Selbstreflexion wird im Rahmen der Aus- und Weiterbildungen zum Coach in vielerlei Hinsicht gefordert und vorausgesetzt. Hat die Selbstreflexion von Coaches Auswirkungen auf die Arbeit mit Klienten? Die Bedeutung von Selbstreflexionsprozessen bei Coaches ist nicht hinreichend erforscht. Erste Hinweise liefert die hier vorliegende qualitative Untersuchung.
Eidenschink (2010) erläutert in seinen Ausführungen, dass eine Auseinandersetzung mit sich selbst für Coaches elementar sein sollte und eine wichtige Kompetenz darstellt. Er ist der Auffassung, dass diese Kompetenz nicht mithilfe von Büchern, einzelnen Workshops oder allein durch Erfahrung erlernbar sei. Wenn man seiner Meinung nach Coach werden möchte, sei es erforderlich, sich auf einen längeren persönlichen Entwicklungsprozess einzulassen. Er geht mit seinen Ausführungen sogar noch weiter und schreibt, dass Menschen, die bislang wenig Unterstützung bei ihrer "seelische[n] Selbsterfahrung" erfahren hätten, bei einer kurzen Qualifizierungsmaßnahme zum Coach Gefahr liefen, zu einem "Beratungstechniker und einem unaufgeklärten Manipulator" (ebd.; 3) zu werden.
Eine Begründung für seine Ausführungen liefert er durch die Argumente, dass die eigenen Ängste auf den Klienten übertragen würden und die unbewussten Ängste des Klienten nicht wahrgenommen werden könnten. Seiner Meinung nach sorgt eine selbstreflexive Auseinandersetzung dafür, dass Coachings nicht an der Oberfläche bleiben und ein Coaching dadurch mehr darstellt als die "schablonenhafte Anwendung" (ebd.) von Beratungstechniken.
Unbestritten sind der Wunsch und die Forderung nach Selbstreflexionserfahrungen für Coaches. Durch die vielen Vorgaben der Berufsverbände, wie ein Coach qualifiziert sein muss, werden Qualitätsmerkmale transparent und auch vermehrt kommuniziert. Die Bemühungen der Berufsverbände tragen erheblich dazu bei, dass eine Professionalisierung der Coaching-Branche näher rückt, es fehlen jedoch eindeutige wissenschaftliche Belege und Zusammenhänge.
Zentraler Aspekt der vorliegenden qualitativen Untersuchung ist die Frage, welche Bedeutung Selbstreflexionsprozesse für Coaches haben. Selbstreflexionsprozesse sind schwer zu erheben und auch die Auslöser für diese sind nach Greif (2008) nicht hinreichend erforscht. Mehrere Autoren weisen auf den erheblichen Komplexitätsgrad von Selbstreflexionsprozessen hin (u.a. Dörner, 1994; Tisdale, 1998; Offermanns, 2004).
Die Literaturrecherche hat ergeben, dass Entstehung, Bedeutung und Weiterentwicklung von Selbstreflexionsprozessen bei Coaches tatsächlich wenig erforscht und analysiert worden sind. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund interessant, dass eigene Selbstreflexionserfahrungen ein selbstverständlicher Bestandteil der Coaching-Ausbildungen sind.
Für die vorliegende Masterthesis wurden sechs Coaches (drei weibliche und drei männliche) aus Deutschland ausgewählt, die aufgrund einer Mitgliedschaft in einem Berufsverband in verschiedenen Datenbanken registriert sind oder eine eigene Internetpräsenz besitzen. Die Teilnehmer unterscheiden sich u.a. bezüglich ihres Ausbildungshintergrundes und der Arbeitsschwerpunkte. Für das vorliegende Forschungsvorhaben wurde die Methode der biografischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal (2011) modifiziert und bildet die Auswertungsgrundlage für das gewonnene Datenmaterial.
Die befragten Coaches haben ihren eigenen Selbstreflexionsprozessen unterschiedliche Bedeutungen beigemessen. Zentrales Ergebnis der Interviews ist, dass Selbstreflexion die Handlungsspielräume erweitern kann und dieser Umstand sowohl beruflich als auch privat Konsequenzen bewirkt. Die Konstruktion von Selbstreflexion hat Einfluss auf die Arbeit mit Klienten und legitimiert die eigene Arbeits- und Herangehensweise im Umgang mit diesen. Das bedeutet, je nachdem wie der Coach Selbstreflexion konstruiert und welche Bedeutung er dieser beimisst, wirkt sich dies auf den Klienten im Coaching-Prozess aus.
