Portrait

Interview mit Dr. Gunther Schmidt

Wer nur Schemata runter schrubbt, kommt nicht in Kontakt mit einzigartigen Menschen

Wie kaum ein anderer hat er die Coaching-Szene inspiriert: Er hat nicht nur das Systemische und das Hypnotherapeutische verbunden zu einem eigenen Ansatz. Seit Jahren wirkt er auch als Mentor für Kollegen und als Stichwortgeber auf Kongressen. Dabei wandelt er zwischen den Welten: Ärztlicher Direktor einer Klinik, Business Coach und experimentierfreudiger Praktiker, der sich nicht zu schade ist, sich immer wieder neu zu beweisen und in Frage stellen zu lassen.

23 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2011 am 22.11.2011

Ein Gespräch mit Thomas Webers

Sie haben Medizin und Volkswirtschaft studiert, das hätte Sie prädestiniert, Bundesgesundheitsminister zu werden. Was kam dazwischen?

(lacht) Die Art und Weise, wie Parteipolitik bei uns so läuft, würde mich nicht erfüllen. Aber meine Karriere habe ich ja auch nicht von langer Hand geplant. Nach dem Abitur hatte mich Wirtschaft interessiert. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mit Beratung oder Medizin überhaupt nichts im Sinn. Doch als ich 1971 mein Diplom als Volkswirt machte, war ich mitten in die Studentenbewegung geraten. Und das veränderte mein Wertesystem. Als Manager in die Wirtschaft einzusteigen, konnte ich mir zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr vorstellen. So war ich unschlüssig und habe zunächst ein Promotionsstudium begonnen. Durch den persönlichen Austausch im Bekanntenkreis habe ich dann Literatur zum Thema Familientherapie kennen gelernt. Und das hat mich enorm fasziniert. Ich hatte plötzlich das Gefühl, das würde mich erfüllen. Nicht das individualisierende, pathologisierende Denken, sondern der Blick auf Wechselwirkungen im System – das passte auch zu Themen, mit denen ich mich vorher beschäftigt hatte. So habe ich dann das Medizinstudium begonnen. Aber eigentlich ausschließlich, um frei psychotherapeutisch arbeiten zu können. Denn mit meinem volkswirtschaftlich geschulten Blick habe ich mir die Markt- und Machtlage im Gesundheitssystem natürlich nüchtern angeschaut und bilanziert, dass es die Mediziner sind, die die größeren Gestaltungsmöglichkeiten haben. Neben dem Studium, damit ich das emotional geregelt kriege, denn somatische Medizin hatte mich damals gar nicht so interessiert, es war und ist ja ein ziemliches Paukstudium, habe ich eine Psychodrama- und auch eine Familientherapie-Ausbildung gemacht. Gestalt, Transaktionsanalyse und Körpertherapie, alles, was es so gab, folgte.

Heidelberg war damals offenbar ein El Dorado ...

Ja. Und dann kam Helm Stierlin, der Pionier der europäischen Familientherapie, nach Heidelberg. Ich habe ihn gleich zu Beginn überfallen und so lange beschwatzt, bis er mich hat mitmachen lassen. So habe ich die Entwicklung der deutschsprachigen Familientherapie quasi von der ersten Stunde an mitgekriegt. Damals haben wir noch analytische Familientherapie praktiziert. Ab 1976/77 kam es dann zum Austausch mit der Mailänder Gruppe. Deren Ansatz haben wir nach Deutschland gebracht. Und die Uni Heidelberg wurde so zur Plattform im therapeutischen Bereich, die wir dann mehr und mehr ausgebaut haben, beispielsweise dadurch, dass wir Weiterbildungen angeboten haben.

Sie gelten als Begründer des hypnosystemischen Ansatzes. Wann haben Sie damit begonnen, sich speziell mit der Hypnotherapie auseinanderzusetzen?

Das war ungefähr zur gleichen Zeit. Mir wurde klar, dass die systemischen Konzepte, vor allem was Interventionsstrategien betrifft, zum großen Teil aus der Erickson´schen Hypnotherapie abgeleitet sind. Deswegen habe ich mich bemüht, seine Schüler nach Heidelberg einzuladen: Stephen Gilligan, Paul Carter, Jeffrey Zeig beispielsweise. Zusammen mit meinem Freund Bernhard Trenkle und einigen anderen Kollegen habe ich die Erickson´sche Bewegung hierzulande aufgebaut. Ende der 70er Jahre bin ich schließlich selbst zu Milton Erickson gereist und konnte dort von ihm persönlich noch einiges lernen. All das hat mein Denken dramatisch verändert.

