen zu nutzen. Die Reflexion und der Austausch mit anderen stehen bei einigen der Befragten ebenfalls auf der To-do-Liste für die Zukunft.
Das Wissen über Chakren (in diversen Lehren als Energiezentren im Menschen angeführt) sowie der generelle Zugang zu spirituellem Wissen (auch von anderen Kulturen) über Heilung in den verschiedensten Ausprägungen, ist auch für einige Interviewte in Zukunft erstrebenswert. In diesem Zusammenhang wird auch das Interesse, mehr über die Einheit Körper-Geist-Seele erfahren zu wollen, bekundet. Weitere spirituelle Praxisvorhaben der Befragten sind:
Über 80 Prozent der Befragten halten einen Einbau von speziellen Achtsamkeitsübungen in zukünftige Coaching-Ausbildungen für „wichtig“ oder „sehr wichtig“. Bemerkenswert ist, dass für über 60 Prozent aller Befragten eine Integration der Praxis der täglichen Reflexion der eigenen Handlungen in zukünftige Lehrgänge für angehende Coaches „sehr wichtig“ erscheint; über zehn Prozent stufen dies immerhin noch als „wichtig“ ein. Das Kennenlernen und Üben von Mantren wird hingegen als weniger wichtig angesehen.
Darüber hinaus wird oftmals die Nützlichkeit des Austauschs vor allem über spirituelle Themen mit anderen genannt und der Wunsch geäußert, in Zukunft in Ausbildungen verstärkt auf „Rituale“ einzugehen. Weiter angeführte Praktiken, die sich die Befragten für die Weiterbildungen wünschen, sind: Energiearbeit, Qi-Gong, Spirituelles von anderen Kulturen lernen, Humor, Hypnosereisen, Atemübungen, Umgang mit Tieren, Malen, Handwerken und Schreiben. Auch in Supervisionen wünschen sich die Befragten, dass die Themen Rituale, Spiritualität und Meditation sowie der Austausch über „Sinn, Wert & Ethik“ Platz finden.
In Summe gehen über 60 Prozent der Befragten davon aus, dass sich Spiritualität und systemisches Coaching in Zukunft noch stärker als heute gegenseitig beeinflussen werden. Sie glauben, dass systemisches Denken und Handeln auch heißt, den Menschen ganzheitlich zu sehen; ihn als „Körper-Geist-Seele-Einheit“ zu betrachten. Das sollte in der Ausbildung aber auch in der Selbsterfahrung berücksichtigt werden. Für die Coaching-Praxis könnte das bedeuten, dass eine ganzheitliche Betrachtung des Klienten zukünftig für Coaches noch wichtiger sein wird. Das kann unter anderem durch die Fokussierung auf Werte (von Menschen und Organisationen), über das Anbieten von „Ruheräumen“ für Kundinnen und Kunden bis hin zur Stärkung der Wahrnehmung der Coaches für Kundenbedürfnisse gehen.
Coaches sind aufgerufen, laufend an ihrem Menschenbild und ihrer Haltung zu arbeiten. In Anlehnung an Helmut Schlegel (2009), der die Metapher eines Baums für den Menschen nutzt, symbolisieren dabei die Wurzeln das Menschenbild und die Haltung des Coachs. Sie geben dem Baum – also dem Coach – Kraft, Nahrung und Halt. Werden die Wurzeln vernachlässigt, verliert man an Halt. Sie können jedoch wieder nachwachsen, wenn man ihnen die Zeit lässt. Ein „Wachstumsmittel“ kann die Spiritualität sein – das hat die vorliegende Untersuchung ergeben.
Was kann das nun für die Coaching-Branche heißen? Die gesellschaftliche Akzeptanz von „Spiritualität“ nimmt zu – im Privaten wie auch in der Wirtschaft. Wie lange wird dann die Trennung von privaten und beruflichen Themen im Coaching aufrechtzuerhalten sein? Werden dann auch vermehrt spirituelle Praktiken direkt im Coaching angewendet? Manche werden hier vielleicht zögern und Bedenken anmelden. Nur: Esoterik-Scharlatane wird es immer geben – genauso wie solche im Coaching. Hier wird es interessant sein, wie die Coaching-Weiterbildungsinstitute und Coaching-Verbände mit ihren Qualitätskriterien und Standards darauf reagieren werden. Wenn man den Menschen ganzheitlich betrachten will, braucht es auch vermehrt Coaches, die ganzheitlich denken.