Im ersten Teil dieses Beitrages (Mohr, 2021; erschienen in Coaching-Magazin 3/2021) wurden Auswirkungen der Pandemie auf Gesellschaft und Wirtschaft beschrieben. Dabei wurde näher auf das Thema Resilienz eingegangen. Nun, in Teil 2, soll thesenartig und exemplarisch entlang der folgenden fünf Bereiche betrachtet werden, inwieweit das Coaching von der Entwicklung berührt ist.
Wie viele Menschen haben sich bis Ende 2019 nach Aufatmen, nach Innehalten gesehnt? Viele Wirtschaftsbereiche schienen überdreht. Burnout war zu einer viel betrachteten Symptomatik geworden. Die Coronapandemie brachte für große Teile der Bevölkerung ein abruptes Anhalten. In vielen Bereichen wurde gar nicht mehr gearbeitet, in anderen Kurzarbeit angesetzt. Dagegen mussten andere, allen voran Beschäftigte im Gesundheitsbereich, Mehrbelastungen hinnehmen.
Allerdings stellte sich mit Blick auf erstgenannte Gruppen heraus: Lediglich ein kleiner Teil konnte den Stillstand genießen. Nur ganz wenige Menschen berichteten, dass sie ein Innehalten im Sinne einer erholsamen, von Reflexion geprägten Zeit erlebten. Viele waren dazu gar nicht in der Lage. Unsicherheit und Ungewissheit haben eine andere Stimmung erzeugt. Ähnlich den Phasen der Veränderungskurve nach Elisabeth Kübler-Ross (1972), die als Reaktion auf einen gravierenden Einschnitt zunächst eine Phase der Ignoranz und dann der Agitation feststellte, mussten sich viele weiter „abmühen“. Sie taten das häufig im Homeoffice, wo man aufgrund des Wegfalls des Fahrtweges zwar mehr Zeit, aber aufgrund veränderter Arbeitsbedingungen und oftmals unzureichender digitaler Infrastruktur mitunter massive Probleme verzeichnete. Selbst nach einiger Zeit war wenig positives Innehalten zu spüren. Offensichtlich hat auch der Mensch ein gewisses Trägheitsmoment, ehe sich eine bestimmte Veränderung oder Anpassung ergibt. Was die Aufmerksamkeitsebenen anbelangt, sind im Grunde alle betroffen: die körperliche, gefühlsmäßige und denkerische Aufmerksamkeit. Dass es ein solcher Stillstand wie erlebt sein würde, hatte natürlich keiner gewollt – oder vielleicht nur wenige, die extrem am Anschlag waren. Hartmut Rosas Beschreibung der fatalen Beschleunigung, die es zu beantworten gilt, bleibt auch in der Coronazeit offen.
Es deutet sich an, dass die Wirtschaft sich in der Mikrostruktur des Angebotes – beispielsweise im Einzelhandel und der Gastronomie – massiv verändern wird. Viele Restaurants machen nicht mehr auf. Man kann nun mutmaßen, ob sie schon vorher unlösbare Probleme hatten und die Gelegenheit zum Ausstieg nutzten. Dennoch hat das Purzeln in die Postwachstumsökonomie kurzfristig stattgefunden. Trotzdem bestand die Hoffnung vieler darin, dass es wieder so würde wie vorher.
Nach etwa drei Monaten war schon von Zeit zu Zeit ein gewisses Nachdenken bei vielen Menschen zu beobachten. In Coaching-Prozessen bietet sich hier die Fokussierung auf Achtsamkeit an. Dies bedeutet, aktiv die Chance des Innehaltens zu unterstützen. Phasen wie die Coronazeit geben die Möglichkeit, in die Besinnung zu kommen, in denen sich unwillkürlich das Presencing zeigt, das Scharmer (2009) in seiner Theorie U als Mischung von Vergegenwärtigung (Presence) und intuitivem Erspüren (Sensing) dessen, was in der nahen Zukunft ansteht, beschreibt. Corona eröffnet durch seine Veränderung der Lebensumstände die Möglichkeit dazu, ohne dass es wie in sonstigen Zeiten ausführlich angeleitet werden muss. Es gibt zudem die Chance, Neues auszuprobieren, z.B. neue Rituale. All dies kann Coaching unterstützen.
In der Hochkonjunktur vor Corona hatten sich viele Menschen – ab der Mittelschicht – in ihrer Konsumrolle ein bestimmtes Verhalten zur Gewohnheit gemacht. Dies beinhaltete manchmal zwei ausgiebige Urlaube in Form von Fernreisen sowie einen Skiurlaub oder -wochenenden im Winter. Interessanterweise wurde als Begründung oft eine psychologische Not angeführt. Man habe so viel Druck im Alltag, auf der Arbeit, dass man „einfach mal raus“ müsse.