Eine auffallende Gemeinsamkeit in allen Interviews ist die Betonung darauf, dass Selbstreflexion ein selbstverständlicher Bestandteil der Ausbildung zum Coach sei und Selbstreflexionserfahrungen an Ausbildungskontexte gekoppelt werden müssten. Das Erlernen der Methoden und Tools in der Ausbildung ist eng mit selbstreflektorischen Prozessen verbunden. Das geforderte Ausprobieren der Methoden führt zur Auseinandersetzung mit persönlichen Fragestellungen und einem intensiven Erleben.
Coaching-Tools anwenden zu können setzt voraus, sie selbst an eigenen Fragestellungen ausprobiert zu haben. Da die verschiedenen Techniken und Herangehensweisen im Coaching in der Regel Selbstreflexionsprozesse hervorrufen und fördern sollen, ist die Erprobung dieser ohne Selbstreflexion nicht möglich. Hier findet sich ein wichtiger Hinweis für die Ausbildungskontexte. Es bestätigt sich, dass Selbstreflexion als wertvolles Element in der Ausbildung wahrgenommen und genutzt wird.
Tragers (2008) Ausführungen bieten an dieser Stelle nützliche Hinweise: Für die Aktivierung von Selbstreflexionsprozessen ist es hilfreich, einen geeigneten äußerer Rahmen zu schaffen, der Schutz bietet. Dabei ist eine Unterstützung durch professionelle Coaches, Berater oder Supervisoren zu gewährleisten.
Alle Interviewteilnehmer betonen, dass Selbstreflexion umfassende positive Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens habe und eingreifende berufliche und private Veränderungen hervorrufe. Selbstreflexion bereichere das Leben und erweitere die Handlungsspielräume. Laut Dörner (1994) wird freies Handeln erst durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion möglich.
Gegenstand der Selbstreflexion ist laut Greif (2008) das individuelle Selbstkonzept eines Menschen und setzt das Verstehen der beiden Aspekte "ideales" und "reales" Selbstkonzept voraus. In diesem Verständnis ist es schlüssig, dass Veränderungen im Zuge von Selbstreflexion sich nicht auf den beruflichen Bereich beschränken, sondern die ganze Person umfassen. Für alle Interviewteilnehmer findet Selbstreflexion im Austausch, im Kontakt mit anderen statt. Feedback wird als hilfreich und als wichtiger Auslöser für Selbstreflexionsprozesse wahrgenommen. Greif (2008) weist darauf hin, dass es durch Rückmeldungen zur Ergänzung der eigenen Wahrnehmungen kommt und diese in das Selbstbild integriert werden können.
Auch bei der Integration von Selbstreflexionserfahrungen in das Coaching finden sich Gemeinsamkeiten. Alle sind der Meinung, dass ein Coach, der nicht reflektiert, nicht in das Arbeitsfeld gehört. Hier schließen die dargestellten Ausführungen von Eidenschink (2010) an. Er führt u.a. aus, dass eine selbstreflexive Auseinandersetzung dafür sorgt, dass Coachings über eine exakte Anwendung von Techniken hinausgehen und nicht an der Oberfläche bleiben.
Auch Tragers (2012) Einschätzung unterstreicht die Meinung der Interviewten. Um Veränderungen herbeizuführen, muss durch Selbstreflexion das "Selbst-Gewahr-Werden" der eigenen Muster gefördert werden. Wenn die Erkenntnis eingetreten ist, können alternative Denk- und Handlungsmuster ausprobiert werden. Dadurch erweitert sich das persönliche Repertoire und Lösungen können herbeigeführt werden.
Die in den Niederlanden für Professionalisierung selbstverständlich vorausgesetzte Reflexionsfähigkeit kann ebenfalls zur Untermauerung der Aussage der Interviewteilnehmer dienen. Dilger (2007) formuliert, dass ein nicht reflektierter Coach in starren Handlungsmustern agiert, die nicht situativ angepasst werden können; für die Coaching-Praxis kein wünschenswerter Zustand.
Abschließend eine Quintessenz der Interviews, die die Bedeutung von Selbstreflexionsprozesse für Coaches zum Ausdruck bringt: Ein Coach, der durch Selbstreflexion hervorgerufene Erfahrungen gemacht hat, traut sich, Menschen durch schwierige Prozesse zu begleiten: eine hilfreiche Voraussetzung für erfolgreiches Coaching.
