In diesem Beitrag wird auf die im Coaching-Magazin 2/2016 dargestellte Hypothese aufgebaut, dass beim Coaching von Führungskräften, die eine verantwortliche Rolle in organisationalen Veränderungsprozessen inne haben, das übliche Vier-Augen-Setting nicht ausreicht, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen (Lenz, 2016). Coaching wird üblicherweise vor dem Hintergrund der Normen und Werte des Unternehmens betrachtet und dieser Kontext als zu einem Zeitpunkt gegebene Rahmenbedingung angesehen, falls der unternehmerische Kontext überhaupt ins Coaching einbezogen wird. Statt den organisationalen Kontext als Rahmen zu sehen, über den im Coaching reflektiert wird, sollte gemeinsam mit dem Kontext gearbeitet werden, um die zwischen Führungskraft und Organisation auszuhandelnden Veränderungsanteile zu bearbeiten (Eichler, 2011). Dieses Arbeiten zwischen Individual- und Organisations-Coaching soll als integratives Coaching bezeichnet werden
Drei Gründe sind relevant für den Vorschlag, die starren Grenzen zwischen individuellem Coaching und Organisations-Coaching aufzulösen.
Erstens sind die Problemstellungen in Veränderungsprozessen wesentlich anspruchsvoller geworden. In vielen Veränderungsprozessen in der Vergangenheit wurden Probleme behandelt, die sich durch hochentwickelte Tools, sorgfältige Planung und Steuerung hinreichend bearbeiten ließen. Angesichts disruptiver Marktveränderungen, dem Wegbrechen ganzer Geschäftsmodelle und technologischer Innovationen sind heutige Change-Probleme meistens als „bösartig“ zu klassifizieren (Hauser, 2016). Diese Problemklasse wird von allen Beteiligten als bedrohend empfunden und kann nur durch geteilte Führungsverantwortung bearbeitet werden. Dafür ist vom Einzelnen – und damit auch der obersten Führungskraft – eine Haltung des unvoreingenommenen Zuhörens und Beobachtens notwendig, statt im Sinne eines „downloading“ jedes neue Problem einem scheinbar bekannten Lösungsmuster zuzuordnen (Scharmer, 2013). Zuhören und Beobachtung erfordern Gemeinschaft auf Augenhöhe, statt singuläre Entscheidungen einer Führungskraft oder eines Führungsgremiums.
Korrespondierend zur Markt- und Kundendynamik, werden – zweitens – Führungskonzepte und Projektmanagement grundlegend weiterentwickelt. Man denke an Ansätze wie Holakratie und agiles Projektmanagement. Gemeinsam ist diesen Konzepten die Neudefinition der Rolle der Führungskraft, tiefe Resonanz mit dem organisationalen Umfeld, das Einschwingen auf die Bedürfnisse der Kunden und die Kollaboration über die starren Organisationsgrenzen hinaus. Ressourcen sollten deshalb nicht nur personenbezogen bedacht werden, sondern das gesamte Potenzial wird erst in der Interaktion zwischen Person und System erschlossen.
Der dritte Grund, um das bisher übliche Setting von Coaching zu überdenken, liegt in den Erkenntnissen der neueren Systemtheorie. Komplexität wird dadurch beschrieben, dass kein vollständiger Überblick über die direkten, indirekten, zeit- bzw. ortsunterschiedlichen Folgewirkungen einer Problemstellung besteht. Um Verbesserungsschritte zu planen und zu implementieren, werden in der Systemtheorie gemeinsame Such- und Iterationsprozesse vorgeschlagen. Hierbei sind das System, aber auch das Systemumfeld, wie z.B. Kunden, einbezogen. Der zu entwerfende integrative Coaching-Prozess muss deshalb systematisch die direkt und indirekt Betroffenen berücksichtigen, da sie zum Gelingen der Veränderung entscheidend beitragen.
Turner und Hawkins (2016) untersuchen in einer umfangreichen empirischen Studie das Multi-Stakeholder-Contracting im Coaching. Darunter verstehen die Autoren die Einbeziehung relevanter Stakeholder in den Coaching-Kontrakt. Die Autoren kommen zu der Erkenntnis, dass die verbindliche Einbeziehung wichtiger Interessengruppen in das Coaching zu einer besseren Verbindung der Ergebnisse des Coachings mit Organisationszielen führt, dass im Coaching klarere Ziele vereinbart werden und dass während des gesamten Prozesses der Fokus auf die Ziele besser als beim Zweierkontrakt eingehalten wird.
