Angesichts des demografischen Wandels, älter werdender Belegschaften und der statistisch betrachteten Zunahme psychischer Erkrankungen implementieren Unternehmen und öffentliche Arbeitgeber ein Gesundheitsmanagement und trainieren ihre Führungskräfte auf einen gesundheitsorientierten Führungsstil. Sie werden zu Wertschätzung und Achtsamkeit im Umgang mit Mitarbeitern wie auch zur Selbstfürsorge mit sich selbst angehalten. Damit hat der Begriff Achtsamkeit ins Management Einzug gehalten. Einige Unternehmen bieten gezielt Achtsamkeitskurse für ihre Beschäftigten und Führungskräfte an. Sie dienen der Stärkung der persönlichen Resilienz für die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit. Ein transformativer Ansatz ist damit in den seltensten Fällen intendiert.
In sozialen Einrichtungen gelingt es, so könnte man meinen, manchmal leichter, einen Zugang zu finden. So führte z.B. ein diakonischer Arbeitgeber für alle 160 Führungskräfte Workshops in „achtsamer Führung“ durch. Generell stellt sich allerdings die Frage, wie nachhaltig solche singulären Einzelveranstaltungen sind, wenn sie nicht durch Führungsdialoge, Intervision oder Coaching weiter im System verankert und verstetigt werden (Höher, 2014).
Die Coaching-Branche hat den Trend zu Gesundheit und Achtsamkeit im Business erkannt, viele Coaches haben ihr Profil in diese Richtung verändert. Achtsamkeit wird von denen, die auf diesen Trend aufspringen, meistens in den Kontext von Gesundheit, Stressreduktion und Resilienz gestellt.
Diese Verwendung des Achtsamkeitsansatzes im Zusammenhang mit Gesundheit und Jobfitness mag an einer gewissen Engführung des inzwischen auch in Deutschland weit verbreiteten MBSR-Ansatzes von Jon Kabat-Zinn liegen. Der US-amerikanische Molekularbiologe entwickelte eine sehr wirksame Kombination aus Meditationsübungen aus der Vipassana- und Zen-Tradition mit einfachen Yoga Übungen, um Schmerzpatienten, die unter extremem Stress leiden, zu helfen. MBSR ist inzwischen als Präventionsmaßnahme von den Krankenkassen anerkannt, wird von diesen bezuschusst und findet daher leicht seinen Platz in Angeboten zum Gesundheitsmanagement. Denn zahlreiche wissenschaftliche Studien haben die positiven Effekte im klinischen und alltäglichen Zusammenhang bestätigt.
Das ist gut, wertvoll und ein ausreichender Grund, um Achtsamkeitsmeditationen zu verbreiten. Doch wenn Achtsamkeit nur in den Zusammenhang von Wellness, Gesundheit und Genussfähigkeit gestellt wird, gehen wesentliche Aspekte verloren. Es macht sich das Missverständnis breit, als sei Achtsamkeit ein (leicht verkaufbares) Wohlfühlprogramm. Das wird dem Ansatz aber nicht gerecht, kann Enttäuschungen produzieren und sogar dazu führen, dass die Übenden abbrechen, sobald erste Schwierigkeiten auftreten oder weil der gewünschte Effekt sich erst nach Monaten des Übens einstellt. Nach einer Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig gibt es Hinweise, dass sich eine positive Veränderung der Symptomatik erst nach einem halben Jahr kontinuierlichen Übens einstellt (Singer, 2014). Das mahnt zur Vorsicht gegenüber den Verheißungen, die mit dem Modewort Achtsamkeit einhergehen.
Dass Achtsamkeit mehr als Wellness und Gesundheitspflege ist, erschließt sich, wenn man die Jahrtausende alten Traditionen des Buddhismus, aus denen heraus sie sich entwickelt hat, ernst nimmt. Nicht alle buddhistischen Lehrer, ebenso wenig wie christliche, begrüßen daher den westlichen Trend, Achtsamkeit in den Kontext von Gesundheitserhaltung, Resilienz und Employability-Förderung zu stellen, sehen sie doch zentrale Aspekte dabei verlorengehen.