Corona schränkte wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse auf „das Wesentliche“, das so genannte „Systemrelevante“, ein. Viele in der Hochkonjunktur entstandenen Tätigkeitsfelder, vor allem im tertiären Bereich, dem Dienstleistungssektor, wurden brachgelegt, die dort konsumtiv Tätigen lahmgelegt und die produktiv Aktiven an den Rand der Existenz gebracht. Aber was ist das Wesentliche? Was sind systemrelevante Prozesse? Die Gesundheitsversorgung und die Lebenserhaltung standen offiziell an erster Stelle. Lebensmittel- und Energieversorgung, Telekommunikation und Internet waren erforderlich. Geschäfte, Restaurants, Gottesdienste, Sportveranstaltungen fielen weg.
Wesentliches zeichnet sich auch dadurch aus, dass möglichst viele Rollen, die das Modell der Fünf-Rollenwelten (siehe Abb. 1) umfasst, betroffen sind. Dies war in der Coronazeit plötzlich der Fall. Die beruflichen Felder (Organisations- und Professionsrolle) waren berührt, die Privatrolle durch Homeoffice, die Konsumrolle sehr stark etwa durch die Schließung vieler Geschäfte. Die Gemeinwesenrolle war ebenfalls betroffen, die sonst für viele Menschen, die nicht politisch oder ehrenamtlich tätig sind, kaum wahrnehmbar ist. Z.B. wurde das Tragen von Masken obligatorisch. Viele registrierten stärker als zuvor, dass sie Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft haben. Hier liegt eine große Chance im Coaching, mit den Klienten über das Zusammenwirken der verschiedenen Rollenwelten zu sprechen.
Das wirtschaftliche Risiko vieler Tätigkeiten ist zudem deutlicher geworden. Bei den Hilfsprogrammen stand dann zuerst der klassische Unternehmer mit Fixkosten im Visier der wirtschaftspolitischen Unterstützungsmaßnahmen. Alle diesem starren Konzept nicht entsprechenden Kleinselbständigen, die sich gerade in der Hochkonjunktur neben den „Billigjobs“ etabliert hatten, blieben hier erst einmal außen vor. Da musste die Politik nachsteuern.
Selbst die Regierung musste plötzlich agil arbeiten. Es gab kein „predict and control“ für die langfristige Ebene. Im Turnus weniger Tage fällte man Entscheidungen, beobachtete, was passiert, wertete die Erfahrungen aus und fällte neue Entscheidungen.
Stelter (2020) legt dar, wie wir uns jetzt für die Zukunft nach Corona aufstellen müssten. Das wirtschaftliche Umfeld könnte ein anderes sein: aktive Notenbanken, aktive Staaten, Abkehr von der Globalisierung. Die Rückkehr der Inflation droht. Dies verlangt andere Prioritäten: Investition statt Konsum. Echte Reformen von Staat und Gesellschaft. So kann eine alttestamentarisch anmutende Katastrophe der Schlüssel zu einer prosperierenden Zukunft für uns alle werden.
Durch die Coronapandemie wurden in kürzester Zeit gewohnte gesellschaftliche und wirtschaftliche Kommunikations- und Interaktionsformen heruntergefahren, vieles einfach angehalten und ausgesetzt, wie man es sich vorher kaum vorstellen konnte. Zum Glück gibt es heute alternative Kommunikationsmittel. Man mag sich nicht vorstellen, wie die Welt ohne Internet aussähe. Dieses Kommunikationsmittel erhielt den Kontakt. Oder ist die neue Kontaktform sogar ein Vorbote der neuen Lebensform in physischer Distanz zu anderen? Sollte es große Teile des persönlichen Kontaktes auch in Zukunft ersetzen? Zum professionellen Handwerkszeug der Zukunft gehört zumindest die Fähigkeit, Online-Meetings einzuberufen und zu gestalten.
Die Veränderungen scheinen hier Prozesse aufzugreifen, die schon länger anstanden, nun in Kürze realisiert werden mussten und dadurch ungeheuer beschleunigt wurden. Digitalisierung, neue Arbeitsstrukturen und ebenso die Veränderung der Mobilität stehen schon lange auf der Tagesordnung. Die Krise zeigt, wie schnell manches umsetzbar ist.
