Bahnbrechende Innovationen bringen neue lange Wellen der Wirtschaft und Krisenimpulse befeuern sie. Corona ist in der Lage, durch die Massivität seiner mindestens zweifachen Auswirkung – auf das soziale Alltagsverhalten und auf die Wirtschaft – zu einem „major game changer“ zu werden. Das Gebot der Distanz und des Zuhause-Bleibens hat gravierende neue Erfahrungen erzeugt: digitales Arbeiten, örtliche Veränderung des Arbeitsmittelpunktes ins Homeoffice, Reduzierung der Pendlerströme. Corona offenbarte konkrete Veränderungserfahrungen im Alltag. Gleichzeitig hat die Krise aber auch ein ungeahntes Ausmaß an disziplinierter Anpassungsfähigkeit und Solidarität der Menschen zueinander in einer von Unsicherheit gekennzeichneten Situation gezeigt. Welche Auswirkungen hat dies für Coaching? Muss man sich auf eine neue Welt einstellen oder wird nach der Coronakrise wieder alles wie vorher?
Corona hat Verhaltens- und Erlebensmuster praktisch erfahren lassen, die vorher zwar häufig angedacht, aber wegen vieler Hindernisse nicht umgesetzt wurden. Arbeiten, ohne in die Metropolen zu pendeln, Konferenzen per Internet, Reduzierung der Reisen und von Teilen des Konsums – plötzlich war vieles möglich. Nachbarschaftshilfe wurde belebt und erinnerte an die große Hilfsbereitschaft von 2015, als Geflüchteten mit viel ehrenamtlichem Engagement geholfen wurde.
Wirtschaft entwickelt sich einerseits kontinuierlich durch stetige technische und soziale Anpassungen. Gleichzeitig gibt es – aus der Distanz betrachtet – aber auch große, disruptive Veränderungen, bei denen sich Wirtschaftsbereiche im Großen verändern. Dazu gibt es Beschleuniger. Bahnbrechende Innovationen werden damit in Zusammenhang gebracht. Diese scheinen nicht unabhängig von Krisenerscheinungen zu sein. Der Vulkanausbruch des Tambora in Indonesien im Jahre 1815 brachte zwei kalte Sommer mit schlechten Ernten und Hungersnöten in Europa. Die europäischen Wirtschaften waren enorm getroffen. Die Nahrungsmittelversorgung funktionierte nicht mehr. Es kam zu großen Auswanderungswellen nach Amerika. Insofern korrespondieren wesentliche Schritte in Entwicklungen mit massiven externen Einflüssen auf die menschliche Gesellschaft, die vonseiten der Natur möglich sind. Vielleicht war die Eisenbahn auch die Antwort auf die Völkerwanderungen, die nach der großen Krise 1815/16 mit dem Vulkanausbruch in Indonesien erfolgte. Der Aufstieg Amerikas zur führenden Wirtschaftsmacht und die Ablösung Englands sollten bald folgen.
Zwei wirtschaftliche Veränderungsformen, die kontinuierliche und die disruptive, zeigen ebenfalls Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang. Meinte Karl Marx hier eine klare Reihenfolge zu sehen, so kann man wahrscheinlich eher von einer Wechselwirkung ausgehen.
Dass nun ein die Menschheit schon immer begleitendes, aber auch oft vergessenes Phänomen – der Mensch als Wirtstier für gefährliche Viren – in den Vordergrund rückte, hätte man kaum gedacht. Viele zweifelten es auch zunächst an, weil sie es nicht sehen und fühlen konnten. Neben Raub- und Beutetier hat der Mensch eine Tradition als Wirtstier. Hier zeigt sich unsere grundlegende Verwobenheit mit der Natur. Der Mensch ist nicht die „Krone der Schöpfung“, der Gestalter von allem, sondern aus mancher Perspektive, z.B. der des Virus, ein einfacher Bestandteil von Natur, den sich andere Lebewesen zunutze machen. Die Vernetzung des Menschen mit der Natur wird deutlich.
Und erstaunlicherweise hatten sich in der Coronakrise die ersten Antworten auf Viren-Pandemien gegenüber früher wenig verändert. Die Pest im 14. Jahrhundert wurde von den Venezianern und Genuesern in ähnlicher Weise beantwortet, wie wir es mit Corona getan haben. Der andere Mensch wird gefährlich, es gilt, ihn fernzuhalten. Alle Zusammenkünfte werden radikal reduziert. Man stellt die Menschen unter Quarantäne. Die kleinen Erreger, die den Menschen als Wirtstier nutzen, haben eine Macht und Kraft, die den Menschen und seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gewohnheiten in die Knie zwingen. Außerdem machten sie wieder klar, wie wenig wir über bestimmte Lebensformen und biologische Prozesse wirklich wissen. Als psychologische Konsequenz könnte man daraus auch eine gewisse Bescheidenheit gegenüber der Natur ableiten.
