Was hat es mit Unternehmen und ihren Krisen auf sich und wie können Coaches von diesem Wissen profitieren? Krisen können sich beispielsweise in verschiedenen Symptomen wie Umsatzrückgang, rückläufiger Innovationsfähigkeit, sinkenden Marktanteilen, Mitarbeiterschwund oder im Scheitern von Projekten äußern. Ihre Ursachen sind zumeist diffus und lassen deswegen oft keine direkten Rückschlüsse darauf zu, was konkret die Krise verursacht hat.
Manager werden in westlich geprägten Industrieländern auch heute noch nach dem Paradigma ausgebildet, dass Krisen etwas Schlechtes sind, das es unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Unternehmenskrisen gelten entweder als Folge von Fehlentscheidungen und schlechter Führung oder aber als von außen induziert – beispielsweise durch technologische Disruptionen und neue Businessmodelle. Doch ist die zugrundeliegende Denkweise wirklich zutreffend? Natürlich hat eine globale Finanzkrise das Zeug dazu, Firmen zum Aufgeben zu zwingen. Doch in Summe lassen sich damit die wenigsten Firmenpleiten erklären. Was also stürzt Unternehmen wirklich in Krisen? Und sind diese Krisen in jedem Fall etwas Schlechtes? Was, wenn negative Entwicklungen nicht etwa die Auslöser von Krisen sind, sondern vielmehr ihre Symptome? Was also, wenn es nicht vordergründige singuläre Faktoren sind, die Unternehmen in Krisen stürzen, sondern vielmehr ein geschwächtes organisationales Immunsystem, das im Hintergrund negativen Entwicklungen Tür und Tor öffnet? Aus Wissenschaftsdisziplinen wie Medizin, Psychologie, Ökonomie und Soziologie wissen wir, dass verschiedene Arten von Systemen verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen. Wenn sich ein Organismus oder eine Organisation von einem Reifegrad zum nächsten entwickelt, so durchläuft er zwangsläufig eine Krise, die zwar unterschiedlich stark erlebt, aber nicht übersprungen werden kann. Beim Jugendlichen markiert die Pubertät einen solchen Übergang und bei Teams die sogenannte Storming-Phase. Aktuelle Forschungen (vgl. Drath, 2018) legen nahe, dass es auch in komplexen Organisationen regelmäßig zu systemimmanenten Krisen kommt. Dies passiert immer dann, wenn sich ein Teil einer Organisation bereits von einer Entwicklungsstufe zu einer anderen weiterentwickelt hat, während ein anderer noch auf der bestehenden Stufe verharrt. Doch um welche Entwicklungsstufen handelt es sich hierbei?
Im Jahr 2014 veröffentlichte der belgische Unternehmensberater Frederic Laloux in seinem sehr lesenswerten Buch „Reinventing Organizations“ ein Modell, das die Erkenntnisse und Konzepte zahlreicher Wegbereiter wie Jean Piaget, Clare Graves, Don Beck, Ken Wilber, Edgar Schein und einigen anderen auf Unternehmen und ihre zugrundeliegende Motivation bzw. Intention anwandte. Tabelle 1 zeigt die einzelnen Entwicklungsstadien im Überblick.
Die zentrale These von Laloux ist, dass eine Organisation stets basierend auf einem bestimmten Menschenbild entsteht und damit auch unbewusst ein bestimmtes Motiv verfolgt. Dieses ist nicht notwendigerweise bewusst gewählt, sondern entsteht basierend auf dem Wertesystem und den unbewussten Bedürfnissen der Gründer und der aktuellen Führungsmannschaft.
Zeitgleich und weitestgehend unbeeinflusst von der Arbeit von Graves, Beck, Wilber und Schein entstand in Europa ein weiteres Modell, das die Entwicklung von Organisationen auf einer Metaebene beschreibt (siehe Tabelle 2). Entwickelt wurde es vom niederländischen Sozialökonom Bernard Lievegoed gemeinsam mit dem in die Niederlande umgesiedelten österreichischen Ökonomen und Konfliktforscher Friedrich Glasl. Lievegoed war stark von der anthroposophischen Lehre des österreichischen Publizisten und Esoterikers Rudolf Steiner beeinflusst, einer Weltanschauung, die die Ganzheit des Menschen und seine Einheit mit der ihn umgebenden Welt betont. In der anthroposophischen Lehre durchläuft jeder Mensch definierte Entwicklungsstadien und muss darin Entwicklungsaufgaben bewältigen, um sich zu entfalten und weiterzuentwickeln. Lievegoed und Glasl leiteten aus diesem Ansatz das Modell einer universellen Entwicklungslogik von Organisationen ab, indem sie sich im Unterschied zu Laloux aber nur auf Organisationen der Gegenwart bezogen. Auch spielte hier weniger das Menschenbild oder die Intention des Unternehmens eine Rolle, sondern vielmehr die individuelle Entwicklungsstufe, ähnlich wie bei einem Heranwachsenden.
