Ein Erfahrungsbericht über Online-Coaching aus der Werkstatt der psychodynamischen Beratung beginnt ehrlicherweise mit einem Bekenntnis: Ganz spontan und aus eigenem Antrieb haben wir uns dieser Herausforderung nicht gestellt. Unbewusstes – online – emotional entschlüsseln und den Klienten selektiv authentisch – ebenfalls online – zur Verfügung stellen (West-Leuer, 2015)? Nein, da waren wir uns sicher, das kann, das wird nicht klappen. Widerstand lässt grüßen! (vgl. Adler & Carolus, 2017)
Doch die Corona-bedingten Kontakteinschränkungen wirken als unvermittelte Beschleuniger der Digitalisierung. Notgedrungen mit einzelnen Klienten und kleineren Gruppen ausprobiert, mehrfach wiederholt, und dann auch, nolens volens, in der Weiterbildung zur Anwendung gebracht: Geht doch.
Es gibt Kolleginnen und Kollegen – und an dieser Stelle sollte ganz besonders Prof. Dr. Elke Berninger-Schäfer genannt werden, – die sich seit langem professionell mit der Digitalisierung von Coaching beschäftigen. Sie haben sich in die Technik eingearbeitet, Programme entwickelt, Probeläufe durchgeführt, sind dann erfolgreich an den Markt gegangen und haben auch versucht, andere Coaches und Beratende für die Methode zu erwärmen. Ohne diese Pionierarbeit hätten wir uns wohl kaum getraut, es einfach mal zu probieren.
Führungskräfte haben, anders als ihre Coaches, gar keine Wahl. Spätestens seit der Jahrtausendwende ist es gängige Praxis in internationalen Konzernen, Teams multilokal zusammenzustellen und virtuell zusammenzuarbeiten. Der Mittelstand hinkte dieser Entwicklung lange hinterher. Noch 2016 attestierte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Mehrzahl der KMU, auf die Herausforderungen der Digitalisierung unzureichend vorbereitet zu sein (Elstner et al., 2016, S. 7). Und doch ist seit Ausbruch der Corona-Pandemie und der Verlagerung des Arbeitsplatzes ins Homeoffice die digitale Führung das Gebot der Stunde in fast allen Unternehmen. Viele Führungskräfte führen ungefragt und von heute auf morgen virtuelle Teams; sie kommunizieren häufig in einer Fremdsprache und nutzen eine Technik, die nicht immer so benutzerfreundlich war, wie sie heute zur Verfügung steht. Auch Lehrende an Schulen und Universitäten vermitteln ihr Wissen online und sind dabei häufig auf die Hilfe der Lernenden angewiesen, weil letztere mit der Technik mehr auf „Du und Du“ stehen als sie selbst.
Da war es wohl an der Zeit, die Komfortzone der Face-to-Face-Beratung in unserer Praxis zu verlassen und sich der digitalen Beratung online zu stellen.
Was ist das Spezifische, das ein Erfahrungsbericht aus der Werkstatt des psychodynamischen Online-Coachings zur Verfügung stellen kann? Psychodynamisches Coaching ist ein Ableger der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse als Wissenschaft zeigt, dass Persönlichkeitsentwicklung und -weiterentwicklung im privaten wie im beruflichen Bereich in affektiven Beziehungen erfolgt. Von Kindesbeinen an sind wir daran gewöhnt, solche affektiven Beziehungen mit Hilfe all unserer Sinne herzustellen: Schmecken, Sehen, Hören, Geruchs- und Tastsinn. Freud erkennt und postuliert: „Das Ich ist zunächst vor allem ein körperliches.“ (Freud, 1923, S. 253) Im virtuellen Coaching stehen die meisten dieser Sinnesorgane, Zunge, Nase, Tast- und Geruchssinn, gar nicht zur Verfügung. Und das Beziehungsorgan per se, das Auge, nur bedingt: Im Video können wir das Gegenüber zwar sehen, aber wir können dem Gegenüber nicht in die Augen schauen.
Auch im professionellen Business-Coaching ist es, neben einem ausgewiesenen Beratungskonzept, die vertrauensvolle und vertrauliche Beratungsbeziehung, die entschieden Einfluss nimmt auf Gelingen oder Misslingen des Coaching-Auftrags (Rauen, 2001; West-Leuer, 2003; im Unterschied dazu vgl. Geißler, 2020). Je nach Beratungskonzept und Beziehungsverständnis kommt dieser Beratungsbeziehung jedoch unterschiedliche Bedeutung zu. Ob, wie und warum solche professionellen Beziehungen mal gelingen und mal misslingen, ist Forschungsgegenstand der psychodynamischen Beratung.
