Portrait

Interview mit Rita Strackbein

Organisations-Coaching braucht Offenheit und Transparenz

Rita Strackbein ist mit den Realitäten in deutschen Unternehmen vertraut. Als Coach begleitet die Wirtschaftswissenschaftlerin Organisationen bei der Anpassung von Arbeitsprozessen und -abläufen an die Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Dem Führungskräfte-Sparring komme hierbei eine wichtige Rolle zu. Gleichwohl gelten im Organisations-Coaching, bei dem die Wechselwirkung von Organisation und Mensch im Zentrum steht, andere „Regeln“ als im Rahmen individueller Coachings. Statt Vertraulichkeit sei eine Atmosphäre der vertrauensvollen Offenheit und ehrlichen Auseinandersetzung erforderlich.

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2018 am 09.05.2018

Ein Gespräch mit David Ebermann

Ihre Kernkompetenz rankt sich rund um den Bereich der Führung. Mit welchen Fragestellungen sind Sie aktuell besonders häufig konfrontiert?

Konfrontiert bin ich mit den Auswirkungen der sogenannten VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), von der wir aktuell auch eine Menge lesen, denn diese hat bereits bei vielen Kunden Einzug gehalten. Zu beobachten ist, dass die Komplexität in den Unternehmen steigt, und auch Unberechenbarkeit, Ungewissheit sowie Mehrdeutigkeit stellen Führungskräfte vor große Herausforderungen. Gleichzeitig haben wir in den Unternehmen einen hohen Auftragsdruck. Die Auftragsbücher sind voll und das bedeutet viel Arbeit.

Ich habe dafür eine Metapher: Während der vollen Fahrt sollen am Auto noch die Reifen gewechselt werden. Das ist mitunter recht schwierig. In Produktionsunternehmen stehen beispielsweise die Kennzahlen – z.B. Liefertreue – im Vordergrund. Wenn Prozesse und Strukturen verändert bzw. angepasst werden, um den VUCA-Herausforderungen zu begegnen, geht das aber meistens nicht, ohne dass sich Kennzahlen zunächst verschlechtern. Die Führungskräfte zeigen dann eine hohe Einsatzbereitschaft und versuchen, durch Fleiß und Mehrarbeit viel zu kompensieren, die Anforderungen des Unternehmens und die der Mitarbeiter in Einklang zu bringen, aber sie kommen dabei einfach an die Grenzen ihrer persönlichen Belastbarkeit.

Durch die steigende Komplexität in den Unternehmen sind viele Probleme nicht mehr mit den alten Führungsinstrumenten und früherem Führungsverhalten lösbar. Hier stellt sich die Frage, ob Führungskräfte im oder am System arbeiten. Operativ mitzuwirken, ist gut gemeint, aber das löst eben die Probleme nicht.

Wie haben sich die Anliegen Ihrer Klienten konkret verändert?

Verändert hat sich Folgendes sehr deutlich: Während bekannte Führungsinstrumente noch vor ein paar Jahren relevant waren, steht heute die Problemlösungskompetenz stark im Fokus. Um dies zu verdeutlichen, benutze ich gerne eine weitere Metapher, die der Seerosen: Oben auf dem See sehen Sie eine Menge Blätter und Blüten, diese gehen aber auf nur wenige Wurzeln zurück und sind somit unter der Oberfläche miteinander verbunden.

Unter der Bedingung der Komplexität gibt es viele – schnell sichtbare – Problemsymptome, aber die Ursachen sind nicht immer sofort erkennbar und stehen aufgrund der gemeinsamen Wurzel miteinander in Zusammenhang. Das Folgeproblem ist dann oftmals Aktionismus. Es wird an den Symptomen gearbeitet, aber die Problemursachen werden nicht behoben, da sie nicht ohne Weiteres ersichtlich sind. Dies führt letztlich in eine „never ending story“, die Führungskräfte kommen aus dem Hamsterrad einfach nicht mehr raus. Sie arbeiten mit viel Einsatz an den Symptomen und versuchen, Lösungen zu finden, bevor die Problemursache verstanden worden ist. Dies hilft nicht weiter.