Die Ergebnisse der Arbeit bieten einen Anreiz für die wissenschaftliche Diskussion innerhalb der Coaching-Branche und tragen zu einer Professionalisierung der Berufssparte bei. Auf der Grundlage der Ergebnisse können weitere Forschungen generiert werden, welche z.B. die Wirkung von Selbstreflexion bei Coaches auf den Coaching-Prozess untersucht. Daraus können Konsequenzen für die Arbeit im Einzel-Coaching oder auch mit Gruppen abgeleitet werden. Dies könnte dazu führen, dass bisherige Ausbildungsprogramme angepasst werden oder neue Erkenntnisse vermehrt in Ausbildungskonzepte integriert werden.
Die eigene Konstruktion von Selbstreflexion ist bedeutsam für die Arbeit mit Klienten und legitimiert demnach die eigene Arbeits- und Herangehensweise. Eine Konsequenz aus diesem Ergebnis könnte lauten: Je nachdem, wie ein Coach Selbstreflexion konstruiert und welche Bedeutung er dieser beimisst, erlebt der Klient das Coaching. Diese Wechselwirkung müsste in weiteren Studien nachgewiesen werden, indem z.B. Experimente mit oder Videoanalysen bei Coaches und Klienten durchgeführt werden, um einen Zusammenhang aufzuzeigen.
In der theoretischen Auseinandersetzung zum Thema Selbstreflexion werden von einigen Autoren (z.B. Greif, 2008; Trager, 2012) auch Vermeidungstendenzen und -strategien angeführt. Diese Aspekte spielen zwar in der vorliegenden Arbeit keine primäre Rolle, bezogen auf die Ergebnisse können dennoch Konsequenzen für Ausbildungsstrukturen hergeleitet werden. Das Risiko bei unangenehmen Selbstreflexionserfahrungen besteht darin, dass Coaches die Förderung von Selbstreflexionsprozessen bei den Klienten aus Angst vor den Konsequenzen vernachlässigen oder gar vermeiden.
Des Weiteren können bei eigenen unangenehmen Erfahrungen mit Selbstreflexion auch Zweifel an der Wirksamkeit entstehen. Diese Umstände sprechen für einen sehr sorgfältigen, behutsamen und geschützten Umgang damit in den Ausbildungen. Es muss ein gewisser Schutz gewährleistet sein, um Selbstreflexionsprozesse in Gang zu bringen.
Aus diesem Grund sind weitere qualitative Forschungen nötig, um die Plausibilität von Selbstreflexion in Coaching-Ausbildungen zu legitimieren und es müssen vor allem die Ziele von Selbstreflexion deutlicher werden, besonders in den Ausbildungskontexten. Diese Umstände könnten erheblich dazu beitragen, den Begriff Coaching zu schützen und eine Professionalisierung voranzutreiben. Wenn Selbstreflexion notwendige Voraussetzung für die Ausbildung zum Coach ist, kann auch der Umstand, dass Coaching-Ausbildungen z.B. an Hochschulen angeboten werden, in Frage gestellt werden. Ist der Hochschulkontext ein geeigneter, geschützter Kontext für die Qualifizierung von Coaches im Hinblick auf die Förderung von Selbstreflexionsprozessen? Die Struktur der Ausbildung muss dementsprechend zu den geforderten Anforderungen passen oder der Anspruch und die Anforderungen werden den Möglichkeiten angepasst.
Ein wichtiger Gegenstand zukünftiger Forschungen ist die Frage nach der Wirkung von Selbstreflexion bei Coaches auf den Klienten. Das vorliegende Forschungsergebnis belegt eindeutig den selbst empfundenen Nutzen von Selbstreflexion für den Coach und das Coaching, deshalb ist eine Verbindung zu den Nutzern, also den Klienten, sinnvoll. Die Fragestellung der Forschungsarbeit zielt auf sehr individuelle Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht. Diese werden zu einer Realität, die einzigartig ist und von anderen Personen nie vollständig verstanden werden kann.
Dieser Aspekt belegt weiter die Schwierigkeit des Forschungsvorhabens. Im Sinne der Professionalisierung von Coaching sind weitere valide und zuverlässige Ergebnisse aus Forschungen wünschenswert, die sich unterschiedlicher Verfahren bedienen und verschiedene Methoden miteinander verbinden.
Der Artikel beruht auf den Ergebnissen der Master-Thesis im Rahmen des Masterstudienganges "Beratung in der Arbeitswelt - Coaching, Supervision und Organisationsberatung" (Master of Arts) an der Fachhochschule Frankfurt am Main.