Aus Sicht der psychodynamischen Beratung hat jede Kontaktaufnahme, offline wie online, und sei sie noch so passager, unbewusste emotionale Aspekte: keine Kognition ohne Emotion. In asymmetrischen Kontakten, wie beispielsweise im Coaching, fungiert ein Coach wie ein Container, der diese unbewussten emotionalen Aspekte des Klienten aufnimmt, d.h., sie „contained“. Er wird diese Emotionen dem Klienten später, in affektmodulierter Art und Weise, selektiv und im Sinne des Beratungsanliegens, so zur Verfügung stellen, dass das Beratungsanliegen eine Lösung erfährt.
Diese Containing-Funktion ist, wie wir aus der Bindungsforschung wissen, weitgehend autonom; sie wird im Face-to-Face-Modus über unsere Sinnesorgane gesteuert. Doch diese stehen uns – wie oben beschrieben – in der Videokonferenz nur eingeschränkt zur Verfügung.
Kein Wunder also, wenn viele Kolleginnen und Kollegen eine deutliche Hemmung verspüren, sich einem digitalen Medium anzuvertrauen, um dort ihre professionelle Beziehungsarbeit aufzunehmen. Das geht nicht nur Coaches so, die ein psychodynamisches Konzept vertreten, so wie die Autorinnen. Doch wenn man sich dann traut – manchmal gezwungener Maßen – kann man erstaunliche Dinge erleben.
Die Klientin, 42, ist seit vielen Jahren Führungskraft in einem Unternehmen des Luxussegments. Sie kennt sich mit Videokonferenzen aus und hat für ihre Beraterin, Novizin auf diesem Gebiet, effiziente Anweisungen zur Handhabung der Technik. Die Beraterin fühlt sich unwohl, vom Know-how dieser neuen Klientin abhängig zu sein. Eine asymmetrische Beziehung bahnt sich an, jedoch nicht in der im Beratungskontext üblichen Richtung.
Weil die Beraterin keinen Augenkontakt aufnehmen kann, studiert sie die Mimik der neuen Klientin aus der Position einer teilnehmenden Beobachterin. Details sind sichtbar, die im Face-to-Face-Setting weniger auffallen. Sie glaubt, ein leicht überlegenes Lächeln und gleichzeitig ein wenig Resignation wahrzunehmen. Sie nutzt dies zu einer ersten beziehungsaktivierenden Intervention: „Kennen Sie das Gefühl, in schwierigen Situationen von Vorgesetzten keine Unterstützung zu bekommen? Und dann – in einer Art Rollenumkehr – in die Rolle der Helfenden zu springen? So wie jetzt hier in unserer Situation!“
Sehr schnell sind Coach und Klientin „in medias res“: Die Klientin überlegt, das Unternehmen zu verlassen. Als sie nach einer kürzlich erfolgten Beförderung ihren Chef um Vermittlung im Umgang mit schwierigen Mitarbeitern ersucht hat, bestand seine Reaktion – online – aus einem hilflosen Achselzucken und dem Angebot eines externen Coachings. Er sei leider nicht vor Ort und könne nicht helfen. Dies ist nicht das erste Mal, dass sie sich alleingelassen fühlt. Sie sei ihrerseits immer zur Stelle, wenn ihr Chef sie um Unterstützung bitte.
Spätestens an dieser Stelle werden Coaches, je nach Beratungskonzept, unterschiedliche Wege einschlagen. Im psychodynamischen Coaching wäre ein Thema der Sekundärgewinn, den die Klientin aus ihrer Machtposition als Helfende gewinnt. Ein schwierigeres die Wiederholungsmuster, die das Gefühl der Hilflosigkeit begleiten. Zum weiteren Verlauf dieses Beratungsfalles sei nur gesagt, dass die Klientin das Unternehmen nicht verlassen hat, sondern im Coaching einen alternativen Umgang mit ihrem Chef und ihren Mitarbeitern einüben konnte.
Für unsere Fragestellung „Was ist anders?“ hat sich gezeigt, dass sich ein für die Klientin typisches Beziehungsmuster, das auch ein Anlass für ihr Coaching-Gesuch war, in der Videosituation des Coachings re-inszeniert hat. Die Beraterin hat dies zwar nicht am eigenen Leibe gespürt, sie hat es aber im Gesicht der Klientin „gelesen“. D.h., die Intervention ist weniger Ergebnis einer Selbst-Analyse des emotionalen Containers, sondern eine kognitive Analyse der Beraterin.