Die Problemlösungskompetenz zu fördern und zu unterstützen, ist daher zu einem Schwerpunkt in meinen Coachings und Seminaren geworden. Für Führungskräfte geht es darum, in der komplexen Unternehmenswelt wirksam zu bleiben. Sie fragen sich: Wie schaffen wir es, Veränderungs- und Umstrukturierungsprozesse zu begleiten und gleichzeitig das Tagesgeschäft zu bewältigen?

In Bezug auf Coaches prägte Ihr Ausbilder, Dr. Bernd Schmid, im Coaching-Magazin den Begriff des Zehnkämpfers. Würden Sie diesen auf heutige Führungskräfte übertragen?

Ja. Die Frage ist, welches Bild wir von einer Führungskraft haben – auch in der Zukunft. Wohin entwickelt sich ihre Rolle? Das Bild des Zehnkämpfers passt hier sehr gut. In der Führungsliteratur wird zwischen Management und Mitarbeiterführung unterschieden. Die Managementdimension betrifft die Strukturen und Prozesse. Die Mitarbeiterführung fokussiert den Menschen. Jede Führungskraft – unabhängig von der Hierarchieebene – hat beide Aspekte zu berücksichtigen.

Natürlich: Während einem Vorstand insbesondere die Gesamtorganisation sehr wichtig ist, stehen in der Perspektive eines Teamleiters vor allem dessen Mitarbeiter im Vordergrund. Aber auf allen Ebenen gilt es zugleich, die Management- und Führungsaufgaben wahrzunehmen und sich zu fragen: Wie können funktionierende Arbeitsprozesse und -strukturen gefördert und aufgebaut werden, in denen Menschen gut arbeiten können? Die Managementfunktion und die Dimension der Mitarbeiterführung sind nicht randscharf abzugrenzen. Führungskräfte sollten sich jedoch im Kern darüber im Klaren sein, welche Aufgaben beide Funktionen mitbringen – und wie diese sinnvoll in Verbindung gebracht werden können.

Weshalb kann gerade Coaching bei der Bewältigung der VUCA-Herausforderungen hilfreich sein?

Unterschiedlichen Ansprüchen, die in den verschiedenen Funktionen der Führungskräfte angelegt sind, kann in einem Coaching ganz anders Rechnung getragen werden. Durch die individuelle Begleitung im Rahmen eines Coachings kann für die Führungskraft eine passgenaue Unterstützung erarbeitet werden. Zur Orientierung helfen mir verschiedene Blickwinkel: Was kennzeichnet die primäre Rolle und die Aufgabe der Führungskraft entsprechend ihrer Hierarchieebene? Welche Typologie, welche persönlichen Verhaltensmuster und welche Belastbarkeit bringt sie für die auszufüllende Führungsrolle mit? Wie steuert sich die Führungskraft selbst und wie steuert sie den Prozess? Hier helfen verschiedene Metamodelle wie z.B. die Arbeit mit Landkarten und inneren Bildern. Im Coaching wird im Rahmen der Auftragsklärung herausgearbeitet, was die Ziele der Zusammenarbeit sind. In der Begleitung von Führungspersonen – bei der Bewältigung ihrer anspruchsvollen Aufgaben – ist Coaching die intensivste, aber auch effektivste Form.

Müssen sich Coaches neu aufstellen, um veränderten Bedarfen der Klienten gerecht werden zu können? 

Auch Coaches müssen sich anpassen. Business-Coaching hat die Aufgabe, Menschen in der Arbeitswelt zu unterstützen und da können meines Erachtens die Belange der Organisation nicht außer Acht gelassen werden. Deshalb ist der Begriff des Organisations-Coachings entstanden. In dessen Rahmen stehen die Gestaltung und Entwicklung von Organisationsleben und die Wechselwirkung von Organisation und Mensch im Zentrum. Auch diese Perspektive wurde stark von Bernd Schmid geprägt. Betrachtung finden sowohl der Mensch aus der Sicht der Organisation als auch die Organisation aus der Sicht des Menschen, um letztlich eine gute Passung zu entwickeln.