Das ist neu für mich, dass das alles zeitlich so eng beieinander lag ... Wie ging es weiter?

Der Schwerpunkt unserer Arbeit lag, neben Therapie und Forschung, stark im Bereich Weiterbildung – noch nicht im Business, noch nicht im Coaching. Es kamen aber immer mehr Teilnehmer in die Weiterbildungen, die aus dem Bereich Wirtschaft kamen. So wurde schon in den 80er-Jahren deutlich, dass neben dem therapeutischen Bereich, in dem ja die psychoanalytischen und verhaltenstherapeutischen Schulen stark waren und neues Denken bekämpften, sich im wirtschaftlichen Bereich ein großer Bedarf zeigte. So haben wir Mitte der 80er-Jahre begonnen, Angebote für die Wirtschaft zu machen. Bislang hatte ich es eher bedauert, das nicht integrieren zu können. Jetzt kam die Chance, das zu tun. So habe ich dann die ersten Curricula für Coaching und Teamentwicklung entworfen. Und seitdem läuft das in dem Bereich.

War das nicht ein Kulturbruch? Raus aus dem therapeutischen Bereich, rein in die Wirtschaft? Ich kann mir vorstellen, das hat so manchem aus Ihrem erweiterten Kollegenkreis ideologisch nicht wirklich in den Kram gepasst.

Das war am Anfang sogar heftig verpönt und umkämpft, vor allem bei den Leuten, die aus dem klinischen Bereich kamen. Ich reiste zwischen den Welten und fühlte mich mit solchen einengenden Projektionen konfrontiert. Kindisch. In der Milton-Erickson-Gesellschaft gibt es heute noch den eher klinischen Schwerpunkt. Seit einigen Jahren beginnen sie sich dort allerdings auch zu öffnen.

Auf der anderen Seite haben wir die Öffnung ins Populäre erlebt. Stichwort: Neurolinguistisches Programmieren (NLP).

Das stimmt, NLP war einmal eine richtige Modewelle. Aber es ist schon wieder ruhiger drum geworden: ein typischer Verlauf für marktschreierisch gehypte Konzepte. Diese überzogen omnipotente Nummer im NLP ist durch, das Ganze eher wieder auf dem Boden angekommen, das finde ich erfrischend. Aber es gibt auch sehr gute Leute in dem Bereich, die ich sehr schätze – wie Robert Dilts oder Bernd Isert beispielsweise. Ich schätze NLP als Konzept durchaus, schließlich ist es zu 95 Prozent ein Destillat aus der Erickson‘schen Hypnotherapie. Aber Erickson hat sich immer geweigert, ein strukturiertes, schematisiertes Programm zu machen, weil er sagte, man müsse eigentlich die Arbeit für jeden Klienten neu erfinden, denn jeder sei einzigartig. Als ich bei ihm war, habe ich ihm geantwortet: Das kannst Du gut sagen mit 50 Jahren Erfahrung auf dem Buckel, aber ich will das jetzt mal lernen und das ist mir alles viel zu komplex. Grinder und Bandler haben das Wissen, das war schon verdienstvoll, strukturiert und ...

... in Schubladen gepackt, auf denen so sexy klingende Etiketten prangen!

Genau! Aber das hat natürlich auch seine Gefahren, weil manche Leute eben nur die Schemata runter schrubben und gar nicht in Kontakt kommen mit diesen einzigartigen Menschen. Nur, wenn man das erst einmal so strukturiert lernt und es dann schafft, sich von den Schemata wieder zu lösen, kann das enorm hilfreich sein. Es hängt halt sehr davon ab, welche Haltung die Leute entwickeln. Wie gesagt: Einige Leute in dem Bereich schätze ich sehr, andere halte ich für eine blanke Katastrophe – wie zum Beispiel Richard Bandler. Der tritt egozentrisch, omnipotent auf und arbeitet mit viel unterschwelliger Abwertung. Es gibt Leute in der Szene, die meinen, man könne andere austricksen und manipulieren. Man tut sich aber keinen Gefallen damit, beispielweise in Verkaufstrainings so vorzugehen. Das hat aber mit dem Konzept nichts zu tun, sondern mit den Anwendern und ihrer ethischen Haltung.