Ein kleines Weiterbildungsunternehmen schickt sich an, sein Angebot auch online anzubieten. Interessentinnen und Interessenten können kostenlos an einer Probesitzung teilnehmen. Die beiden Inhaberinnen sind uneins, ob und wie erfolgreich diese erste Probesitzung verlaufen ist. Im Coaching spricht die Auftraggeberin (A) von Fremdheitsgefühlen, die sich bei ihr während der Probesitzung eingestellt hätten. Sie sei nicht „richtig“ in Kontakt gekommen. Ihre Partnerin (P) war nach der Probesitzung ganz euphorisch, zumal alle Teilnehmer den Kurs nun buchen möchten. Jetzt fühlt sich diese Partnerin (P) durch die Selbstzweifel der Kollegin (A) kritisiert: „Ich bin eben nur der Technik-Freak. Das Wesentliche sind jedoch Deine Gefühle.“ Diese Reaktion erzeugt nun in der Beraterin Befremden. Und ohne Dekorum fragt sie die Partnerin (P): „Ich konnte in der Aussage Ihrer Kollegin (A) keine Entwertung hören. Haben Sie da vielleicht eine Macke?“
Langes Schweigen, wie in der psychodynamischen Beratung sonst häufig, scheint in Videokonferenzen schwerer auszuhalten (Berninger-Schäfer, 2020). Die etwas plumpe Intervention der Beraterin kommt einem kleinen Impulsdurchbruch gleich, vielleicht der noch ungewöhnlichen Online-Situation geschuldet. Die Interaktion zwischen den Partnerinnen wird durch diesen Fauxpas der Beraterin konstruktiv beschleunigt. Die Auftraggeberin (A) kann die Intervention korrigieren, indem sie dazu steht, dass sie die eigene emotionale Kompetenz tatsächlich besonders hoch schätzt, vielleicht als Abwehr ihrer Neidimpulse auf das technische Können der Kollegin (P). Das wäre dann ihre „Macke“! Beide erleben nun ihr alternatives Online-Angebot als Chance, an der sie selbst und ihre Kunden wachsen werden.
In einer Präsenzsituation hätte die Beraterin die leichten Überlegenheitstendenzen der Auftraggeberin (A) vielleicht anders und schneller sinnlich erfasst. Ein Containen der eigenen Verblüffung statt des Ausagierens hätte die Beziehungsklärung den beiden Partnerinnen überlassen und ermöglicht. So wurde das Beratungsanliegen zwar schnell gelöst. Das Weiterbildungsangebot geht „online“. Der Coaching-Prozess wurde jedoch nicht fortgesetzt. Aus Sorge vor überfordernden, weil zu direkten Online-Interventionen? (vgl. Berninger-Schäfer, 2020)
Zur Unterstützung einer Gruppe von 33 Master-Studierenden bietet die Beraterin einen digitalen Jour fixe einmal wöchentlich an; die Teilnahme ist für die Studierenden freiwillig. Überrascht stellt die Beraterin fest, dass fast alle das Angebot annehmen. In der ersten Sitzung erklärt die Beraterin ihr Konzept, dass der Jour fixe einen Raum bieten solle, in dem die Studierenden ihre Probleme in diesem Semester ohne Präsenzlehre zur Sprache bringen könnten. Dabei schaut sie auf 30 Kacheln, mit denen das Video-Konferenz-Programm die Teilnehmenden kenntlich macht. Fünf von ihnen haben ihre Kamera eingeschaltet, die anderen bleiben „schwarz“. Die Beraterin fragt: „Wie geht es Ihnen?“ Als sich daraufhin nichts tut, fragt sie nach: „Hören Sie mich noch? Oder sind wir wieder abgestürzt?“ Ein sichtbarer Teilnehmer gibt Feedback: „Wir hören Sie noch.“ Danach ist es wieder still. Die Beraterin schaut auf ihren Bildschirm und die vielen schwarzen Kacheln. „Das fühlt sich wirklich sehr komisch an“, sagt sie zu ihrem Computer und lacht etwas unsicher: „Ich bekomme das Gefühl, mit mir selbst zu sprechen.“