Achtsamkeit ist integraler Bestandteil eines spirituellen Weges, auf dem es um die Entwicklung von Mitgefühl, Weisheit und tiefem Verstehen geht. Das ist aber nicht ohne disziplinierte langjährige Praxis stetigen Übens zu haben. Entgegen aller Versprechungen einer achtsamkeitsbasierten Wellnessbranche gehört, was niemand in einer Spaßgesellschaft gerne hören möchte, auch die Konfrontation mit dem Leiden dazu, auch dem durch eigenes Handeln ausgelösten. Achtsamkeit bedeutet zwar auch, möglichst vorurteilsfrei und offen im gegenwärtigen Augenblick präsent zu werden und sich weder von zukunftsgerichteten Erwartungen noch von aus der Vergangenheit resultierenden Ängsten und Vorannahmen beherrschen zu lassen. Viele Achtsamkeitsanbieter vermarkten dieses nicht wertende Verweilen im gegenwärtigen Moment als Königsweg zur Entspannung und psychischen Gesundheit. Damit verschließen sie sich aber zugunsten postmoderner Beliebigkeit einer ethischen Haltung und ethisch motivierten Einmischung.
Für einen Coach liegen jedoch genau an dieser Stelle erkenntnisreiche Herausforderungen, die immer wieder eigene Wege und Werte in Erinnerung rufen und die Überprüfung ihrer Angemessenheit erforderlich machen. Andernfalls könnte man mit Theodor Adorno fragen: „Was nützt einem Gesundheit, wenn man sonst ein Idiot ist?“
Ein spiritueller Weg der Achtsamkeit führt weiter als nur bis ins Verweilen im gegenwärtigen Moment, auch wenn der permanent neu herzustellende Prozess des nicht wertenden Hier-Ankommens bereits ein immenser Schritt ist, der zu Entlastungen führt. Demel und Wolf-Doettinchem (2014) haben das vor dem Hintergrund einer buddhistischen Philosophie bereits dargelegt: Es geht in der Konsequenz von Achtsamkeitspraxis letztlich darum, sich die Folgen des eigenen Denkens, Sprechens und Handelns im System bewusst zu machen und es an ethischen Grundsätzen zu orientieren, also Zukünftiges einzubeziehen. Grundlegend dafür ist die Erfahrung der Verbundenheit.
Vor diesem Hintergrund ermöglicht Achtsamkeit, klar wahrzunehmen und zu entscheiden, wann Aktion, Entscheidung oder Konfrontation anstehen und auch so – lebensdienlich und respektvoll gegenüber der Dynamik von Systemen – zu handeln. Achtsamkeit öffnet dafür, bewusst und souverän zwischen einem Modus des Verbunden-Seins und einem des Getrennt-Seins und Unterscheidens, zwischen Handeln und Nicht-Handeln, Passivität und Aktivität flexibel und intentional wechseln zu können. Sie erschöpft sich nicht in einer so weit wie möglich vorurteilsfreien Wahrnehmung dessen, was ist, und einem (manchmal regressiven) Erleben von Verbundenheit, sondern integriert auch die Fähigkeit des Geistes zu unterscheidendem, analytischem und urteilendem ebenso wie zu vernetzendem Denken.
Wenn wir das Leben als Prozess verstehen, integriert eine achtsame Wahrnehmung neben Gegenwart und Zukunft auch die Vergangenheit, indem sie einen liebevollen Blick auf unser So-geworden-Sein und kulturelle Prägungen und auf die darin angelegten Potenziale richtet sowie auf die durch Traumata hervorgebrachten biografischen Begrenzungen und ihre Kontexte. Das ist Teil einer Achtsamkeitspraxis, die zu mehr Bewusstheit und innerer Reifung führt, und zwar in biografischer und holistischer, auf das Ganze gerichteten Perspektive.
Achtsamkeit in holistischer Perspektive integriert:
Diesen hohen Anspruch in Coaching und Beratung zu integrieren und zu leben, ist ein breites Experimentierfeld und bedarf neben eigener Meditationspraxis eines kollegialen und interdisziplinären Austauschs, um geeignete Interventionen zu entwickeln, zu erfahren und zu evaluieren. „Nur“ zu meditieren, kann kein überzeugendes Angebot für Manager sein, die sich „im System gefangen“ fühlen ( Jumpertz, 2015).
Eine beachtliche Anzahl von Führungskräften ist mit der Art, wie heute Führung praktiziert wird, nicht einverstanden. Es werden auch grundlegende Zweifel an unserem Wirtschaftssystem geäußert. Ein fundamentaler Paradigmenwechsel in Richtung Nachhaltigkeit, Verbundenheit (Netzwerke) und Wertschätzung ist gewünscht. Wie kann der Einzelne, wie können Systeme sich in diese Richtung bewegen und welche Vorgehensweisen in Coaching und Beratung können diesen Prozess unterstützen?