Nun waren Sie in der Wirtschaft unterwegs mit Weiterbildungen, waren Sie auch in Unternehmen tätig?

Natürlich, das hat sich quasi automatisch ergeben. Ich habe mich nie aktiv akquirierend betätigt, aber ich habe schnell begriffen, die Weiterbildungen werden nur kongruent und ständig weiter optimiert, wenn ich in den Unternehmen unterwegs bin. Teamentwicklung, Coaching, Change, das wurde alles an mich heran getragen. Am Puls der Zeit zu bleiben, ist enorm wichtig. Den Bedarf der Leute wahrzunehmen, auch die Probleme bei der Umsetzung zu erleben, ist wichtig. Man muss beides machen: Weiterbildung und Praxis. Der Nachteil ist, dass man mehr arbeitet ...

Es hört sich nach viel (!) Arbeit an …

(lacht) Aber andererseits ist es gar keine Arbeit für mich. Man muss Jonglierkompetenz entwickeln, sonst geht man unter und bekommt auch privat Probleme mit der Familie. Mit der Zeit habe ich das ganz gut auspendeln können: Ungefähr die Hälfte meiner Zeit stecke ich in wirtschaftliche Beratungsprozesse, die andere Hälfte bin ich auch immer noch im klinischen Bereich unterwegs – und das wollte ich auch nicht anders. Ich mache psychotherapeutische Arbeit leidenschaftlich gerne, nicht nur ambulant im Institut, sondern auch in der SysTelios-Klinik, die ich aufgebaut habe.

Wie hängt das miteinander zusammen?

Die Arbeit mit Firmen oder die im klinischen Bereich basiert auf derselben Grundidee, ob das ein Coaching ist, eine Teamentwicklung oder ein schwer gestörter Patient in der Psychotherapie. Die Grundannahme ist immer dieselbe: Die Leute haben in ihrem unbewussten Erlebnisrepertoire viel mehr Kompetenzen als ihnen bewusst ist. Alle meine Strategien haben das Ziel, diese schlummernden Kompetenzen frei zu setzen. Das habe ich direkt von Milton Erickson übernommen und auf meine Art ausgebaut. Wenn man so vorgehen will, muss man seinen Klienten achtungsvoll als kompetente Experten ansehen und sie so behandeln. Das ist entgegengesetzt zur klassischen, pathologisierenden Sichtweise in der Psychiatrie oder Psychotherapie.

Mit dem Ancien Régime hatten Sie also automatisch so Ihre Schwierigkeiten.

Zum Beispiel mit den Kliniken. Davon hatte ich ja etliche beraten. Wenn dort Kollegen so arbeiten wollten wie ich, hatten sie augenblicklich ein Problem: Die Klinikstrukturen haben das schlicht behindert.

Beton! ...

Im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur von den Konzepten her, sondern auch vonseiten der Klinikhierarchie. So wurde mir immer deutlicher, und das wurde dann die Initialzündung zur Klinikgründung: Ich kann im klinischen Rahmen überhaupt nicht mit Leuten achtungsvoll arbeiten, wenn die Therapeuten nicht genauso behandelt werden. Sie müssen also in einer Organisationskultur leben können, in der man genauso achtungsvoll und ihre Kompetenz würdigend mit ihnen umgeht.

Das ist ja wohl der klassische Systembruch: 180 Grad zu dem, was normalerweise in Kliniken abläuft.

Das war dann auch meine Vision: Man muss das von Anfang an anders gestalten. Ich habe dann auch darüber geschrieben, wie man die Klinik als „lernende Organisation“ aufbauen kann. Nur, das hat nicht viel gefruchtet. Die Leute haben genickt, das aber als träumerische Utopie abgetan. Nun, habe ich gesagt: Dann machen wir es halt selber! Und so kam ich mit der Hardbergklinik zusammen. Aber auch da wurde schnell klar, die AG, zu der die Klinik gehörte, hat meine Ideen zur Mitarbeiterführung überhaupt nicht mitgetragen. Wir waren zwar klinisch sehr erfolgreich, aber ich musste ständig die Mitarbeiterkultur gegen die Geschäftsführung verteidigen. Das wurde mir mit der Zeit zu blöd.