„Dann kann ich ja mal anfangen“, sagt eine sichtbare Teilnehmerin in die Stille. Sie bringt unumwunden ihre Schwierigkeiten mit der erzwungenen Isolation, der digitalen Lehre und der geforderten Selbstorganisation zum Ausdruck. Nach und nach entwickelt sich eine lebhafte Diskussion – zunächst unter den fünf Studierenden, die ihre Kameras freigeschaltet haben. Zunehmend beteiligen sich auch die Anderen. Sie nutzen die Chat-Funktion mit schriftlichen Bemerkungen, anfangs recht kurz „ja“, „finde ich auch“, „geht mir genauso“. Nach und nach werden die Kameras freigeschaltet. Als die Beraterin sich nach eineinhalb Stunden verabschiedet, haben alle Studierenden ihre Kamera freigegeben. Alle winken fröhlich zum Abschied. Die Beraterin auch: „Bis nächste Woche!“
Studierende, die mit sozialen Medien sozialisiert wurden, bleiben im virtuellen Seminar häufig stumm und gesichtslos. Viele scheinen es peinlich zu finden, sich kenntlich zu machen (Kirchmeier, 2020). Andere zeigen sich in sehr privaten Posen. Die Konfrontation mit dem eigenen Bild mischt sich in die virtuelle Lehrsituation – anders als im Präsenz-Setting, wo die Konfrontation mit dem Bild der anderen den Selbstwert auf die Probe stellt. Das birgt für die „Generation Instagram“ eine bedeutende Verunsicherung. Aber auch für die Beraterin, die vor solchen Gefühlen sicher nicht gefeit ist, durch die Posen der Teilnehmer darauf aufmerksam wird und sich dann auch fragt, wie sie selber auf dem Bildschirm wahrgenommen wird.
Im Präsenz-Setting werden Beratende auf misslungene Kommunikation durch veränderten Blickkontakt oder körpersprachliche Signale aufmerksam. Sie kommen nicht umhin, eine Änderung der Gruppenatmosphäre zu spüren. Dadurch haben sie Möglichkeiten, konstruktiv zu intervenieren. Im virtuellen Großgruppen-Setting fehlt dieses emotionale Frühwarnsystem. Zudem können Beratende nicht sehen und auch nicht spüren, wie durchgängig die Teilnehmer überhaupt körperlich dabei sind, da die Galerie-Ansicht der verwendeten Software selbst bei freigeschalteter Kameraübertragung nur ca. 20 Personen anzeigt. Aktivierende Moderation im virtuellen Raum führt dann dazu, dass Einzelne (die sich vielleicht eben einen Tee geholt haben) den Anschluss verlieren und sich nicht mehr angesprochen fühlen (Harvard Business School, 2020). Nicht gradueller Rückzug, sondern plötzlicher Abbruch ist die Folge. Beratende bleiben dann tatsächlich mit sich selbst allein.
Auf der anderen Seite können im virtuellen Gruppen-Setting Coachende und Klienten schneller und direkter auf den Kern des Anliegens zusteuern. Äußere Umstände, die im Präsenz-Setting die Beziehungsaufnahme in der Gruppe beeinflussen, wie die Gruppengröße und Zusammensetzung, die Sitzordnung, auch die körperliche Größe und Physionomie der Gruppenmitglieder, treten in den Hintergrund. Den Teilnehmenden bietet der virtuelle Raum abgestufte Möglichkeiten der Beteiligung; zunächst zurückhaltende Teilnehmer fallen weniger auf und können sich im eigenen Tempo einklinken. Der Beraterin nimmt die Unmittelbarkeit des virtuellen Raums die Chance, eigene Abgrenzungs- oder Behauptungsimpulse zu aktivieren. So bieten die sinnlichen Begrenzungen des virtuellen Raums den Beratenden und den Teilnehmenden andere Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung. Die Herausforderung für den Coach besteht darin, Widerstände der Teilnehmenden nicht zu festigen, um sie nicht für immer hinter den schwarzen Kacheln zu verlieren. Statt schwarzer Kacheln ergibt sich dann – wie im Fallbeispiel – ein buntes Bild lebendiger Vielfalt.
