In der deutschsprachigen Beratung und Psychotherapie ist seit gut einem Jahrzehnt ein „spiritual turn“ zu beobachten. Nachdem die Bereiche der Religiosität und Spiritualität jahrzehntelang übergangen und zum großen Teil tabuisiert wurden, findet zunehmend eine professionelle Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen des Menschseins und ihrem angemessenen Platz in der helfenden Beziehung statt. Dabei gilt es zuerst, die theoretischen und kulturellen Vorverständnisse zu reflektieren und das eigene Menschenbild transparent zu machen, weil diese „Brillen“ die jeweiligen Beratungskonzepte maßgeblich geprägt haben. Ein „spirituelles Coaching“, das Kontakt zu jenseitigen Wesenheiten und „Erleuchtung“ durch spiritistische Trance in Aussicht stellt, ist ebenso unprofessionell wie die dogmatische Abwehr religiöser oder spiritueller Bedürfnisse und Erwartungen eines Ratsuchenden.
Auf den ersten Blick scheinen Spiritualität und Religiosität nichts mit der Arbeitswelt und der Personalentwicklung zu tun zu haben. Treffen hier nicht zwei unvereinbare Welten aufeinander? Wo berührt sich die konsumgesteuerte Welt der Gewinnmaximierung mit der meditativen Welt des still betrachtenden Geistes? Während die materielle Welt von den Prinzipien der Leistung, des Wettbewerbs und harter ökonomischer Gesetze beherrscht wird, gehören in der geistigen Welt inneres Wachstum, Vertrauen und Loslassen zu den wesentlichen Zielen.
Allerdings setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass auch in der Arbeitswelt Werte, die Moral und das menschliche Grundbedürfnis nach Sinn und Bedeutung relevant sind. Zahlreiche Indizien weisen auf den gestiegenen Bedarf an ethisch-moralischer Orientierung hin. Deshalb sind religiös-spirituelle Ratgeber unterschiedlichster Provenienz – von christlichen über esoterische bis zu buddhistischen Ratgebern – zu Bestsellern geworden. Umfragen belegen, dass im Zuge des Wertewandels Reichtum und Besitz ihr Monopol als höchstes Gut verloren haben. „Mit Geld kann man kein Glück einkaufen“, lautet eine viel zitierte Wahrheit.
Nach Einschätzung von Kulturwissenschaftlern erzeugt die Lebensmaxime „Konsumismus“ mittelfristig ein Sinnvakuum. Die subjektive Lebenszufriedenheit speist sich nämlich schon lange nicht mehr aus materiellem Reichtum oder Besitz. Gerade in der jüngeren Generation werden heute Selbstbestimmung und Geborgenheit in sicheren sozialen Beziehungen als die wichtigsten Lebensziele verfolgt. Hier kommen existenzielle Fragen und spirituelle Bedürfnisse zum Vorschein, die auch im Rahmen eines professionellen Coachings zum Thema werden können. Insofern sollten Berater vorbereitet sein, fachlich versiert mit Sinnfragen und spirituellen Bedürfnissen umzugehen.
Eine wesentliche Voraussetzung für eine Einbeziehung von Spiritualität im Coaching sollte darin bestehen, dass der Klient selbst diesbezügliche Fragen einbringt und stellt. Viele Coachings werden den spirituellen Bereich nicht berühren. Aber wenn Sinnfragen virulent sind, durch einen Trauerprozess die Arbeitskraft eingeschränkt ist oder ethische Konflikte belastend wirken, darf ein professionelles Coaching diesen Fragen nicht ausweichen.
Hier können Anregungen aus der Psychotherapie hilfreich sein. Die britische Fachgruppe „Psychiatrie und Spiritualität“ im „Royal College of Psychiatrists“ hat 2011 ein Positionspapier zum professionellen Umgang mit Spiritualität verabschiedet. Darin verpflichten sich die Mitglieder, den religiösen oder spirituellen Bindungen ihrer Patienten mit einfühlsamer Achtung und Respekt zu begegnen. Klinisch Tätige sollen keine religiösen oder spirituellen Rituale als Ersatz für professionelle Behandlungsmethoden anbieten. Es wird aber auf die Bewältigungskraft von Spiritualität hingewiesen, durch die Hoffnung und Sinn vermittelt werden können. Zwischen den beiden zuletzt genannten Punkten besteht ein Spannungsverhältnis. Keinesfalls sollen spirituelle Methoden das professionelle Handwerkszeug ersetzen. Unbestritten ist aber die Bewältigungskraft von positiver Spiritualität, deren Bedeutung in der Psychotherapie zunehmend erkannt wird. Dort sind klassisch religiöse Haltungen wie Achtsamkeit, Vertrauen oder Dankbarkeit therapeutisch adaptiert worden, um sie im Beratungsprozess nutzbringend anzuwenden.