Modelle für solche Coaching-Prozesse finden sich in der Literatur kaum. Dies erstaunt auf den ersten Blick nicht, handelt es sich vordergründig doch um einen Widerspruch: Offenheit der Prozessentwicklung in Systemen für das, was in der spezifischen Situation notwendig ist, einerseits und die als starr vermuteten Schrittfolgen eines idealtypischen Modells andererseits. Wie wir aus Erkenntnissen agiler Managementprinzipien wissen, handelt es sich bei dem Spannungsfeld zwischen Offenheit der Ergebnisse und Determiniertheit von Prozessen nur scheinbar um einen Widerspruch. Organisationen mit einem hohen Grad an Selbststeuerung statt klassischer Strukturen weisen umfassend definierte Prozessschritte und Regeln auf, um ihren Mitgliedern klare Orientierung im Arbeitsalltag zu geben (Bernstein et al., 2016). Durch modellorientierte, scheinbar starre Regeln die Fähigkeit eines Systems zur schnellen Anpassung an wechselnde Umfeld-Anforderungen zu schaffen, gehört zur Ambiguität heutiger Veränderungsprozesse.
Ansätze zur Verbindung von Coaching und Organisationsberatung im Kontext von Veränderungsprozessen wurden auf der Grundlage von Methoden der Aktionsforschung entwickelt. Fatzer und Schoefer (2011) schlagen ein Modell mit drei Perspektiven vor: Bearbeitung der Interaktion zwischen Person und System mithilfe der Biografie der Person in der Organisation; fachliche Inhalte und Entwicklungsprozesse des Teams; Entwicklungsphasen des Teams im Kontext von System und Systemumfeld. Hier gelingt zumindest konzeptionell eine Verknüpfung von Individualberatung, System und Systemumfeld. Die Rolle des Beraters wird dabei allerdings nicht klar; mögliche Rollenkonflikte in der Beratung zwischen Person und System werden nicht explizit diskutiert.
Strikker und Strikker (2011) legen sehr anschaulich dar, dass sich die Aufgaben eines Coachs in der Begleitung von Führungskräften, die in Veränderungsprozesse der Organisation involviert sind, erweitern. Es gilt, die Person und die Anforderungen der Organisation komplementär miteinander zu verbinden. Dazu stellen sie einen Bezugsrahmen vor, der aber nicht auf ein Coaching-Design eingeht, das eine explizite Öffnung mit Integration der Organisation in das Coaching umfasst.
Nachfolgend soll ein Prozessmodell vorgeschlagen werden, das ein Oszillieren zwischen Organisationsentwicklung und Coaching als Intervention in Veränderungsprozessen beschreibt, um nachhaltig wirksame Veränderungen auf der individuellen Ebene und der Organisation zu erreichen. Auf der Grundlage der vorangegangenen theoretischen Überlegungen sind die in der Tabelle dargestellten Anforderungen an ein integratives Coaching zu stellen.
Der Coaching-Prozess orientiert sich an dem Grundmodell des Lean Change Management, das in Abbildung 1 umrissen ist. Damit werden die Anforderungen an den Prozess hinsichtlich Agilität, der Multi-Stakeholder-Einbindung und der Synchronisierung von Suchprozessen zur Problembearbeitung optimal erfüllt.
Das klassische Coaching findet im rechten Zyklus statt: Erarbeiten eines Problemverständnisses und von Lösungsoptionen für das Anliegen des Klienten. Exakt eine der Lösungsoptionen wird ausgewählt und in einem experimentellen Setting umgesetzt. An dieser Stelle erfolgt die Öffnung des Prozesses und das relevante Systemumfeld des Klienten wird einbezogen. Diese Schlüsselstelle wird als Interaktions-Experiment bezeichnet. Hierbei wird eine kleinere, messbare Verbesserungsmaßnahme gemeinsam mit dem organisationalen Umfeld des Klienten entworfen und durch den Klienten implementiert.
Für das „Experiment“ wird in der Stufe „Vorbereitung“ die Umsetzung konkret geplant und die Messgrößen werden vereinbart, anhand derer der Umsetzungserfolg gemeinsam überprüft wird. Nach der Umsetzung werden im Reflexionsschritt die gemessene Verbesserung ausgewertet, aber auch die sozio-emotionalen Erkenntnisse aus dem Interaktions-Experiment reflektiert. Die Erkenntnisse fördern ein tieferes Problemverständnis und man ist wieder in dem rechten Zyklus, dem individuellen Coaching.