Die Crux bei diesem Modell ist die Erkenntnis, dass jede neu dazugewonnene Kompetenz zunächst Weiterentwicklung ermöglicht und fördert. Wird diese Entwicklung jedoch immer weiter betont, führt dies in unmittelbarer Folge dazu, dass die Entwicklung der Organisation in einer Krise mündet.
Die Entwicklungsmodelle von Laloux auf der einen und Lievegoed und Glasl auf der anderen Seite bieten zusammen ein komplementäres Koordinatensystem, um die Entwicklung von Unternehmen in ganzheitlicher Art und Weise zu beschreiben. Das Reifegradmodell der Organisationsentwicklung stellt eine Hypothese dar, die schlüssig dabei hilft, Entwicklungen, die Coaches intuitiv in Organisationen wahrnehmen, in eine Struktur einzuordnen und damit beschreibbar und verständlich zu machen.
Während Laloux aus der Arbeit von Graves, Beck, Schein und Wilber das „Warum“, also die Primärmotivation oder auch Existenzberechtigung einer Organisation in den Vordergrund stellt, geht es bei Lievegoed und Glasl eher um die Evolution des „Wie“ in der internen und externen Zusammenarbeit und Kommunikation. Beide Achsen spannen ein Feld auf, das die Intention einer Organisation beschreibbar macht. Wie in der Abbildung (S. XX) verdeutlicht, lassen sich die zeitliche Entwicklung und das Wachstum einer Organisation hier gut mit allen Höhen und Tiefen darstellen. Die Linie stellt den Verlauf der Evolution dar, die ein Unternehmen im Laufe der Jahre genommen hat. An den Übergängen zwischen den verschiedenen Quadranten sind die Krisen des Unternehmens verdeutlicht.
In dem hier gezeigten Beispiel geht es um eine beispielhafte Unternehmensberatung, die als leistungsorientiertes Unternehmen gegründet wurde (A). Im Rahmen der weiteren Entwicklung wurden Strukturen, Prozesse, Zuständigkeiten und Methodiken entwickelt und von den langjährigen Mitarbeitern als selbstverständlich akzeptiert (B). Durch die persönliche Weiterentwicklung des Top-Managements und um den geänderten Ansprüchen der jüngeren Generation zu begegnen, begann das Unternehmen, sich sozial zu engagieren und distanzierte sich erstmals von Aufträgen, die aus einem gesellschaftlichen oder ökologischen Blickwinkel nicht sinnvoll erschienen (C). Auch wurde mehr Wert darauf gelegt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Dies blieb nicht ohne Konflikte und hatte zur Folge, dass einige langgediente Leistungsträger das Unternehmen verließen, weil ihnen die neue Ausrichtung zu „esoterisch“ war. Dennoch war die Neuausrichtung hilfreich dabei, in den nächsten Jahren mehr Frauen in Führungspositionen zu entwickeln. Trotz verändertem Geschäftsgebaren und sozialem Engagement blieb die Organisation innerlich eine ganze Weile auf der Stufe der Differenzierungsphase stehen, um die internationale Expansion zu bewerkstelligen und alles zusammenzuhalten. Erst als dies erfolgt war, wurde der Übertritt in die Integrationsphase vollzogen (D) und mehrere teilautonome Einheiten ausgegründet, um wieder schneller am Markt agieren zu können. In einem weiteren Entwicklungsschritt wurde das Geschäftsmodell erneut angepasst und diversifiziert. Durch strategische Allianzen mit Softwarehäusern und Co-Innovations-Projekten mit Kunden wurden neue toolgestützte Beratungsansätze pilotiert (E). Dies erforderte einiges an Investitionen und Managementfokus und blieb nicht ohne Misserfolge, was insgesamt die Profitabilität über mehrere Jahre belastete und ebenfalls für Konflikte sorgte. Aber auch diese konnten schlussendlich überwunden werden.