Der Organisations-Coach begleitet diesen Prozess und es ist sehr wichtig, mit welcher Herangehensweise er seine Rolle ausfüllt. Er muss einem Unternehmen dabei helfen, sich selbst zu helfen. Ich glaube daher, dass es in der Zukunft entscheidend sein wird, dass im Business-Coaching auch stärker auf Kenntnisse von Organisationen zurückgegriffen wird, um Führungskräfte professionell begleiten zu können. Wie soll ich als Coach eine Führungskraft wirksam unterstützen, wenn ich keine oder nur geringe Kenntnisse ihrer Arbeitswelt mitbringe? Für mich sind betriebswirtschaftliche und Kenntnisse von Organisationen eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Business-Coaching.

Es geht demnach um die Verbindung von individuellem Coaching mit kollektiven, organisationalen Lernprozessen und Entwicklungsansätzen …

Genau. Der Organisations-Coach richtet seine Aufmerksamkeit auf das Wohl des Gesamtunternehmens: Was ist gut für die Organisation und was ist gut für die Menschen im Unternehmen? Das notwendige Organisationswissen umfasst einerseits – um nur ein Beispiel zu nennen – Kenntnisse von organisationalen Entwicklungsphasen und andererseits zugleich die Frage, welche Methoden es zur Aktivierung von Menschen innerhalb von Organisationen gibt. Von agilem Management über Scrum, Design Thinking bis Open Space gibt es in der heutigen Zeit eine ganze Reihe an Themen, welche die Aktivierung von Menschen in Unternehmen und ihre aktive Beteiligung an der Entwicklung der Organisation betreffen.

Wo liegt die Trennlinie zwischen Organisations-Coaching und Organisationsentwicklung?

Der Unterschied liegt für mich in der Haltung. Das Prinzip des Organisations-Coachings besteht darin, dem Unternehmen bzw. dem jeweiligen Unternehmensbereich dabei zu helfen, die eigenen Potenziale freizusetzen und eine Kultur des gemeinsamen Lernens und Entwickelns aufzubauen. Dabei ist es aber wichtig, dass der Organisations-Coach es nicht besser weiß als die Organisation. Er ist nicht der Experte. Stattdessen wendet der Organisations-Coach Methoden der Sichtbarmachung – Spiegelungen, Infragestellungen, manchmal auch Irritationen und Provokationen – an und fördert dadurch die Selbstreflexion und die Selbstorganisation in einem Transformationsprozess.

Die klassische Organisationsentwicklung sehe ich eher mit anderen Konzepten arbeiten, weniger mit dem Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe, weniger mit dem Anspruch, Veränderungen aus dem Inneren der Organisation heraus anzustoßen. Sie arbeitet stärker mit Expertentum.

Im letzten Jahr habe ich als Organisations-Coach einen Prozess in der Energiewirtschaft begleitet. Es ging darum, dass Abläufe in einem Bereich des Unternehmens neu organisiert werden sollten. Die zentrale Ausgangsfrage lautete: Wer bestimmt, wie die Abläufe strukturiert werden sollen? Die klassische Variante: Die Führungskräfte und externe Berater entwickeln Konzepte und versuchen dann, diese in die Organisation zu tragen. In diesem Prozess bestand der Unterschied darin, dass wir einen veränderten Workflow durch die Teamleiter und Mitarbeiter erreichen wollten. Diese Herangehensweise bildete sich bereits im Rahmen der Auftragsklärung ab. Neben der Geschäftsführung war auch der Betriebsrat involviert. Hier wurde beschlossen, dass der neue Workflow auch aus den Kreisen der Mitarbeiter kommen sollte. Sicherzustellen war hierbei, die Grenzen zu definieren, den Mitarbeitern klar zu sagen, was sie gänzlich frei entscheiden konnten und was nicht. Der Prozess zog sich über ein halbes Jahr, aber die neuen Arbeitsprozesse wurden aus der Organisation heraus entwickelt. Ich habe die Führungskräfte und Mitarbeiter dabei begleitet, selbst den besten Ablauf zu definieren und dann über einen iterativen Prozess anzupassen. Jetzt läuft der Workflow so, wie es die Mitarbeiter – es waren etwa 60 betroffene Personen – erarbeitet haben, und das macht im Vergleich mit einer Lösung, die von außen herangetragen wird, einen erheblichen Unterschied aus.