Als die Weiterbildungsverantwortliche während des Lockdowns den ersten Abschnitt der Coaching-Weiterbildung „online“ ankündigt, melden sich zwei Drittel der Kandidatinnen und Kandidaten von der Weiterbildung ab. Die veränderte Aufbereitung der Materialien macht zwar Mühe, ist aber zu bewältigen. Unterschiedliche Lernformate sind durch die Anwendung der „Breakout-Session“ kein Problem. Sorgen machen dagegen die Themen „Selbsterfahrung im Arbeitskontext“ und „Gruppendynamik-Live“. Denn das sind die wesentlichen Merkmale psychodynamischer Weiterbildung. Zur Überraschung der Weiterbildungsleiterin wollen alle Teilnehmenden die Auswertung ihre Persönlichkeitsprofile nicht im Einzel-Setting, sondern in der Gruppe durchführen. Und dieser Austausch über Selbst- und Fremdwahrnehmung führt schnell zu Prozessbeobachtungen, wer Führungsansprüche in der Gruppe gezeigt hat, und wer einen „berühmten“ Dozenten für sich besonders gut nutzen konnte. Macht und Ohnmacht, Neid, Konkurrenz und Bewunderung, all diese emotional bedeutsamen Gruppenphänomene sind von der Leitung moderiert besprechbar. Mit diesem Einstieg in die Weiterbildung sind alle Beteiligten hoch zufrieden. Nächstes Mal möchte man sich dann „leibhaftig“ kennenlernen.
Trotz des ökonomischen Verlusts hat es sich gelohnt, eine „Online-Version“ zu entwickeln und einfach mal auszuprobieren (Haerdle, 2020). Das finanzielle Risiko lag beim Veranstalter, nicht bei den Kunden. Vertrauen in die Containing-Funktion der sehr erfahrenen Dozenten, die auch „online“ selbstreflexive, stille Momente erzeugen und halten, sowie der Mut der Teilnehmenden, sich zu zeigen, haben das Experiment zu einem Erfolg werden lassen. Online-Weiterbildungselemente erfordern verstärkt alternative Formen der Beziehungsgestaltung. In dem verdichteten Prozess frontaler Kontaktaufnahme stehen, wie gesagt, einige Sinne nicht zur Verfügung. Die Sinne, die genutzt werden, müssen den Mangel wettmachen und daher gestärkt werden. Die Adaption von Methoden und Medien ist das eine. In Bezug auf die Sinneswahrnehmung gilt: Genaues Hinhören und Beobachten können Augenkontakt, Geruchs- und Tastsinn ersetzen. Mehr Sprechen als sonst üblich gibt den Ausbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmern Sicherheit und Halt. Ist das Ausbildungskonzept ein psychodynamisches, wird der Moderator die Kultur des gemeinsamen Schweigens in das Online-Setting transferieren, denn es ermöglicht die Wahrnehmung und Modulation von basalen Affekten, die für die Persönlichkeitsentwicklung unerlässlich sind.
In Zeiten sozialer Isolation fühlen sich viele Klienten vielleicht schon aufgehoben, wenn der Coach es einfach mal „online“ probiert und die Kommunikation irgendwie klappt. Die Fallbeispiele haben gezeigt: Die unbewusste Container-Contained-Beziehung ist im Videokontakt nicht so eindeutig wie in der Präsenzsituation. Aber es gibt sie auch dort. Sie wird von den Beteiligten anders hergestellt und changiert stärker, weil sich zwischen das Beziehungsgeschehen die Technik stellt. Coach und Klient, Lehrende und Lernende sitzen im gleichen digitalen Boot und die Verunsicherung ist wechselseitig. Wenn es nicht sofort klappt mit der Technik, die Verbindung wackelt und sich die Unsicherheit des Coachs auf seine Stimme schlägt, zeigt sich: Die Asymmetrie in der Beziehung ist eben keine menschliche, sondern eine auf die Beratungskompetenz bezogene spezielle. Diese Erkenntnis wirkt überzogenen Idealisierungsphantasien des Klienten genauso entgegen wie überzogenen narzisstischen Tendenzen des Coachs.
Für die psychodynamische Werkstatt sehen wir, dass es in dieser Situation noch schwieriger ist als in der Präsenzsituation, Unbewusstes emotional zu entschlüsseln und zu entscheiden, wie viel davon der eigenen Persönlichkeit geschuldet ist und wie viel der Persönlichkeit des Klienten (vgl. im Präsenzfall; Lewkowicz & West-Leuer, 2016). Aber auch Coaches, die andere Beratungskonzepte haben, mögen „online“ zu mehr unüberlegten Interventionen verführt werden (vgl. Berninger-Schäfer, 2020).
Solch einen Fauxpas muss ein Coach ertragen und zum Wohle des Klienten nutzen. Erst die Online-Selbsterfahrung macht Coaches zu Beratenden, die „gut genug“ sind, um Führungskräfte, die online führen – und das sind mittlerweile fast alle –, professionell zu unterstützen.