Der Wirtschaftskreislauf weist bekanntlich Schwankungen in Ausmaß und Intensität auf. Dies bezeichnet man als kurzfristige Konjunkturschwankungen. Als Kondratjew-Wellen bezeichnet man die großen Zyklen der Wirtschaft. Es ist eine Einteilungsform von Wirtschaftszyklen nach bestimmten Hauptinnovationen. Interessanterweise wird der sowjetische Wissenschaftler Nikolai Kondratjew hier als Namensgeber für diese Wellen genommen. Er betrachtete zuerst die Phase der Dampfmaschinen (1780–1840), dann die der Eisenbahnen (1840–1890), dann Elektrotechnik und Chemie (1890–1940). Nach seiner Ermordung durch Stalin 1938 wurden seine Ideen fortgeführt und die Automatisierung mit Computern (1940–1990), ab 1990 schließlich Informations- und Kommunikationstechnik als Kondratjew-Wellen benannt. Natürlich haben diese früheren Wellen nicht zu einem bestimmten Datum begonnen, sondern haben sich in einem Zeitraum entwickelt.
Die menschliche Gewohnheitswirklichkeit lässt solche gravierenden Veränderungen nicht gleich bemerken. Die Aussage von Kaiser Wilhelm II, der aus der Pferdezeit kam, das Auto habe „keine Zukunft“, zeigt auch, wie sehr man manchmal falsch liegen, beziehungsweise auch ein Opfer seiner Gewohnheitswirklichkeit sein und so eine disruptive Veränderung übersehen kann.
Nefiodow hat dann bereits 1996 in seinem Buch „Der sechste Kondratieff“ – er benutzt die alte Namensschreibweise – interessanterweise Gesundheit als Hauptmerkmal der Gesellschaft vorhergesagt, aber damit eher den Kampf gegen Burnout und ähnliche gesundheitliche Beeinträchtigungen durch akzelerierte Arbeitsformen gemeint. In Kondratieff und Händeler (2013) wird in diesem Zusammenhang für die bessere Förderung der Humanressourcen und eine angemessenere Unternehmenskultur plädiert.
Wirtschaftlich fällt Corona in eine Zeit, in der man immer noch mit den Folgen der Finanzkrise von 2008/2009 kämpft (Stelter, 2020). Diese ist noch nicht aufgearbeitet, weil hier zur Bewältigung Instrumente eingesetzt wurden oder eingesetzt werden mussten, die jeder vorherigen wirtschaftspolitischen Expertise widersprachen. Und immer noch reiben sich viele Ökonomen die Augen, dass die eingesetzten Instrumente auch wirklich funktionieren können. Einige sehr Konservative wollen das nicht wahrhaben. Das neue Paradigma erscheint ihnen abartig. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis alles zusammenbreche. „Crashpropheten“ haben Hochkonjunktur. Eine große Befürchtung ist, dass – wie in den 1920er Jahren die ungelösten Folgen des Krieges – nun die ungelösten Aufgaben der Wirtschaft, die sich immer noch am Nullzins manifestieren, noch zu großen Problemen führen könnten. Zumindest haben alle, die auf die Zinseinkünfte angewiesen waren (Versicherungen, Pensionskassen, Sparer, Pensionäre), schon einiges an Enteignung erlebt. Andere (Aktieninvestoren, Immobilienbesitzer) haben durch das Wegbrechen des Zins-Marktes ungeahnte Aufschwünge erlebt. Die Welt ist kapitalistischer geworden. Sichere Spareinkommen sind weggefallen. Es gibt nur noch Rendite für Risiko. Allerdings hat die Coronakrise die „Crashpropheten“ überholt. Der Crash kam ganz anders als prophezeit.
Auf der psychologischen Ebene werden durch ein gefährliches Virus Existenz- und Todesangst ausgelöst. Nur so ist auch die schnelle Veränderungsfähigkeit erklärbar. Menschen haben sich in ihren Freiheiten und Gewohnheiten in hohem Maße verändert. Hirnphysiologisch ist in diesen Extremsituationen das limbische System mit dem Zentrum der Amygdala angesprochen. Hier geht es um Flucht, Kampf und Einfrieren (Flight, Fight, Freeze). Die Reaktion ist extrem und wenig willkürlich gesteuert. Aber auch die Großhirnrinde, der kognitive Apparat mit seiner Kreativität, wird nach einiger Zeit sehr wichtig. Entsprechend gibt es gerade in Bezug auf Krisen eine Reihe von Erfahrungen, die als Lebensweisheiten formuliert wurden. Die schlimmste ist sicher: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Leider ist sie nicht ganz falsch, wenn man betrachtet, was alles während des Zweiten Weltkrieges erfunden wurde. Aber ebenso gilt: „Not macht erfinderisch.“ Diese vermeintlichen Lebensweisheiten deuten den Innovationsdruck an, der in Krisenzeiten herrscht, aber auch die Leistungsfähigkeit, die sich zeigt, wenn es um Wesentliches geht.