Vertraulichkeit gegenüber den Klienten gilt als wichtige Coaching-Voraussetzung. Können Organisations-Coaches diesen Anspruch erfüllen?

Meines Erachtens unterscheidet sich ein Organisations-Coaching hinsichtlich des Umgangs mit Vertraulichkeit gravierend von einem persönlichen Coaching. Im Organisations-Coaching ist es wichtig, eine Atmosphäre der vertrauensvollen Offenheit und ehrlichen Auseinandersetzung mit allen relevanten Themen zu schaffen. Dies betrifft auch unangenehme Themen und Konflikte. Vertraulichkeit schadet hier eher dem Prozess. Vertraulichkeitsvereinbarungen, wie wir sie in einem persönlichen Coaching haben und dort auch anwenden, wären im Rahmen eines Organisations-Coachings aus meiner Sicht kontraproduktiv. Als Coach muss ich daher differenzieren, ob ich ein persönliches oder ein Organisations-Coaching leite.

Wirkt sich der Verzicht auf Vertraulichkeit im Organisations-Coaching manchmal auch zulasten der Offenheit aus?

Misstrauen ist bei den Beteiligten je nachdem, was sie innerhalb ihrer Organisation in der Vergangenheit gelernt und erfahren haben, mehr oder weniger stark ausgeprägt. Wurden Vertrauen und Offenheit missbraucht oder nicht? Wenn ja, kommt es im Organisations-Coaching mitunter auch zu Irritationen, z.B. dann, wenn man Konflikte und unangenehme Themen offen anspricht. Die Frage ist, ob eine entsprechende Konfrontationskultur im Unternehmen gegeben ist und dieses Vorgehen zulässt. Im Rahmen eines Organisations-Coachings noch ein persönliches Coaching zu begleiten, wird schwierig. In einem solchen Fall müsste man genau darauf achten, dass es nicht zu Grenzverletzungen kommt. Denn ich kann in einem Organisations-Coaching tendenziell nicht zielgerichtet arbeiten, wenn ich zugleich über relevantes, aber vertrauliches Wissen aus einem persönlichen Coaching verfüge. Dies hängt natürlich auch davon ab, ob die Themen des persönlichen die des Organisations-Coachings tangieren. In bestimmten Prozessen bzw. bei bestimmten Themen kann es hilfreich sein, mit mehreren Coaches zu arbeiten, um nicht in einen Rollenkonflikt zu geraten.

Sie beraten Unternehmen bei der Erstellung und Implementierung von Konzepten der Führungskräfteentwicklung. Spielt Coaching in diesen Konzepten stets eine feste Rolle?

Coaching spielt in der Regel eine Rolle, aber in unterschiedlichen Konzeptionen. Hier entscheidet auch der Kundenwunsch. Es gibt Konzepte, die vorsehen, dass Führungskräfte Coachings bei Bedarf anfragen können. Ebenso gibt es Konzepte, in denen Führungskräften ein bestimmtes Kontingent an Coaching-Stunden zur Verfügung gestellt wird, das sie abrufen können. Ein Unternehmen, das ich beraten habe, wünschte sich, Coaching-Instrumente und -Vorgehensweisen als Erweiterung der vorhandenen Führungskompetenz aufzugreifen. Denken wir an die Führungsaufgaben in der Zukunft und an Prof. Dr. Peter Kruse, der das Ende des Hierarchiezeitalters prognostiziert hat: Das zukünftige Aufgabenprofil einer Führungskraft und die dazugehörigen Führungsmodelle werden näher an Coaching heranrücken.