Mithilfe der Abbildung 2 wird konkreter auf das Prozessmodell eingegangen. Die einzelnen Kästen stellen die Schritte des integrativen Coachings dar, wobei im oberen Teil der Prozessschritt bezeichnet wird und im unteren Teil der Output genannt ist, der am Ende des jeweiligen Schrittes vorliegt. Korrespondierend zu Abbildung 1 sind im rechten Teil die Schritte des individuellen (geschlossenen) Coachings dargestellt und im linken Teil die Interventionen, die gemeinsam mit dem organisationalen System des Klienten erfolgen (geöffneter Teil des Coachings).
Bereits die Gestaltung der Kontraktphase ist eine zentrale Herausforderung im integrativen Coaching. Hier kommt es darauf an, frühzeitig alle relevanten Stakeholder in den Prozess einzubinden. Häufig wird man diese Phase als eine Art Vorprojekt gestalten, indem über die Perspektive der Organisation nicht nur im kleinen Kreis zwischen Klient, Personalbereich und Coach gesprochen wird, sondern Repräsentanten des organisationalen Umfelds aufgesucht werden, um deren Perspektive in die Vertragsgestaltung einzubeziehen. Die iterative Aushandlung eines solchen Multi-Stakeholder-Kontrakts ist bereits eine mächtige Intervention zur Veränderung der Organisations- und Coaching-Kultur.
Der eigentliche Coaching-Prozess startet im geschlossenen Teil mit der Erarbeitung des Problemverständnisses, sowohl im Hinblick auf die Herausforderungen des Change-Prozesses in der Organisation als auch im Hinblick auf die Rolle und Befürchtungen des Klienten. Zum Schluss dieses Prozessschrittes hat sich der Klient erste Hypothesen über den Status des Systems erarbeitet.
Anschließend werden im Coaching möglichst viele Lösungsoptionen erarbeitet und zwar sowohl auf der inhaltlichen Ebene – was ist notwendig im Veränderungsprozess? – als auch auf der prozessualen Ebene, d.h. wie können Interaktionen zwischen Klient und „seinem“ System verbessert werden? Anschließend priorisiert der Klient die Lösungsoptionen und wählt für das erste experimentelle Setting genau eine Maßnahme aus, die einen möglichst großen, messbaren Effekt aufweist.
Außerdem sollte die Maßnahme von dem organisationalen System und dem Klienten vollständig und eigenständig umsetzbar sein.
Der Klient durchläuft nun im geöffneten Teil des Coaching-Prozesses gemeinsam mit der Organisation eine integrative Schleife. Sie besteht aus den oben bereits skizzierten Schritten der Vorbereitung und Durchführung des Experiments sowie der Reflexion der Erkenntnisse. Wichtig ist, dass nur genau eine Maßnahme lösungsorientiert bearbeitet wird. Der gesamte geschlossene und offene Zyklus wird so häufig durchlaufen, bis der vom Klient angestrebte und mit der Organisation harmonisierte Zielzustand realisiert ist.
Folgende Vorteile lassen sich durch das integrative Coaching realisieren:
Allerdings beinhaltet dieses Konzept einen mitunter erheblichen Weiterentwicklungsbedarf in Haltung und Prozesskompetenz von Coaches. Als Stichworte seien genannt:
Dieses Oszillieren zwischen klassischem Coaching, Organisations-Coaching, Fachberatung und Prozesskompetenz dürfte für viele Coaches einen nicht unerheblichen Qualifizierungsbedarf erfordern. Dazu gehört auch die Fähigkeit zu einem Wechsel zwischen Coaching und Facilitation, der aus Sicht der Beteiligten glaubwürdig und ethisch korrekt sein muss.
Eine einschränkende Bedingung für die Anwendbarkeit des Modells ist das Coaching-Verständnis, das in einer Organisation zu Beginn des Prozesses vorhanden ist. Eine Verbindung von Personen- und Organisations-Coaching setzt ein weit entwickeltes Verständnis von Coaching voraus, das durch personales wie organisationales Coaching als Veränderungsbegleitung aber erst ermöglicht wird. Bachmann (2016) weist in einer Studie vier Cluster von Coaching-Verständnis in Organisationen nach. Demnach ist das Verständnis von Coaching mit Erziehungscharakter immer noch deutlich ausgeprägt. In diesem Cluster wird auf personales Coaching fokussiert, das durch die Organisation stark kontrolliert wird. Auch das Verständnis von Coaching als Expertenberatung bzw. als Heilung von „Defiziten“ ist in Unternehmen verbreitet.
Das integrative Coaching ist dann am sinnvollsten umzusetzen, wenn in einer Organisation das Verständnis von Coaching als Empowerment für mehr Eigenverantwortung bei gleichzeitig besserer Erfüllung von organisationsbezogenen Zielen vorhanden ist.