Deshalb haben Sie etwas Eigenes aufgebaut.

Genau. Mit zwei weiteren Gesellschaftern habe ich dann – natürlich mit einem riesigen Kredit, den wir aufgenommen haben – die SysTelios-Klinik aufgebaut, die jetzt wunderbar läuft. Ich bin der Ärztliche Direktor.

Manche Ärzte sind mit der Funktion des Ärztlichen Direktors alleine schon hoffnungslos überfordert, Sie jonglieren da aber noch mit weiteren Bällen herum.

Aber das hat doch mit den Konzepten zu tun. Wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen die Organisation der Selbstorganisation unterstützen – statt „heroisches Management“. Die Klinikmitarbeiter sind also in ihrem Bereich in ihrer Kompetenz zu würdigen, und soweit es geht, ich sage mal zu 90 Prozent, können die alles selbstständig regeln. Natürlich habe auch ich ständig Ideen für die therapeutische Arbeit, aber die bringe ich nur ein, und die Kollegen entscheiden. Manchmal sagen die: Klingt gut, machen wir aber nicht. Auf der anderen Seite machen die auch selber viel, in einer Loyalität und einem Engagement, wie Sie das sonst gar nicht finden. Daher braucht man mich gar nicht ständig, ich bin da nur anderthalb Tage die Woche.

Wie sind Ihre Konzepte dort in die Arbeit eingegangen?

Wir arbeiten von A bis Z hypnosystemisch. Also nicht nur mit Gesprächen, sondern wir sprechen alle Sinne an. Die Gruppen sind als ko-therapeutisches Unterstützungssystem aufgebaut. Es gibt auch Einzelgespräche, aber auch Körpertherapie, Kunst- und Musiktherapie, die Patienten werden also von allen Seiten eingeladen und unterstützt und alles ist kompetenzfokussierend aufgebaut.

Welche Resonanz haben Sie in der Klinikszene?

Wir haben immer mehr Austausch mit anderen Kliniken. Viele wollen kennenlernen, wie wir arbeiten. Wir haben auch immer wieder Vertreter von Unternehmen zu Besuch oder von Verbänden. Wir machen zudem gezielte Programme für Führungskräfte, beispielsweise Burnout-Prophylaxe, Führung und Gesundheit, dafür haben wir einen eigenen Akademiebereich aufgebaut.

Berater und Coach zu sein, ist das eine. Sie leiten aber ein eigenes Unternehmen. Zeigen Sie jetzt der Wirtschaft, wie man es anders, besser machen kann?

Nun, das ist ja ein besonderer Kontext, der Gesundheitsbereich. Man kann nicht alles 1:1 übertragen, aber viele Prozesse schon. Hypnosystemische Konzepte in der Führung gehören beispielsweise dazu. Berater ist ja eine Rolle. Führungskraft eine andere. Als solche müssen Sie Stellung beziehen und klare Prioritäten setzen, den Mitarbeitern auch Sachen vorgeben. Da können Sie nicht alles verhandeln. Das ist in der Beratungssituation anders. Dort können Sie Klienten anregen, dass sie ihre autonomen Zielvorstellungen entwickeln. Was sich in der Führungsrolle aber bewährt hat, die Klarheit, das kann ich 1:1 fürs Coaching, aber auch für die Organisationsentwicklung nutzen. Wenn der Rahmen klar ist, kann ich darin wieder selbstorganisiert handeln. Es muss klar sein, was verhandelbar ist und was nicht. Wenn aber klar ist, was nicht verhandelbar ist, und gleichzeitig Unterstützung angeboten wird dafür, das Gesetzte, nicht Verhandelbare umzusetzen und auch die Widerstände dagegen gewürdigt werden als Informationen über Bedarf beim Umsetzen, entsteht eine Kraft in der Organisation, die sonst nicht entsteht. Oft ist – im Coaching wie auch in der Organisationsentwicklung – diese Art von klarer, konturgebender Führungsarbeit nicht vorhanden. Stattdessen werden Unklarheit in der Zielsetzung, Wischi-waschi in der Kommunikation wahrgenommen. Oder, und das ist dann das Gegenbeispiel, den Leuten wird nach dem Motto „Friss Vogel oder stirb“ alles ohne Verhandlungsspielraum vorgesetzt. Dann werden sie nicht bei ihren eigenen Kompetenzen abgeholt, sondern frustriert. In beiden Fällen verpufft die Energie. Eine kooperative, engagierte Kultur entsteht nur bei gegenseitiger Achtung und Würdigung. Dann kann eine lernende Organisation entstehen.