Transformationale Führung beinhaltet, dass die Führungskraft – wie bereits unter dem Stichwort des Zehnkämpfers besprochen – mehrere Rollen einnehmen muss. Sie fördert bei den Mitarbeitern agiles Arbeiten, fungiert als Mentor, Koordinator und behält zugleich die disziplinarische Führung. Coaching-Wissen und -Methoden werden vor diesem Hintergrund eine immer wichtigere Rolle in der Führungsarbeit spielen. Eine Führungskraft wird nicht die klassische Funktion eines externen Business-Coachs einnehmen können, da sie in Rollenkonflikte käme. Es geht vielmehr darum, mit der Vorgehensweise, der Haltung und Instrumenten eines Coachs an die Führungsarbeit zu gehen, denn mit dem alten überlieferten Hierarchiemodell von Anordnung und Kontrolle wird in Zukunft immer weniger möglich sein.

Eine spannende Frage ist daher, wie wir erfahrene Führungskräfte einladen können, ihr Führungsverhalten – vielleicht sogar Anordnung und Kontrolle – zu überdenken, auf Auswirkungen ihrer Führungsarbeit zu schauen und dann zu überlegen, wie ihr Führungsverhalten in der Zukunft erfolgreich sein kann, welche Potenziale sie bereits mitbringen, wo sie umlernen wollen und was sie vielleicht auch ganz neu betrachten sollten.

Wenn wir uns die Motivationslage in vielen Unternehmen anschauen – hier gibt es z.B. aufschlussreiche Untersuchungen des Gallup-Instituts –, dann zeichnet sich kein sehr positives Bild ab. Wie können Prozesse so gestaltet werden, dass die Mitarbeiter Spaß an ihrer Arbeit haben und Demotivation sowie zunehmenden psychosomatisch bedingten Erkrankungen entgegengewirkt werden kann? Dies können nur die Führungskräfte leisten. Sie denken sich allerdings häufig: „Ich bin jetzt jenseits der 50, ich weiß doch schon alles!“ Lernbereitschaft und Lernfähigkeit werden in der Führungskräfteentwicklung daher ein ganz zentrales Element darstellen. Auch Coaches müssen sich in jedem Unternehmen, bei jeder Führungskraft individuell die Frage stellen, wie die Bereitschaft ihrer Klienten, dazuzulernen und umzudenken, adressiert werden kann.

Sie befassen sich bereits seit Ihrem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wuppertal mit diesem Themenkomplex, denn Ihr Schwerpunkt lag im Bereich der Personal- und Organisationsentwicklung …

Richtig. Im Rahmen meines Studiums mussten nach dem Grundstudium gewisse Schwerpunkte gewählt werden. Es konnte zwischen den Bereichen Rechnungswesen, Markt und Konsum und natürlich dem Bereich Arbeit und Sozialstruktur gewählt werden. Letzterer Bereich, für den ich mich entschied, wurde damals von Prof. Dr. Burkhard Sievers geleitet. Nachhaltig beeinflusst hat mich während des Studiums die Teilnahme an Organisationslaboratorien nach der Tavistock-Methode. Das war verwirrend, irritierend und doch unglaublich faszinierend. Hier habe ich nachhaltig gelernt, dass Organisationen soziotechnische Systeme sind – also ein soziales und ein technisches System darstellen. Ich lernte, wie Rollen und Führungsrollen wahrgenommen werden und welche Auswirkungen die Ausübung dieser auf das Gesamtsystem haben kann. Dies hat mich später während meiner gesamten Arbeit begleitet.

Welche beruflichen Stationen durchliefen Sie nach Ihrem Studium? 