Masken zu tragen und Abstand zu halten, wurde zunächst als „social distancing“, dann als „physical distancing“ bezeichnet. In den Distancing-Phänomenen machen sich die unterschiedlichen Persönlichkeitsanpassungen sehr bemerkbar. Persönlichkeitsanpassung meint, mit welchem Muster man sich im Spannungsfeld verschiedener psychologischer Bedürfnisse angesiedelt hat. Entsprechend der Riemannschen Taxonomie von Nähe und Distanz ist der Nähe-Mensch hier gegenüber dem Distanz-Menschen im Nachteil (Riemann, 2019). Dem, der die Distanz liebt, fehlt kaum etwas. Riemann spricht hier von den Grundformen der Angst. Die Angst des Nähe-Skeptikers wird beruhigt. Für viele an Nähe und Körperkontakt interessierte Menschen ist die Einschränkung allerdings bitter.
Sie können sich vielleicht damit etwas trösten, dass auch die Distanz und die weitere Perspektive erst einmal interessant sein können. Für das Coaching stellen sich hier Herausforderungen in allen Beziehungen, zunächst der Coach-Klient-Beziehung, aber natürlich auch der zwischen dem Klienten und seinen Arbeitskollegen bzw. Mitarbeitenden. Viele Menschen erkennen erst unter dem Distanzgebot ihre Nähe- oder Distanzpräferenzen.
Für Medien setzte ein interessanter Prozess ein. Medien leben von verschiedenen Bedürfnissen. Da ist einmal das Bedürfnis nach Information. Man will wissen, wo man dran ist. Wie stark, wie gefährlich ist das Virus? Gleichzeitig erfahren Nachrichten mitunter stärkere Aufmerksamkeit, wenn sie Gefahren thematisieren und dadurch Ängste bedienen. Die Suche der Menschen nach Sicherheit führte in den Informationsmedien zwar zu einer Renaissance der öffentlich-rechtlichen Medien, in denen die Offiziellen auftraten. Aber auch viele vergleichsweise neue Medienschaffende wie z.B. YouTuber haben informiert. Wovon sicher am meisten bleiben wird, ist das Lernen über den Bildschirm. Für viele Inhalte ist das physische Zusammenkommen nicht unbedingt notwendig. Für die Seminarhotels und Konferenzorganisationen ist das eine bittere Wahrheit.
Zwischendurch gab es andere interessante Experimente. „Panem et circenses“, was meist mit „Brot und Spiele“ übersetzt wird, war eine Art. Das heimische Wohnzimmer wird umgestaltet zum Homeoffice, aber auch zum heimischen Kino, zum neuen Zentrum des Zeitvertreibs. Der (in der Regel) über Amazon angeschaffte größere Bildschirm dient jetzt vielfachen Zwecken.
Auch die Praxis des Coachings hat sich sehr verändert. Viele Coachings sind in die Online-Welt abgewandert (Rauen, 2021). Für manche Coaches, insbesondere für die, die bisher schon international gearbeitet hatten, war dies keine große Umstellung. Unterstützungen zur Online-Arbeit liegen genügend vor (Häfele & Maier-Häfele, 2020). Online-Coaching hat einen großen Boom erfahren. Allerdings sind dabei eine ganze Reihe von Faktoren zu berücksichtigen. Die Beziehung ist im Online-Coaching komplexer (Höher & Mohr, 2020). Explizit tritt mit dem virtuellen Raum eine Rahmenbedingung ein, die man als eigenen Kontextfaktor werten kann (siehe Abb. 2). Z.B. stellen die veränderte Wahrnehmung der Begegnung und der Blickrichtung sowie die Übermittlung durch ein elektronisches Medium Aspekte dar, die es erst einmal zu registrieren und zu beachten gilt.
Theoretisch ist Homeoffice klasse. Es hat ökologische Vorteile, weil Fahrtwege wegfallen, Firmen die Ausstattung von Arbeitsplätzen sparen, Familien- und Arbeitsleben sich flexibler handhaben lassen. Allerdings sind viele moderne und damit offen gestaltete Wohnungen nicht so konzipiert, dass die Arbeit im Homeoffice möglich ist. So wurde das Homeoffice genauso oft zum Hamsterrad. Und wenn das gesamte System, auch das der Kinderbetreuung, angehalten ist und Homeschooling zur Aufgabe der Eltern wird, wird Homeoffice sehr schwierig.
Aber es konnte in der Coronazeit erfolgreich ausprobiert werden. Führungskräfte-Coachings, die ich sehr zahlreich in der Coronazeit durchführen konnte, enthielten nur ganz selten Klagen über Mitarbeiter. Effizientes und verantwortungsvolles Arbeiten war die allgemeine Erfahrung. Führungskräfte müssen Mitarbeitern nicht auf den Füßen stehen. Dennoch kann es sich lohnen, Fragen wie diese zu reflektieren: Wie vermag ich es, meine Mitarbeiter trotz räumlicher Trennung „mitzunehmen“ und welche Anpassungen in der Kommunikation sind dabei notwendig? Führung auf Distanz ist somit zu einem Thema im Führungskräfte-Coaching geworden. Konkret ist das aktive Leiten eines Online-Meetings ein häufiges Thema. Dies betrifft die Strukturierung und die Prozessgestaltung sowohl auf sachlicher als auch auf Beziehungsebene.