Kulturentwicklung ist das Stichwort. Hat das auch Auswirkungen auf die Unternehmensform?

Ideen in diese Richtung hatten wir schon. Doch das geht mit den Banken nicht. Beim Unternehmen geht es ja auch um Risiken und Haftung. Da müssen Sie sich schon an die Spielregeln halten. Aber innerhalb des Rahmens haben wir schon Bonussysteme. Wir fördern die Leute sehr in ihrer Weiterbildung, alle Mitarbeiter können bei mir kostenlos an Weiterbildungen teilnehmen oder an Veranstaltungen mit internationalen Gästen. Sie können auch im Rahmen unserer Akademieprogramme selbstständig als Dozenten wirken.

Lassen Sie mich raten: die Fluktuationsrate liegt nahe Null.

Wir haben keine Fluktuation. Im Gegenteil, viele würden gerne bei uns arbeiten. Und wir stellen jetzt im Zuge der Erweiterung der Klinik auch neue Leute ein. Und das ist spannend zu sehen: Für viele ist die Arbeit bei uns ein Kulturschock. Dass wir die Klienten als gleichrangige Kooperationspartner mit einbeziehen, ist für die Klienten aus der Wirtschaft hochattraktiv, aber für Therapeuten oft gewöhnungsbedürftig. In den gemeinsamen wöchentlichen, sogenannten Prozessreflexionen von Klienten und Therapeuten sagen die Klienten den Therapeuten auch, was sie als hilfreich von denen eingeschätzt haben und was nicht.

Wie muss ich mir das – beispielsweise beim Thema Burnout – vorstellen?

Allgemein betrachtet geht man davon aus, dass der ganze Mensch im Burnout steckt. Hypnosystemisch beschreibt man das aber, ausgehend von einem multiplen Ich-Modell so, dass im Menschen gerade eine Seite dominiert, die sich völlig ausgebrannt fühlt. Doch die anderen Seiten, wo er kraftvoll und kompetent ist, die können ja nicht gelöscht sein. Im Gehirn kann man gar nichts löschen. Die internen Feedbackprozesse des Menschen haben sich allerdings zu einem Tunnelblick verengt, so dass er vorübergehend bestimmte Kompetenzen nicht mehr sieht. Das drückt aber auch Kompetenz aus in dem Sinne, dass sein unbewusstes Wissen quasi die Bremse zieht, um auf Bedarfe aufmerksam zu machen und Abgrenzung zu vollziehen. Dieser eine Ich-Anteil, dem es momentan dreckig geht, muss unterstützend und achtungsvoll abgeholt werden. Unser Klient ist nicht aus Schwäche dahin gekommen, sondern aufgrund von gutem Engagement. Diese Sicht bewirkt eine neue, würdigende Sinngebung. Zugleich schauen wir von der ersten Minute an, was könnte der Klient gebrauchen. Nicht nur auf der somatischen Ebene, dafür sind wir die Experten, sondern auch auf der psychischen Ebene: Mit systematischen Vergleichen seiner Problem-, aber auch seiner schon vorhandenen Lösungsmuster unterstützen wir ihn dabei, sein unbewusstes eigenes Wissen über seine optimale Gesundheitsbalance zu reaktivieren. Die Symptome werden übersetzt als Feedbackschleife aus dem unbewussten Wissen, die anzeigt: Ich brauche etwas ...

Nach dem (Rudzinski-)Motto: „Wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her“?

Ich bringe gerne so platte Vergleiche für die Klienten, damit Sie das besser nachvollziehen können: Ich fahre mit dem Auto und habe den Sicherheitsgurt nicht angelegt. Jetzt macht mein Auto massiv störende Geräusche: biep, biep, biep ... Jetzt könnte ich sagen, mein Auto ist gestört, es braucht Medikamente oder eine lange Therapie. Oder ich sage, mein Auto weist, zwar in störender Weise, auf einen sehr wertvollen Aspekt hin, dass ich gefälligst den Sicherheitsgurt anlegen soll. Wenn ich das beachte, dann ist auch Ruhe. Symptome sind Ausdrucksformen kompetenten Wissens über das, was man braucht, wo man gerade einen Mangel erlebt. Das kann man mit hypnosystemischen Methoden schnell herausarbeiten. So bekommen die Klienten eine Beratung, worauf sie besser achten können.