Wie bereits beschrieben, stellen die von Laloux auf der einen und Lievegoed und Glasl auf der anderen Seite beschriebenen Reifegrade in Kombination einen typischen Entwicklungspfad eines Unternehmens dar, der stark mit Weltsicht und Denkweise der Führungsriege korrespondiert. Die mentalen Modelle der Führungsriege strahlen dabei auf den Rest der Organisation ab und prägen diese über die Zeit.
Es ist wichtig festzuhalten, dass aus Sicht der organisationalen Resilienz keine Entwicklungsstufe und kein Reifegrad für sich genommen besser ist als andere. Bezogen auf die Primärmotive bedeutet das, dass insbesondere evolutionäre Organisationen nicht resilienter als ihre traditionellen, modernen oder postmodernen Pendants sind. Traditionelle Organisationen wie die Katholische Kirche bestehen seit über 1.700 Jahren, während es die ältesten noch bestehenden traditionellen Unternehmen auf immerhin 1.400 Jahre bringen. Das ist an Langlebigkeit schwer zu überbieten. Es ist außerdem möglich und sogar wahrscheinlich, dass sich organisationale Resilienz für Unternehmen in Abhängigkeit ihrer Entwicklungsstufe in gänzlich anderen Verhaltensweisen äußert. So ist für die Katholische Kirche das Festhalten an einem klaren moralischen Verhaltenskodex und eine durch und durch hierarchische Struktur sicher von elementarer Wichtigkeit. Für Einwohner von modernen Industrienationen mag sich dies häufig nicht mehr stimmig und zeitgemäß anfühlen, doch das Wachstum der Kirche erfolgt vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, die noch starke Züge von sozialer Ungerechtigkeit, Willkür und Gewalt tragen. Diese gefährliche und unsichere Umgebung lässt die Klarheit, Berechenbarkeit und das Heilsversprechen dieser Organisation für viele ihrer Mitglieder als attraktiv erscheinen. Umgekehrt bedeutet resilientes Verhalten für ein postmodernes Unternehmen wie SAP, dass es eine komplett neue Produktpalette erfindet und mit großem Aufwand in den Markt treibt, während es noch unangefochtener Marktführer in der alten Technologie ist. Für die Langlebigkeit einer Organisation ist also nicht die Entwicklungsstufe an sich verantwortlich, sondern vielmehr die Frage, ob ihre Verhaltensweisen zur Dynamik des Umfelds passen, in dem es agiert.
Wenn ein Unternehmen dabei ist, seine bisherige Weltsicht zugunsten einer anderen aufzugeben, z.B. im Übergang von der modernen zur postmodernen Phase, kommt es vermehrt zu Krisen. Die Schwierigkeiten bei solchen Wachstumsschritten haben damit zu tun, dass es bei den handelnden Personen noch keine erprobten Verhaltensweisen für neue und herausfordernde Situationen gibt, die altbewährten Muster aber gleichzeitig nicht mehr greifen. Die Entwicklungsstufe der Mächtigen in einem Unternehmen limitiert daher dessen Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Entwicklung führt bei den Betroffenen zu Stress, Frustration und Unsicherheit und immer wieder auch zu Rückfällen in bisherige Muster – insbesondere dann, wenn die Dinge nicht so laufen wie geplant. Noch schlimmer wird es, wenn die Weiterentwicklung nicht aus freien Stücken geschieht, sondern in irgendeiner Form verordnet wird. Wie Coaches aus eigener Anschauung wissen, lässt sich Entwicklung nicht anweisen.
Das Primärmotiv ist die organisationale Entsprechung des Menschenbilds der Führungskräfte, die eine Organisation prägen, und bestimmt, welche Erwartungen diese an Mitarbeiter haben. Im Paradigma der modernen Organisation gehen sie beispielsweise davon aus, dass Mitarbeiter prinzipiell eher bequem sind und von alleine nicht ihr Bestes geben. Daher muss man ihre Leistung messen und überwachen. Führungskräfte, die ein postmodernes Weltbild haben, gehen hingegen davon aus, dass Mitarbeiter dann ihr Bestes geben, wenn sie fair behandelt werden und einen Sinn in ihrer Arbeit sehen. Jede Primärmotivation und ihre Grundannahme hinsichtlich der Menschen im Allgemeinen und der Mitarbeiter im Speziellen bestätigt sich dabei selbst. Das macht es so schwierig für eine Organisation, von einer Entwicklungsstufe auf eine nächste zu gelangen, ohne die führenden Personen auszutauschen.