Auch in einem Coaching kann die persönliche Suche nach Sinn oder das Eingebundensein in einen größeren Zusammenhang zum Thema werden. Allerdings versagen hier die klassischen beraterischen Hilfsmittel. Existenzielle Fragen können nicht wissenschaftlich, sondern nur „gläubig“ beantwortet werden. Eine Weltanschauung liefert eine Deutungsfolie und einen Sinnhorizont, die Trost, Hoffnung und Halt angesichts der Absurditäten und des Leidvollen dieser Welt anbieten. Allerdings erfordert die Vielfalt der Sinnangebote in einer pluralistischen Gesellschaft die Festlegung auf eine Variante, um durch ihre spirituelle Praxis und Rituale konkrete Bewältigungshilfe zu erleben.
Neben der Voraussetzung, keine professionelle Methode ersetzen zu wollen, ist als zweite Voraussetzung für eine legitime Einbeziehung von Spiritualität die weltanschauliche Transparenz zu nennen. Es ist nützlich, den religiös-spirituellen Hintergrund eines Coaching-Anbieters zu kennen. Normalerweise wird ein Klient sich einen Anbieter mit ähnlichem Weltbild aussuchen, weil die Weltbild-Passung das Arbeitsbündnis stärkt und im Fall von existenziellen Fragen das gemeinsame Weltbild die Verständigung erleichtert. Die gleichen Werte und ethischen Prinzipien erleichtern einen Coaching-Prozess, deshalb sollten sie im Vorgespräch transparent gemacht werden.
Die Sehnsucht nach existenzieller Orientierung und spiritueller Führung ist in unserer komplexen, pluralistischen Gesellschaft angewachsen. Dieses Klima ist allerdings ein willkommener Nährboden für esoterische Heilsversprechen und spirituelle „Meister“. Die Klärung und Transparenz der beraterischen Rolle und Haltung sind ohne Zweifel der Dreh- und Angelpunkt bei der Bewertung spirituell offener Angebote.
Die sorgfältig ausgearbeiteten Berufsethiken des Psychotherapeuten und der Berater wollen insbesondere die spezifische therapeutischberaterische Beziehung schützen – ein Berater kann und darf kein Guru sein! Nimmt man jedoch die aktuellen klinischen Studien aus den USA zur Einbeziehung spiritueller Methoden in die Psychotherapie zur Kenntnis, lässt sich die allzu einfache Unterscheidung in spirituelle und wissenschaftliche Methoden nicht halten. In den USA beziehen nämlich je nach Untersuchung zwischen 30 und 90 Prozent der befragten Therapeuten spirituelle Interventionen wie Gebete o.ä. Rituale mit ein.
In einer Meta-Analyse haben amerikanische Forscher 46 durchgeführte Studien zu den Wirkungen religiös adaptierter Behandlungen und spiritueller Therapien verglichen und ausgewertet. Als klinische Fallbeispiele werden dafür eine christliche kognitive Therapie bei einer depressiven Störung, eine buddhistische Selbst-Schema-Therapie bei einer Suchterkrankung, eine christliche Vergebungstherapie und eine muslimische kognitive Therapie bei einer Angststörung dargestellt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass religiös-spirituelle Psychotherapie nachweislich sowohl psychologische als auch spirituelle Wirkungen zeigen. Allerdings weisen sie darauf hin, dass ein einfaches Hinzufügen religiöser und spiritueller Elemente zu einer etablierten säkularen Psychotherapie keine messbaren Verbesserungen zeigen würden. Die höchste Wirksamkeit religiöser und spiritueller Interventionen lässt sich bei hoch religiösen und spirituellen Patienten nachweisen (Utsch et al., 2014).
Seit dem letzten Jahr gibt der amerikanische Psychologenverband (APA) die Fachzeitschrift „Spirituality in Clinical Practice“ heraus, die spirituell geprägte klinische Interventionen wissenschaftlich untersuchen und prüfen. Eine kultur- und religionssensible Beratung und Psychotherapie erfordert deshalb die Weiterentwicklung der Berufsethik, wenn neue Fakten vorliegen. Hierzu müssen aber auch europäische Daten untersucht und ausgewertet werden, weil die amerikanische Religionskultur unter völlig anderen Bedingungen entstanden ist.
An der Schnittstelle von Coaching und Spiritualität sind noch viele Fragen ungeklärt. Erste Masterarbeiten zu diesem wichtigen Thema sind erschienen (siehe Winter, 2012 oder Fiedler, 2013). Es ist zu wünschen, dass bei der Weiterentwicklung des Coachings die Gradwanderung zwischen dem Klientenschutz und den Möglichkeiten einer Nutzung empirisch geprüfter Ressourcen positiver Spiritualität – sofern bei dem Klienten vorhanden – in die Beratung gelingt. Dazu sind mehr religionspsychologische Forschung und entsprechende Weiterbildungen nötig.