Sind wir da beim Thema Achtsamkeit?

Richtig, wir bauen mit den Klienten eine beobachtende, steuernde Metaposition auf. So können sie nachvollziehen, wie sie in bestimmte Situationen hineingeraten sind, beispielsweise aus anerkennenswerten Loyalitätsgründen, und wie ihr kluger Organismus das bemerkt und mit den Symptomen als Feedback geantwortet hat, um ihn zu schützen. Denn niemand ist einfach nur im Burnout. Er gibt immer Variationen im Erleben, es gibt immer Situationen, in denen es ein bisschen besser war. Und diese Situationen müssen unbedingt in den Fokus. Denn so bekommt der Klient eine stärker selbstverantwortliche und selbstgestalterische Position. Und diese unterstützen wir permanent – allerdings immer in Rücksprache mit dem Klienten.

Wie schnell verlaufen solche Prozesse?

Das geht manchmal ruck zuck: In drei bis vier Tagen sind die Klienten schon viel besser drauf. Dann könnte man sie eigentlich wieder nach Hause schicken. Aber die Werthaltungen, die zugrunde liegen und dazu geführt haben, dass der Klient in den Zustand hinein geraten ist, liegen tiefer und sind oft Ausdruck von Loyalitätskonflikten. Hier beginnt die eigentliche Arbeit erst: Der Klient ist wieder voll in seiner Kraft und muss sich fragen lassen: Wenn diese Kompetenzen doch die ganze Zeit da waren, warum habe ich sie nicht genutzt? Wofür war das anerkennenswert, kompetent und klug, es mir nicht gut gehen zu lassen? Und dann sind wir typischerweise bei Wertekonflikten. Mit diesen Werthaltungen arbeiten wir, damit die Klienten, eine neue, bessere Balance finden können. So erreichen wir eine langfristige, nachhaltige Wirkung. Aber eben nur, wenn man sich dafür drei bis vier Wochen Zeit nimmt.

Knüpfen Sie beim Thema Achtsamkeit bei Jon Kabat-Zinn und seinem Konzept Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) an?

Kabat-Zinn hat sein Konzept ja aus der uralten Vipassana-Meditation abgeleitet. Im Hypnosystemischen gibt es das Ego-State-Modell. Verschiedene Ichs entsprechen verschiedenen Erlebensnetzwerken, die einem vorkommen, als ob man sie wäre – man identifiziert sich damit. Auch Schulz von Thun spricht ja vom „inneren Team“. Das besondere von Kabat-Zinn ist, dass er Begleitstudien initiiert hat. So konnte er zeigen, dass Achtsamkeitsmeditation bei Depression sehr hilft. Das hat geholfen, dass sein Ansatz stärker beachtet wurde. Aber für Hypnotherapeuten war das alles nichts Neues.

Spontane, unwillkürliche Prozesse, die können Sie nicht verhindern, die sind schnell und stark. Sie werden dann zum Problem, wenn man sich von ihnen überfluten lässt oder sich mit ihnen identifiziert. „Anhaften“ nennt das der Buddhismus. Sie brauchen eine Position des Nicht-Anhaftens. Das ist nichts anderes als die Achtsamkeitsposition im MBSR. Diese Position finden Sie auch in der Traumatherapie wieder. Oder eben im Hypnosystemischen. Es ist die steuernde Metaposition, die die Vielfältigkeit koordiniert. Einige unserer Therapeuten in der Klinik bieten übrigens jeden Morgen Achtsamkeitsmeditation an, die passen ja sehr gut zu unseren hypnosystemischen Konzepten.

Sind das die Konzepte, die Sie auch ins Coaching eingeführt haben?