Aus der Therapie- und Coaching-Community sind wertvolle, achtsamkeitsbasierte Wege eröffnet worden, die sich an Einzelpersonen wenden (Dehner, 2015; Mohr, 2014). Noch wenig entwickelt ist eine organisationale Perspektive. Erste Ansätze finden sich in der Forschung zu „Organisationaler Achtsamkeit“ (Universität Bremen) und Überlegungen, die auf Sutcliffe & Weick (2003) zurückgehen (Becke et al., 2013): Demnach ist organisationale Achtsamkeit eine systematische (auch durch Coaching zu fördernde) Offenheit für bisher ungenutzte Innovationspotenziale und für emergente, nicht intendierte Nebenfolgen von Handlungen und Entscheidungen. Sie meint eine erhöhte Sensibilität vor allem im Hinblick auf die betriebliche Sozialintegration (Sozialkapital), die Arbeitsqualität, aber auch die Bestands- und Wettbewerbsfähigkeit und die „Verlässlichkeit von Unternehmen“. Die zentralen, einen „mindful change“ tragenden Ressourcen sind Dialog und Vertrauen.
Allerdings klafft zwischen individueller Achtsamkeitspraxis und organisationalen Transformationsprozessen noch eine Lücke. Sie kann letztlich nur handelnd überwunden werden.
Die „Theorie U“ von Scharmer (2009), so sei hier angeregt, könnte dazu beitragen, diese Kluft zu schließen. Dieser Ansatz geht, indem er Handlungsforschung integriert, weit über individuelle Awareness-Übungen und Anleitungen zum Selbst-Coaching hinaus. Sein Ziel ist es, handelnd Neues in die Welt zu bringen, Veränderungsvorhaben zu entwerfen und Transformationsprozesse zu unterstützen. Von zentraler Bedeutung ist zunächst eine Veränderung in der Aufmerksamkeitslenkung bzw. eine Öffnung des Bewusstseins weg von gewohnheitsmäßigen Mustern hin zu offener Wahrnehmung, die auch Zukünftiges integriert.
Im ersten Schritt geht es darum, aus der Vergangenheit resultierende, sich reproduzierende Wahrnehmungsmuster, die wir automatisch „downloaden“, zu erkennen und durch möglichst vorurteilsfreies, nüchternes Beobachten der Realität („seeing“) zu ersetzen. Dieses Vorgehen beinhaltet, Bewertungen und Vorannahmen „in der Schwebe zu halten“, anstatt ihnen automatisch zu folgen. Diese Fähigkeit kann in Coaching und Meditation trainiert werden, als kollektiver Prozess gründet sie jedoch im Dialog, einer Disziplin des gemeinsamen Denkens (Isaacs, 2002).
Im nächsten Schritt bezieht die Beobachtung die selbstreflexive Wahrnehmung der eigenen Wertungen und Bewertungen („unconscious biases“) und Perspektivenwechsel ein. Die Situation wird aus dem Ganzen und aus Perspektive der verschiedenen Akteure heraus erlebt und erspürt („sensing“). Hier sind Dialog, dialogische Interviews mit Stakeholdern und Feldforschungsaktivitäten zur Erkundung sozialer Praxis geeignete Vorgehensweisen.
Darüber hinausgehend öffnet sich die Aufmerksamkeit den in der Situation angelegten zukünftigen Möglichkeiten („presencing“). Oftmals sind das Loslassen von Vorannahmen, Interessen, Befürchtungen und Motivlagen sowie eine „innere Umkehr“ dafür notwendige Voraussetzungen. Das kann in Meditation geübt werden. Durch regelmäßige Meditationspraxis kann sich das Erleben einer ganzheitlichen Verbundenheit als Basis für ethisches Handeln entwickeln und eine Umkehr der Wahrnehmung, verbunden mit einer neuen Einschätzung der Situation, einleiten. Hier gilt es, inneres Wissen entstehen zu lassen und der Intuition zu vertrauen.
Auf der Basis wacher Präsenz und offener Wahrnehmung können sich aus dem so entstandenen Möglichkeitsraum heraus neue Ideen und Visionen für eine bessere Zukunft bilden. Hier gilt es, sich in wacher Aufmerksamkeit inspirieren zu lassen und sich mit der in der Situation angelegten Intention zu verbinden, den Veränderungsimpuls aufzunehmen sowie Ahnungen und Ideen von Möglichem gedanklich zu konkretisieren, zu verdichten und zu versprachlichen („crystallizing“).