Nach dem Studium war ich als freie Mitarbeiterin eines Trainingsinstituts tätig, welches in Handelsunternehmen stark vertreten gewesen ist. Anschließend habe ich mit einem Beratungsunternehmen aus der Schweiz sehr eng zusammengearbeitet. Das war schon toll und sehr prägend. Irgendwann ist in mir aber der Entschluss gereift, nicht mehr nur für andere Beratungsunternehmen arbeiten zu wollen und mein eigenes Unternehmen zu gründen. Denn die freie Mitarbeit war in der ersten Zeit sicherlich sehr lehrreich, aber nicht das, was ich mein Leben lang machen wollte. Meine persönliche Weiterbildung ging dann „systemisch“ weiter. Erst absolvierte ich eine Ausbildung in Wiesloch am isb von Dr. Bernd Schmid. Später folgte eine hypnosystemische Ausbildung am Milton-Erickson-Institut in Heidelberg bei Dr. Gunther Schmidt. Am isb war ich im späteren Verlauf noch acht Jahre Lehrtrainerin für das Thema „Systemische Führung“.

Wofür steht aus Ihrer Sicht der Begriff „systemisch“?

Der Begriff ist sicher nicht in wenigen Sätzen vollumfänglich zu erfassen. Es geht im Kern um den Mobile-Gedanken: Wenn ich im Unternehmen an einer bestimmten Ecke etwas verändere, hat dies Auswirkungen an anderer Stelle. Wichtig ist auch der konstruktivistische Gedanke. Jeder bringt seine eigene Wirklichkeitskonstruktion mit. Auch ressourcen- und lösungsorientierte Vorgehensweisen, Passungsmodelle von Mensch und Organisation, Modelle der Verantwortungskultur oder Rollenmodelle spielen hier hinein. All dies sind Denkweisen im systemischen Ansatz, die – auf die Führungs- und Unternehmenswelt übertragen – eine große Relevanz besitzen.

Wann kamen Sie mit Coaching in Berührung?

Während meiner freien Mitarbeit an den Instituten war Coaching noch kein Thema. Damals ging es eher um Weiterbildungen für Mitarbeiter und Führungskräfte. Ich habe in diesem Rahmen zunächst vor allem den Bereich der Methodenkompetenz abgedeckt und mich dann im Laufe der Jahre in Richtung des Bereichs der Führungsarbeit entwickelt.

Zum Coaching kam ich auf recht unspektakuläre Weise. Während meiner Weiterbildungen war es Thema und Ausbildungsinhalt. Beide Ansätze, sowohl der systemische als auch der hypnosystemische, haben in der täglichen Arbeit als Coach und Berater eine elementare Bedeutung. Zudem hat dann auch der Markt verstärkt nach Coaching gefragt. Im Laufe meiner späteren Lehrtrainertätigkeit am isb wurde das Thema ebenfalls immer relevanter.

Mich fasziniert an Coaching, dass ich gemeinsam mit Führungskräften daran arbeiten kann, ihre eigenen Lösungen zu finden. Häufig wird gefragt: Darf ich als Coach Ratschläge geben? Ich finde hier die Metapher des Realitätenkellners von Dr. Gunther Schmidt sehr passend: Wenn ich im Coaching bin, versuche ich Ideen herauszuarbeiten, die die Führungskraft mitbringt. Sie bringt nämlich bereits alles mit, was sie braucht, um ihr Problem zu lösen, kann nur gerade nicht alle Potenziale abrufen. Hierbei helfe ich ihr als Coach. Wenn ich eigene Vorschläge habe, bringe ich diese aber auch aufs Tablett und der Kunde kann letztlich eigenständig entscheiden, welcher Lösungsvorschlag für ihn relevant und der richtige Weg ist. Diese Herangehensweise hat mich sehr geprägt und macht Coaching zu einer tollen Möglichkeit, mit Führungskräften professionell zu arbeiten und individuelle Problemlösungen zu entwickeln.

1994 haben Sie die Diskurs Strackbein GmbH gegründet, die Sie als Geschäftsführerin leiten …

Richtig. Ich wollte meine eigenen Inhalte frei entwickeln. Als Mitarbeiterin eines Beratungsinstituts ist dies nicht möglich, man setzt stattdessen die dort verankerten Vorstellungen um. Ich habe mich also mit meinen Themen selbstständig gemacht – auch, um für den Aufbau meiner Kundenbeziehungen völlig eigenständig verantwortlich zu sein und generell einen hohen Grad an Eigenständigkeit zu erreichen. Ich glaube, ich bin auch nicht wirklich hierarchiefähig (lacht).