Die Konzepte sind genau die gleichen, die Inhalte sind anders. Gerade im Coaching brauchen die Klienten schnell wirksame, umsetzbare Ansätze. Und die bietet die hypnosystemische Arbeit in x Varianten. Das Problem spielt eine zweitrangige, oft aber dennoch wichtige Bedeutung. An erster Stelle steht das gewünschte Lösungserleben. Da gibt es natürlich Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede zur De Shazer‘schen Position. Steve und ich waren eng befreundet. Wir haben 23 Jahre lang oft zusammen gearbeitet. Steve hat seine Konzepte, ähnlich wie ich auch, aus der Erickson‘schen Hypnotherapie abgeleitet: Das Erleben wird erzeugt, immer wieder neu, ohne dass wir es merken. Und zwar durch Fokussierung von Aufmerksamkeit.

Wenn man Lösungserleben unterstützen will, muss man die Aufmerksamkeit vor allem dahin lenken: Woran würden Sie merken ...? Dies hat Steve auch immer betont, seine berühmte Wunderfrage hat er aus einer einzigen Technik vom Erickson angeleitet: der Pseudoorientierung in der Zeit. Im Gehirn gibt es eben immer nur Bilder in der Gegenwart. Wenn Sie also hypothetisch imaginieren, haben Sie das Erleben „jetzt“. Das können wir im Coaching wunderbar gebrauchen: Nach dem wertschätzenden Begleiten oder Pacing fragen Sie den Klienten: „Wofür erzählen Sie mir das jetzt?“ Also nicht: warum? Sondern: Was wäre das gewünschte Ergebnis? Was ist das Ziel? Diese Ziele müssen die Klienten aber eigenständig umsetzen können.

Ist das nicht eine fatale Falle im Coaching? Dass Klienten mit Zielen ins Coaching kommen, die sie nicht eigenständig umsetzen können? Vom Coach erwarten sie dann, dass er „zaubert“ ...

Daran scheitert man – als Klient wie als Coach. Der hypnosystemisch arbeitende Coach muss also die Klienten sofort dabei unterstützen, eigenständig umsetzbare Ziele zu entwickeln. Wenn wir die ausgehandelt haben, geht der Fokus sofort auf Prozesse, wo sie das Zielerleben oder Ansätze davon schon mal erlebt haben. Wir nennen das eine kompetenzorientierte Altersregression auf „Muster des Gelingens“. Platt gesagt ist hypnosystemisches Arbeiten die Kunst, sich in hilfreiches Erleben hinein zu versetzen. Die Kompetenzen werden analysiert und in die anstehende Situation übertragen. Zugleich wird systemisch geschaut, welche Reize können den Klienten wieder von der Spur bringen. Wie kann man das verhindern oder das Dranbleiben unterstützen. So ist hypnosystemisches Arbeiten fürs Coaching eigentlich noch viel erfolgreicher anwendbar als in der Therapie: Was die Klienten selber als Schwächen erleben, machen wir als unterschwellige Kompetenz verstehbar. Das ist ein ständiger, aufwertungsorientierter Ansatz, der die Klienten schnell in ihre Kraft bringt.

Sie betonen die Gemeinsamkeiten mit Steve De Shazer. Gibt es da nicht auch Unterschiede?

Es gibt sehr gravierende Unterschiede, die ich in vielen Veröffentlichungen auch sehr deutlich gemacht habe. Dort werden Probleme – dies ist ein wörtliches Zitat von Steve – als „shit happens“ behandelt, also als unnützer „Shit“, und einseitig auf Lösungsentwicklung gesetzt. Dies halte ich in vielen Fällen für extrem ungünstig und auch in der Wirkung oft für sehr abwertend gegenüber der Erfahrung von Klienten – auch wenn dies so nicht gewollt ist. Die Bewertung als „Shit“ ist keine Wahrheit, sondern eine Konstruktion, die das Problemerleben nur als Defizit behandelt und damit Klienten auch sehr schwächen kann. Mit hypnosystemischen Konzepten kann man praktisch in allen Fällen aber schnell überzeugend herausarbeiten, dass die „Probleme“ jeweils vielmehr eher als Loyalitätsleistungen verstehbar werden.