Eine Aufgabe für das Coaching wird auch das Unterstützen der Unternehmen, der Führungskräfte und der Mitarbeiter in einer angemessenen Auswertung der Krise sein.
Im Fünf-Rollenwelten-Modell lassen sich die Veränderungen gut betrachten. Das ursprüngliche Drei-Welten-Modell von Schmid (2003) enthält die Organisationswelt (die spezifische Aufgabe, die jemand in einer bestimmten Organisation hat), die Professionswelt (die Gesamtheit der beruflichen Kompetenzen, Fähigkeiten und damit verbundenen Haltungen) und die Privatwelt, die Haltungen der Rollen aus der Privatwelt (Vater, Liebespartner, Kind …). Dieses klassische Rollenmodell hilft bei der Differenzierung der Haltungen und der Abgrenzung der Lebensbereiche Beruf und Privatleben. Was es bisher nicht leistete, sind wichtige gesellschaftliche Bezüge, die eine Person als Teil des Gemeinwesens und als Ressourcenkonsument hat. Gemeinwesenrollen sind für das Funktionieren der Gesellschaft und auch für die Lebensbalance vieler Menschen wesentlich. Sie umfassen kirchliches, politisches oder sonstiges Engagement im Gemeinwesen (etwa Jugendliche im Sportverein zu integrieren). Mit der Privatwelt ist dies in vielen Fragestellungen unzureichend abgebildet. Ähnlich verhält es sich mit der Haltung, die jemand praktisch in seinem Konsumverhalten der Natur und den Ressourcen gegenüber offenbart. Dies beginnt mit den Lebensmitteln, die jemand konsumiert, geht über die Dienstleistungen, die er für sich beansprucht, und reicht bis zu den Verkehrsmitteln, die er benutzt. Darin ist beispielsweise auch eine Führungskraft kulturbildend, obwohl es nicht im engeren Sinne zu ihrer Organisations- und Professionsrolle gehört. Das Fünf-Rollenwelten-Modell gibt, wird es im Coaching zur Reflexion herangezogen, Hinweise zum Einfluss, zum Agieren und zu den Konflikten des Menschen in Organisations-, Professions-, Privat-, Gemeinwesen- und Konsumwelt (Schmid, 2003; Mohr, 2015).
Wir werden uns die teure Pendelei zu den „Arbeitsburgen“ in Metropolen im bisherigen Ausmaß aus ökologischen und ökonomischen Gründen nicht mehr leisten können. Die Wiedervereinigung von Wohn- und Arbeitsplatz wäre aber ein interessantes neues Phänomen mit vielen Konsequenzen. Pendlerströme zur Arbeit traten erst im 19. Jahrhundert auf. Sie haben sich im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zugespitzt. Vielleicht war das nur ein Zwischenphänomen, das aufgrund ökologischer Notwendigkeiten ohnehin bald verschwinden muss. Es wird uns bei bald mehr als acht Mrd. Menschen auf der Erde nicht gelingen, dass ein Großteil der erwachsenen Menschen zwei „Behausungen“, eine zum Leben, eine zum Arbeiten hat.
Was ist aus all dem zu schließen? Für Coaching ergeben sich vor diesen Hintergründen sehr viele Arbeitsfelder. In den vier Feldern des in Teil 1 dargestellten Resilienzquadrates (Mohr, 2021) gilt es, „sich zu üben“. Dies gibt eine Orientierung fürs Coaching. Die externen Ressourcen, die als zentrale Faktoren außerhalb der eigenen Person liegen und die Personen im eigenen „Netzwerk“ und auch die Natur umfassen, sind zu fördern. Die internen Ressourcen wie Problemlösefähigkeit und Anpassungsfähigkeit an Kontextbedingungen brauchen gerade Improvisations- und Veränderungskompetenz. Das gelingt nur, wenn man eine Sinnfindungsfähigkeit für sich in der Neuorientierung entwickelt. All das wiederum braucht eine Unterstützung durch „Techniken“ der Körper-Geist-Verbindung wie Achtsamkeit und Emotionsregulation. Die vier Felder sind originäre Coaching-Bereiche. So kann Coaching Menschen beim Übergang in die nächste große wirtschaftliche Welle begleiten.