Sie sind Mitglied im DBVC und waren über einen Zeitraum von sechs Jahren Teil des Vorstandes. Was hat Sie zum Engagement an vorderer Front veranlasst?

Seit meinem Studium interessiert mich das Zusammenspiel von Mensch und Organisation. Die Leitfrage, wie der Verband seine Mitglieder aktiv in die Verbandsarbeit einbeziehen kann, war und ist für mich daher sehr spannend. Entsprechend lag der Schwerpunkt meiner Arbeit auf den Regionalgruppen und der Vernetzung der einzelnen Gremien. Ich denke, für den Verband ist die Frage wichtig, wie wir es schaffen, die unglaublichen Ressourcen unserer Mitglieder zu nutzen, wie ich es im Grunde auch bezüglich des Organisations-Coachings beschrieben habe. Es geht dabei auch darum, im Verband das zu praktizieren, was wir bei unseren Kunden umsetzen: Organisationen zu lernenden Organisationen zu entwickeln.

An der Universität Bochum haben Sie eine Ausbildung im Bereich Wirtschaftsmediation abgeschlossen. Hilft Ihnen dies in Ihrer Arbeit?

Der mediative Ansatz, beide Seiten zu verstehen, zwischen ihnen zu vermitteln und einen Ausgleich zu finden, hat für mich nicht viel mit den Konflikten zu tun, die ich in den Unternehmen erlebe. Dort handelt es sich oftmals um Strukturkonflikte, die z.B. aus einer nicht passenden Ablauf- und Aufbauorganisation, aus unklaren Verantwortlichkeiten und Rollen, aus dem Überspringen von Hierarchieebenen und intransparenten Entscheidungsprozessen, aus dem Führungsverhalten von Bereichsleitern, die Menschen nicht ausreichend einbeziehen, oder aus narzisstisch geprägten Persönlichkeitsstrukturen in oberen Führungsetagen erwachsen.

Das sind alles Konfliktursachen, die nicht durch eine mediative Vorgehensweise, die auf der Symptomebene stattfindet, gelöst werden können. Als reine Mediatorin arbeite ich daher so gut wie gar nicht. Im Unternehmenskontext geht es stattdessen darum, Klarheit und Strukturen zu schaffen, Abläufe zu regeln. Hier kommen die systemischen Fähigkeiten und die Seerosenmetapher erneut ins Spiel, um die Ursachen erkennen und gezielt an ihnen arbeiten zu können, beispielsweise Kern- und Supportprozesse in Einklang zu bringen. Externe Coaches kennen die Unternehmensrealität ihrer Klienten nicht. Sie müssen sich daher gemeinsam mit der Führungskraft – als deren Sparringspartner und unter Einsatz der angesprochenen Meta-Modelle – auf die Suche machen. Man kann sich dies als eine Landkarte vorstellen, auf der sich Coach und Klient bewegen, um zu schauen, wie es in den einzelnen Bereichen aussieht.

Sie haben u.a. zum Thema Work-Life-Balance publiziert. An welchen Stellschrauben ist zu drehen, um sich eine zufriedenstellende Balance zu erarbeiten?

Hier kommt einerseits individuelles Coaching zum Tragen. Im Fokus stehen Selbstorganisation und Selbststeuerung. Was brauche ich, damit ich im Arbeitsprozess zufrieden und im Zustand einer guten Arbeitsfähigkeit bleibe? Wenn ich mir allerdings die Überstundenkonten und den Arbeitsdruck in manchen Unternehmen ansehe, stelle ich andererseits fest, dass dringend auch organisational angesetzt werden muss, um die grundlegenden Rahmenbedingungen von Work-Life-Balance überhaupt erst zu schaffen. Im Produktionsprozess wird beispielsweise mit Leihkräften gearbeitet, in der öffentlichen Verwaltung herrschen Kostendruck und Einsparungen, einigen Unternehmen fällt es schwer, Fachkräfte zu finden, aber gleichzeitig bleibt das Arbeitsaufkommen erhalten.

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