Menschen erleben unbewusst zum Beispiel oft Zwickmühlen in der Art, dass sie befürchten, dass sie in Beziehungen andere belasten könnten, wenn sie ihre Kompetenzen kraftvoll ausleben und ihr Wohlergehen wichtig nehmen. Dann blockieren sie als Lösungsversuch ihre eigenen Kompetenzen und leiden dabei aber gleichzeitig. Dies ist alles andere als „Shit“! Die wertvollen Haltungen und Lösungsstrategien, die im Problemerleben versteckt sind, können mit hypnosystemischen Methoden sehr gut herausgearbeitet werden und dann für eine ganzheitliche Stärkung der Klienten genutzt werden. Dabei werden ihre Zielkonflikte auch konstruktiv aufgelöst und sie werden in ihren vergangenen Leistungen auch viel besser gewürdigt, was auch wieder mehr Kraft gibt. Aber es gibt noch viele andere wichtige Unterschiede zu De Shazer, die auszuführen, würde hier den Rahmen sprengen, in meinen Veröffentlichungen habe ich die ausführlich dargelegt.

Wie erleben Sie die Coaching-Szene hierzulande?

Die ist breit und ausgefranst, da könnte es einen glatt grausen. Viele Klienten können die Branche nicht überblicken. Das ist aber auch gar nicht deren Job. Deshalb haben wir auch den DBVC gegründet. Hauptmotiv war damals, das Feld, in dem es ja eine Menge Wildwuchs gibt, zu strukturieren und hohe Qualitätsmaßstäbe aufzubauen. Die Trends laufen inzwischen alle in die systemische und kompetenzfokussierende Richtung.

Der DBVC wurde 2005 gegründet. Können Sie die Arbeit schon bilanzieren?

Ich selber bin nun nicht der Aktivste in der Verbandsarbeit, aber ich finde, der DBVC hat wichtige Impulse bei Qualitätskriterien gegeben. Das war ja auch erklärtes Ziel, sich so als Premium-Verband aufzubauen, weniger aus marktpolitischen Gründen, die meisten Mitglieder hatten das ja gar nicht mehr nötig. Die Standards wurden gesetzt und man kann diesbezüglich sicher noch mehr machen, aber das verlangt natürlich auch einen enormen Aufwand. Wir haben viel Arbeit reingesteckt. Und für die sechs Jahre können wir wirklich zufrieden sein. Wir werden auch weiterhin den Trend setzen.

Stichwort Wissenschaft: Es gibt die Tendenz, Coaching an Hochschulen zunehmend zu implementieren. Einerseits als Angebot an Studenten, sich in schwierigen Situationen coachen zu lassen, andererseits als Lehrangebote. Erwächst da eine neue Konkurrenz? Oder kann Synergie mit dem etablierten Weiterbildungsmarkt entstehen?

Die Szene wird sich verändern, da bin ich mir sicher. Ich bin aber nicht sicher, ob das in Konkurrenz geschehen muss. Ich bin beispielsweise schon seit vielen Jahren an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Masterlehrgang tätig. Meine Weiterbildungsbausteine werden von denen im Masterprogramm anerkannt. Davon machen aber gar nicht so viele Gebrauch. Ich vermute, es liegt daran: Was in der Hochschule angeboten wird, ist oft recht formalisiert. Da muss man Prüfungen ablegen und so weiter. Viele – vor allem gestandene Berater – haben am Master gar nicht so viel Interesse, sondern wollen direkt für ihre Praxis profitieren, die brauchen auch kaum mehr ein solches Zertifikat. Höchstens zehn Prozent interessiert das.

Aber die Bachelor-Studierenden sind Anfang 20!

Für die ist das in der Tat viel interessanter. Vor allem, wenn die ein Masterstudium mit Beratungsschwerpunkt direkt anschließen. Aber deswegen muss das eben auch kein Gegensatz sein: Die Leute, die zu mir kommen, sind typischerweise keine Anfänger. Die haben Felderfahrung, die jungen Leute nicht; und es ist auch finanziell für die jungen Leute eher schwierig ... Die Hochschulangebote sind also eine interessante Erweiterung des Angebots, man könnte auch sagen, eine ergänzende Arbeitsteilung. Die Masterabsolventen kommen dann später in die Weiterbildungen zu uns, die ihnen viel direkt anwendbares Praxiswissen bieten, was sie in den Hochschulen nicht bekommen. Das ist doch für beide Seiten viel interessanter. Ähnliches haben wir übrigens im Bereich der Psychotherapie erlebt. Da haben die Therapeuten zunächst als „Pflicht“ Ausbildungen in Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierter Therapie gemacht. Später kommen sie zu mir für die „Kür“.

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