So entstehen Prototypen für das Neue, die im nächsten Schritt handelnd im sozialen Feld erprobt werden sollen („prototyping“). Die Herausforderung ist dabei, a) mit der Intention verbunden zu bleiben und die Motivation für Veränderung aufrecht zu erhalten; b) zugleich auf das Feedback zu hören, das sich aus dem sozialen Feld ergibt, in dem das Neue ausprobiert wird, und c) die Situation (und die Menschen) in ihrer Ganzheitlichkeit als Partner des Neuen zu würdigen, d.h. auch, Tradition und Geschichte anzuerkennen. Die Unterstützung in einer Gruppe ist hierbei unverzichtbar, ebenso ist eine Begleitung durch Coaching hilfreich.
Das Vorgehen mündet konsequenter Weise letztlich in einem achtsamen Change-Prozess („mindful change“), denn im nächsten Schritt gilt es, Prototypen des Neuen in der Organisation zu verankern, zu verstetigen und dafür die nötige Infrastruktur zu schaffen („performing“). Auch hier bedarf es (neben klassischen Instrumenten des Change-Managements) eines Unterstützungsteams sowie einer kontinuierlichen Praxis in Achtsamkeit (Meditation) und, so die Empfehlung, tägliches Üben an einem Ort der Stille (Scharmer, 2009).
Grundlegende Vorgehensweisen im Zuge dieses Prozesses sind:
In der „Theorie U“ verbinden sich also Achtsamkeitspraxis (Meditation, Dialog) mit Erkenntnisprozessen (Aktionsforschung, Dialog), Lern- und Entwicklungsbeziehungen (Learning Communities) und Handeln (Aktionsforschung, „mindful change“). Achtsamkeit unterstützt hierbei Veränderungsprozesse und ist mit sozialer Praxis vermittelt.
Für den U-Prozess wie für holistic leadership tragend ist eine Öffnung des Kopfdenkens, des Herzdenkens und des Willens. „Kopfdenken“ meint die Fähigkeit, intellektuell und analytisch sauber zu arbeiten. Das ist ein Aspekt organisationaler Achtsamkeit, der im Management unverzichtbar ist, z.B. zur Fehleranalyse. „Herzdenken“ meint emotionale Intelligenz, ohne die Leadership nicht auskommt. Die „Öffnung des Willens“ zielt auf die Überwindung egozentrierten Denkens mithilfe spiritueller Intelligenz ab und lädt dazu ein, ein Subjekt, eine Gemeinschaft, eine Organisation zu entwerfen, die wir in Zukunft sein wollen.
Was aber bewirkt im Vergleich dazu ein gesundheits- und emloyability-orientierter Ansatz von Achtsamkeit unter dem Diktat von Leistungssteigerung für auf Transformation abzielende Prozesse? Anschlussfähig sind die beiden Welten Achtsamkeit und Business an gewünschtes systemtransformierendes Handeln nur vor dem Hintergrund eines erweiterten Gesundheitsverständnisses entsprechend der Weltgesundheitsorganisation, nach dem es nicht nur um körperliches und geistiges, sondern auch um soziales Wohlbefinden geht. So verstanden, umfasst Gesundheit ein stabiles Selbstwertgefühl, ein positives Verhältnis zum Körper und die Fähigkeit zu Freundschaften und sozialen Beziehungen.
In diesem Sinne können Achtsamkeitsübungen die Gesundheit fördern. Hinzu kommen aber eine intakte Umwelt, sinnvolle Arbeit und gesunde Arbeitsbeziehungen, Gesundheitswissen und Zugang zu Gesundheitsversorgung sowie eine lebenswerte Gegenwart und begründete Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Und hier ist auch die Gestaltungsmacht von – hoffentlich achtsamen – Führungskräften, Politik und zivilgesellschaftlichen Akteuren gefordert, von Gruppen und Menschen, die sich einmischen und unterstützen, um eine lebenswerte Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.
Ein umfassendes Gesundheitsverständnis im o.g. Sinne wird jedoch selten reflektiert, wenn Achtsamkeit im Kontext von Gesundheit auftaucht. Es würde konsequenter Weise zu einem Sich-Einmischen auf dem Hintergrund von Werturteilen und ethisch begründeten Entscheidungen führen.
Coaching sollte Führungskräfte darin unterstützen, in dysfunktionale Verhältnisse zugunsten von Nachhaltigkeit und Entwicklungschancen einzugreifen und den von ihnen mehrheitlich gewünschten Paradigmenwechsel in der Führung mit eigenen Prototypen des Handelns zu befördern. Achtsamkeit ist dafür gut und wichtig, doch nur unter der Voraussetzung, dass sie mit Lernen und Handeln verknüpft wird, kann sie durch holistische Führung transformative Prozesse unterstützen.