Zu jedem Zeitpunkt gibt es Teilbereiche in der Organisation, die bereits in einzelnen Aspekten auf einer höheren Phase angelangt sind. Ebenso mag es zum gleichen Zeitpunkt Organisationseinheiten geben, die noch auf einer anderen Ebene verharren. Je mehr sich ein Unternehmen allerdings zeitgleich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befindet, desto mehr Spannungen entstehen, die bewältigt werden müssen. Unternehmensinterne Konflikte sind daher oftmals nichts anderes als Symptome eben dieses „schiefen Wachstums“. Damit sich eine Organisation gesamthaft weiterentwickeln kann, muss eine kritische Masse an Mitarbeitern verschiedener Abteilungen über ein Weltbild und Denkmuster verfügen, die zur neuen Entwicklungsstufe passen. Diese stellen dann den Kristallisationskeim der neuen Entwicklungsstufe dar, der auf den Rest der Organisation wie ein Sog wirkt und so Spannung erzeugt.
Coaches, die in vielen Fällen Führungskräfte durch Veränderungsprozesse begleiten, bauen ihre Arbeit häufig auf der Annahme auf, dass vor allem individuelle Kompetenzen wie Kommunikations- und Führungsqualitäten sowie das politische Geschick eines Managers maßgeblich über den Erfolg seiner Mission entscheiden. Der Rest des Systems wird oft in Form von Stakeholdern in das Beratungssetting eingebunden, um die jeweiligen Interessen und Bedürfnisse zu antizipieren. Doch diese Annahmen können viele Dynamiken nicht erklären, die in komplexen Organisationssystemen ablaufen. Die hier vorgestellten Ansätze der organisationalen Resilienz und der Reifegrade von Unternehmen bieten die Möglichkeit, die Organisation an sich und ihre Entwicklungsstufe im Coaching mit zu beleuchten. Durch die Idee der entwicklungsinduzierten Krisen lassen sich viele Gruppenprozesse im Unternehmen wie Silobildung, fehlendes Engagement, Verunsicherung und undurchsichtige Konflikte erklären und es lassen sich durch die Führungskraft auch Lösungsansätze ableiten, die andernfalls nicht augenfällig wären. Ein Beispiel dafür sind entwicklungsorientierte Teamprozesse, bei denen der Impuls für Veränderung nicht von oben kommt, sondern sich vielmehr aus der Mannschaft heraus generiert. Um diese zusätzliche Perspektive mit im Coaching zu beleuchten, ist es für Coaches wichtig zu verstehen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Organisationen sich entwickeln. Wenn Coaches mit Führungsteams arbeiten, kann ein lohnender Schritt hin zu mehr Einigkeit, Verbindlichkeit und Engagement darin bestehen, über den aktuellen Reifegrad der Organisation und das angestrebte Entwicklungsziel Einigkeit zu erzielen. Dieser Schritt – und damit das Verständnis der jeweiligen Vor- und Nachteile einzelner Entwicklungsschritte – kann durchaus aufwendig aber für das Team sehr erkenntnisreich sein. Ein Teil dieser Klärung sollte auch darin bestehen, sich über die Krisen einig zu werden, die es zu antizipieren gilt, und zu fragen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das Leitungsgremium diese bewältigen kann. Hierbei gilt allerdings ein wichtiger Grundsatz: Ein Coach kann kein Klientensystem effektiv darin unterstützen, eine Entwicklungsstufe zu erreichen, die oberhalb der eigenen liegt. Anders formuliert müssen Menschenbild, Führungsanspruch und Organisationsverständnis von Coach und Klient bzw. Klientensystem zueinander passen. Diese Erkenntnis erfordert einiges an Selbstreflexion aufseiten des Coachs und braucht die Bereitschaft, zu manchen Mandaten „Nein“ zu sagen.
Dieser Beitrag basiert auf: Drath, Karsten (2018). Die Resiliente Organisation. Freiburg: Haufe.