Natürlich haben viele entsprechend der Veränderungskurve von Elisabeth Kübler-Ross (1972) zunächst die Phasen fixiert, die keine wirkliche Neuorientierung möglich machen (siehe Abb. 1). Sie verharrten – wohlbemerkt durchaus auch unbewusst getrieben – in der Verleugnung, der Agitation, um nicht die emotionale Schärfe der Bedrohung auf gesundheitlicher, aber auch wirtschaftlicher Ebene zu spüren. Aber erst das Durchlaufen der emotionalen Verabschiedungsphase macht handlungsfähig. Abweichend von der ursprünglichen Darstellung der Phasenabfolge wäre an dieser Stelle auch eine Erweiterung möglich, indem man nach der emotionalen Akzeptanz eine Besinnungsphase einführt. Diese könnte mit der Presencing-Phase der Theorie U vergleichbar sein, die eine Innovation von Verhalten – das gilt auch für soziale Innovationen – in Form eines Us von der Aufnahme dessen, was wir wissen, hin zum Neuen noch durch eine besondere Phase schickt. Das Presencing-Stadium aus Otto Scharmers Theorie U beschreibt die Phase, in der ich „leer“ bin von dem bisher Gesehenen, Erlebten, den bisherigen Konzepten, dem „Downgeloadeten“ (Scharmer, 2009). Nur in dieser quasi-meditativen Phase kann sich fundamental Neues und auf geänderte Bedingungen Angemessenes entwickeln, so Scharmer sinngemäß. Die Coronakrise war für Viele eine Art Ins-Presencing-geworfen-Sein. Man stand plötzlich so da, dass die bisherige Expertise nichts mehr wert war.
Ein „U“ ist auch in einer anderen Theorie – ganz vom Bisherigen abweichend – wichtig: die Unsicherheit aus der VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität). Sie war plötzlich stärker da als je. Das galt auch wirtschaftlich. War in Bezug auf Digitalisierung und Klimawandel schon länger von disruptiven Veränderungen die Rede, betrachteten die meisten dies allerdings – faktisch unbetroffen – von einem hohen Wohlstandsniveau ausgehend, das wenig Leidensdruck enthielt. Und wenig fand wirklich statt. Nun gelten seit 2020 neue Erfahrungswerte in der Gesellschaft und für jeden Einzelnen. Sehr bald – schon im März 2020 – traten Beiträge wie der des Zukunftsforschers Matthias Horx (2020) auf, die prognostizierten, was aus Corona folgen würde. Sie brachten vermeintlich Orientierung und Zuversicht in die Unsicherheit. Horx Szenario vom „Danach“ im Herbst 2020 wurde nicht zur Realität. Corona hat eine besondere, neue Qualität, bleibt länger als gedacht und hält die Gesellschaft in einer Spannung, die es vorher nicht gab.
Was hat sich nun im Einzelnen gezeigt? Damit soll angeknüpft werden an Beiträge, die sich mit dem befassen, was wir aus der Corona-Zeit mitnehmen. Hervorzuheben ist wegen seiner umfassenden Betrachtung Schmidt-Lellek (2020), der „in Thesenform Annäherungsversuche zum Verständnis der psychosozialen Situation in der Krise und zu verschiedenen beratungsrelevanten Fragestellungen beschreibt“ (ebd., S. 401). Damit wird Einiges zur Erfahrung, das im Rahmen individueller Resilienzentwicklung interessant ist. Durch Corona wird eine Fürsorge für alle vier Ecken des Resilienzquadrats (siehe Abb. 2) herausgefordert. Die vier Ecken können der Reflexion im Coaching Struktur geben (vgl. Mohr, 2017): Die zentral wichtigen (1) externen Ressourcen in Form unterstützender Beziehungspartner, aber auch das Einbeziehen der Natur konnten viele Menschen in der Corona-Zeit deutlich spüren. Wer z.B. Meditation übt, kann die (2) Körper-Geist-Verbindung unterstützen. Die (3) internen Ressourcen wie Problemlösefähigkeit oder Improvisationsvermögen sind vielfach gefragt. Als vierte Ecke des Resilienzquadrats gilt es, die Frage nach dem (4) Sinn zu beantworten: Welchen Sinn kann ich mir auf das Auftreten des Virus in meiner Lebenszeit und für meine Lebensumstände machen?
Im zweiten Teil des Beitrages (Coaching-Magazin 4/2021) soll thesenartig und exemplarisch entlang der folgenden fünf Bereiche betrachtet werden, welche Auswirkungen die neue Entwicklung – auch auf das Coaching – hat. Die zentralen, auf das Coaching bezogenen Thesen sollen hier bereits kurz benannt werden: