Methoden

Dritte Dimension im Coaching

Durch verbales und individualisiertes 360-Grad-Feedback

Manche Führungskräfte agieren in bester Absicht – und erzielen dennoch nicht die erwünschten Ergebnisse. Dahinter steckt oft eine unscharfe Eigenwahrnehmung. Oder Signale des Umfelds werden, etwa aufgrund kultureller Unterschiede, missinterpretiert. Das 360-Grad-Feedback ist ein gutes einleitendes Instrument für ein erfolgreiches Coaching in solchen Situationen.

13 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2011 am 13.09.2011

360-Grad-Feedback als Auftakt für Coaching

Wie sich das Feedbackinstrument harmonisch in den Coaching-Prozess integrieren lässt und bei welchen Coaching-Anlässen diese Kombination besonders wirkungsvoll ist, schildern die folgenden Beispiele:

Bernd K.* (38) ist als Projektmanager in einem internationalen Unternehmen tätig. Seine Fachkompetenz wird hoch geschätzt. Sein Kommunikationsstil dagegen ist für viele ein Problem. Kollegen im In- und vor allem im Ausland beschweren sich. In Videokonferenzen und internationalen Meetings nimmt man an seiner „direkten und dominanten Art“ Anstoß. 

Der Vorgesetzte, die Personalentwicklerin und auch der Bereichsleiter wissen das. „Andeutungsweise“ sollte es auch Bernd K. wissen. Als eine Mitarbeiterin weinend eine von ihm geleitete Besprechung des Projektteams verlässt und mit sofortiger Wirkung ihre Projektarbeit niederlegt, wird klar, dass „Andeutungen“ wohl nicht reichen. Ein Coaching wird angedacht. Doch wer soll das wie kommunizieren?

Mit dieser Frage tritt die Personalentwicklerin an den externen Coach heran, und die rät: Der Vorgesetzte soll ein Coaching mit 360-Grad-Feedback vorschlagen, und wenn Bernd K. offen für diese Maßnahme ist, findet ein Vorgespräch statt. Interessanterweise ist Bernd K. sogar ausgesprochen offen dafür. Er findet es „total klasse, dass endlich mal was getan wird“ und die Aussicht auf das Rundumfeedback findet er „einfach nur spannend“ und meint: „Ich kann davon ja nur profitieren.“

Die Methode muss zum Coaching-Anlass und zum Klienten passen

Diese offene, neugierige Einstellung ist eine Grundvoraussetzung für die Anwendung der Methode. Die allermeisten Klienten, denen ein 360-Grad-Feedback vorgeschlagen wird, reagieren erfahrungsgemäß mit Interesse, nicht mit Ablehnung. Das hat natürlich viel damit zu tun, wem oder in welcher Situation das Instrument angeboten wird. Eine wichtige „Indikationsstellung“ ist die oben geschilderte: Es gibt Spannungen und Reibungspunkte in der Zusammenarbeit mit Kollegen, auch und gerade mit Kollegen, die in anderen Abteilungen, Unternehmensbereichen oder Kulturräumen tätig sind.

Dem Klienten ist „irgendwie schon klar, was das Problem der anderen (!) ist …“ aber irgendwie auch wieder nicht. „Man kriegt ja kein direktes Feedback von den Kollegen, dabei wäre ich dafür immer offen. Eigentlich schade, dass es dazu so ein Instrument braucht, das sollte doch auch anders möglich sein …“ Mit dieser Aussage unterstreicht Bernd K., wie notwendig gerade in seinem Fall ein definierter Feedbackprozess ist!

Besonders geeignet ist die Methode dann, wenn

  • der Klient häufig Reibungspunkte im Umfeld erlebt, sich aber bislang damit nicht selbstkritisch auseinandersetzen wollte oder (mangels Feedback) konnte; 
  • Selbst- und Fremdbilddiskrepanzen vorliegen, die im Führungsalltag nicht aufzulösen sind;
  • der Klient die Erwartungen seines Umfelds nicht ausreichend kennt oder die Wirkung seines Verhaltens nicht ausreichend einschätzen kann, etwa in einer fremden (Unternehmens-) Kultur.

Typische Bedenken von Experten gegen 360-Grad-Feedback 

  1. Die Vertraulichkeit des Coachings wird aufgehoben                                         Ja, das Coaching wird damit in gewissen Aspekten „öffentlich“ – und das ist gut so. Insbesondere bei Coachings von auslandsentsandten Führungskräften habe ich dabei nur positive Erfahrungen gemacht. Die Mitarbeiter schätzen es sehr, dass der „Deutsche“ sich einen Coach nimmt, um die Kommunikation und Zusammenarbeit mit ihnen zu optimieren. Voraussetzung: Der Klient muss selbstbewusst zum Coaching stehen. Bei der zunehmend positiven Coaching-Kultur (und den zunehmend jüngeren Führungskräften) ist das meist kein Problem mehr. 
  2. Rollenkonflikte des Coachs sind programmiert                                            
    Es gibt Coaching, klar, es gibt auch Coaching on the Job, selbstverständlich – aber ein Coach, der erst mit dem Umfeld spricht, dann auch noch einen Workshop moderiert, das entspricht nicht dem klassischen Coaching-Verständnis. Meine Erfahrung zeigt, dass dies sehr wohl funktioniert, ja sogar hilfreiche und positive Wechselwirkungen zeigt. Entscheidend ist selbstverständlich absolute Klarheit und ständige Selbstreflexion seitens des Coachs, empfehlenswert auch fallbezogene Super- oder Intervision. 
  3. Die Gleichwertigkeit der Coaching-Beziehung wird gefährdet                        Wenn ich als Coach so viel von dem Klienten erfahre, mit seinem ganzen Umfeld spreche – fühlt er sich dann nicht unterlegen, ja geradezu ausgeliefert? Ein interessanter Punkt, der in einer meiner kollegialen Intervision aufgetaucht ist. Meiner Erfahrung nach ist dies in der Praxis kein Problem, Voraussetzung ist natürlich ein sensibler Umgang des Coachs mit den Informationen. Und: Der Prozess sollte zu Beginn des Coachings stattfinden und möglichst rasch abgeschlossen werden. 
  4. Kann denn die Anonymität wirklich gewährleistet werden?                         Aus Effizienzgründen ist die Anzahl der Feedbackgeber möglichst gering zu halten: Drei bis maximal vier Feedbackgeber pro Gruppe. Die direkten, persönlichen Aussagen sind besonders hilfreich und werden möglichst wortgetreu wiedergegeben – da liegt diese Befürchtung natürlich nahe. Persönlich achte ich bei Mitarbeitern sehr darauf, dass Äußerungen nicht persönlich zuzuordnen sind. Erscheint mir ein Feedback zu individuell, dann lasse ich es im Zweifelsfall eher weg. Besonders wichtig sind ohnehin mehrfach wiederkehrende Aussagen, hier handelt es sich um zentrale Reflexionsbereiche für Klienten. Und bei der Ergebnisbesprechung streiche ich immer heraus, dass es nicht darum geht, wer etwas geäußert hat. Es gibt übrigens auch Coach-Kollegen, die bewusst auf Anonymität verzichten, dafür lieber etwas „geschönte“ Feedbacks in Kauf nehmen, um die offene Feedbackkultur zwischen Chef und Mitarbeiter gezielt zu fördern.

Freie Wahl und direkte Ansprache der Feedbackgeber durch den Klienten 

Es empfiehlt sich, den Klienten selbst auswählen zu lassen, von wem er ein Feedback haben möchte. Drei bis maximal vier Personen pro Feedbackgebergruppe sind völlig ausreichend. Der Klient lädt die Feedbackgeber persönlich ein, teilzunehmen und sendet damit zwei zentrale Botschaften ins Unternehmen. Erstens: „Deine/Eure Meinung ist mir wichtig“ und zweitens: „Ich arbeite an mir, ich bin bereit, mich zu verändern“. Wahlfreiheit ist auch bei der Zusammenstellung der Kompetenzen, die Gegenstand des Feedbacks sind, gegeben.

Nach einer ersten, intensiven Zielvereinbarungsphase legen Coach und Klient gemeinsam fest, welche Themenbereiche im Fokus des Feedbackprozesses stehen sollen. Schlüsselkompetenzen wie zum Beispiel „Konfliktfähigkeit“ oder „Flexibilität“ werden definiert und im Anschluss von den Feedbackgebern bewertet. Die Kompetenzen in zahlreiche Einzeleigenschaften zu zerlegen, ist weder zielführend noch notwendig. Denn dadurch wird eine Informationsfülle erzeugt, die für den Feedbacknehmer wenig greifbar, ja manchmal sogar eher verwirrend ist.

Der Coach führt im nächsten Schritt Einzelinterviews mit den Feedbackgebern. Die Gespräche dauern 30 bis 60 Minuten und beginnen stets mit zwei offenen Fragen:

  • Wo liegen Ihrer Meinung nach die größten Stärken des Feedbacknehmers?
  • Wo seine größten Entwicklungsfelder?

Erst danach werden die ausgewählten Kompetenzbereiche (mindestens fünf, selten mehr als acht) einzeln erläutert und eingeschätzt. Wiederum wird das Augenmerk darauf gerichtet, diese Einschätzungen anhand von Verhaltensbeispielen zu konkretisieren. Verhaltensbeispiele sind es, die das Feedback aussagekräftig für den Klienten und damit wertvoll für das Coaching machen. Sie erlauben ein ressourcenorientiertes Arbeiten mit den Stärken ebenso wie das konkrete Angehen von Entwicklungsfeldern.

Die Interviews lassen sich in aller Regel telefonisch führen. Lediglich bei direkten Mitarbeitern, insbesondere wenn sie einem Kulturraum (oder einer Unternehmenskultur) entstammen, die noch eher hierarchisch geprägt ist, sind persönliche Gespräche notwendig. Im persönlichen Kontakt gilt es, Vertrauen aufzubauen, die positive Absicht des Verfahrens herauszustellen, um somit die notwendige Offenheit zu erzeugen.

Aufarbeitung der Ergebnisse in einer intensiven Coaching-Sitzung

Aus den Feedbackgesprächen wird ein Ergebnisbericht erstellt, der so viele Originalzitate wie möglich enthält, ohne jedoch die Anonymität zu gefährden. Empfehlenswert: Gleiche oder ähnliche Einzelaussagen zu einem Block zusammenzufassen, um für den Klienten seine Außenwirkung deutlich herauszuarbeiten oder – auch das kommt vor – unterschiedliche oder widersprüchliche Fremdwahrnehmungen gegenüberzustellen.

Für die Eröffnung des Ergebnisses gilt es, ausreichend Zeit einzuplanen, damit wirklich jeder Punkt und jedes Zitat – falls notwendig – gemeinsam reflektiert werden kann. In den meisten Bereichen finden sich ein, zwei „Perlen“, das heißt Aspekte, die unmittelbar nachvollziehbar oder mit geringem Aufwand vom Klienten direkt veränderbar sind. Hier zwei Beispiele für „Perlen“:

  • Feedback: „Bei Telefonkonferenzen meldet er sich immer als Erster zu Wort und hat garantiert eine kritische Anmerkung. Er hat meist recht, aber die Stimmung ist im Keller.“ Anregung im Coaching: Wäre es nicht spannend, zu sehen, was passiert, wenn Sie sich ganz bewusst zu Beginn zurückhalten? Wer dann die Führung übernimmt, wie die Gespräche dann ablaufen – und wie Sie sich dabei fühlen … Ihre Aufgabe wäre, zunächst einfach mal zu beobachten …
  • Feedback: „Er schickt uns immer Mails um zehn Uhr abends – das nervt, denn es sind praktisch immer Routinedinge, die auch bis zum nächsten Tag Zeit hätten.“ Anregung im Coaching: Wie wäre es, die Mails erst am nächsten Morgen zu versenden? Das würde zwar einen zusätzlichen Arbeitsschritt bedeuten, gleichzeitig etliche positive Konsequenzen haben …

Diese Ergebniseröffnung ist anspruchsvoll – für Klient und Coach. Es sollen keine Verständnisfragen offenbleiben und dennoch nicht alles zu zerredet werden. Das Feedback soll auch nachwirken, nachklingen. Der Klient hat das Recht auf einen „Verdauungsprozess“. Der gelingt in der Regel, interessanterweise auch bei hochkritischem Feedback, erstaunlich gut. Motto: „Irgendwie geahnt habe ich es ja, jetzt weiß ich wenigstens konkret, was los ist und kann damit arbeiten“.

Auszüge aus Feedbackberichten Beispiel für das Feedback eines Expatriats zu seinem Entscheidungsverhalten: 

Entscheidungsfähigkeit

  • Informationen sammeln und auswerten, Prioritäten setzen, Beteiligte einbeziehen
  • Entscheidungen sachgerecht auch bei Unsicherheit treffen
  • Risiken abschätzen, kalkulierte Risiken in Kauf nehmen

Mitarbeiter

  • He prepares or needs a lot of information before he takes a decision; this is very time consuming.
  • He tries to listen to everyone; our former manager was much quicker in decisionmaking.
  • He tries to get the opinion from everyone; he is not able to get the decision by himself.

Kollegen

  • Entscheidungen wägt er aus verschiedenen Blickwinkeln ab; ist dabei kooperativ, bezieht mich bei übergreifenden Themen konsequent mit ein.

Vorgesetzte

  • Er bereitet Entscheidungen sehr gut vor, bereitet vorhandene Informationen gut auf, gute Risikoabschätzung.
  • Extrem konsequent und nachhaltig in der Umsetzung

Beispiel für das Feedback eines Expatriats zu seinem Kommunikationsverhalten:

Kommunikations- und Informationsfähigkeit

  • Informationen werden situations- und adressatengerecht weitergegeben
  • Geht auf Gesprächspartner ein, hört zu, stellt Fragen
  • Spricht verständlich und argumentiert zielführend

Mitarbeiter

  • Bei (kulturtypischer) Kommunikation kann er sehr ungeduldig werden
  • Ist ungeduldig
  • Wenn er unter Zeitdruck steht, unterbricht er andere, das entspricht nicht unserer Kultur hier in (Land)
  • Spricht zu lang, zu viel, wiederholt sich, sollte anderen mehr Raum lassen

Kollegen

  • Kommunikationsstärke auch im direkten persönlichen Gespräch
  • Informationen weitestgehend sachbezogen und neutral
  • Spricht sehr klar, informiert mit klarem Ton, sendet klare und offene Botschaften – das kann auf andere etwas dominant wirken

Vorgesetzte

  • Informiert mich aktiv, umfassend und zeitnah – das schätze ich sehr
  • Muss immer wieder und ganz häufig erläutern und begründen
  • Sollte offener für Feedback werden – manchmal sind kritische Nachfragen und Hinweise aus der Zentrale einfach nötig, das sollte er nicht persönlich nehmen

Teilen und Klären mit den Feedbackgebern

Es kann durchaus vorkommen, dass bei einzelnen Aspekten des Feedbacks Selbst- und Fremdwahrnehmung partout nicht zusammenpassen wollen. Hier helfen die sogenannten „Sharing-and-Clarifying-Meetings“. In diesem Prozessschritt wird das Ergebnis an die Feedbackgeber zurückgespiegelt. Mit dem Vorgesetzten kann das Gesamtergebnis besprochen werden, um ihn so intensiv in den Coaching- und Veränderungsprozess einzubinden. Mit Kollegen gilt es, in Einzelgesprächen Fragen zu klären, geplante Veränderungen transparent zu machen und es ihnen dadurch zu erleichtern, Verhaltensänderungen überhaupt wahrzunehmen. Denn es ist ja bekannt, wie stark die Tendenz ist, bei einmal gefällten Urteilen über eine Person zu bleiben.

Insbesondere im internationalen Umfeld hat es sich bewährt, einen Workshop mit allen Mitarbeitern anzuberaumen, dort die Ergebnisse der Mitarbeitereinschätzung (nur dieser!) transparent zu machen und gegebenenfalls weitere Verbesserungspotenziale in Gruppen erarbeiten zu lassen.

Michael R.* ist ein junger Manager, der als Werksleiter an dem türkischen Fertigungsstandort seines Unternehmens arbeitet. Entsprechend der Konzernkultur pflegt er einen sehr kooperativen und integrativen Führungsstil: „Meine sieben Abteilungsleiter und ich sind ein echtes Team. Alle wichtigen Entscheidungen besprechen wir ausführlich in unseren wöchentlichen Jour fixes und mir ist wichtig, dass wir immer einen Konsens finden, den alle mittragen.“

Sehr erstaunt ist Michael R. über folgendes Ergebnis seines 360-Grad-Feedbacks: Seine Abteilungsleiter wünschen sich von ihm fast einhellig eine stärkere Durchsetzungskraft. „Er versucht, alle Meinungen einzuholen, möglichst alle Entscheidungen im Team zu treffen – das ist nicht gut. Er ist doch schließlich der Chef! Er versucht, jedem zuzuhören und ist nicht in der Lage, Entscheidungen eigenständig zu treffen.“

Ob der Wunsch nach mehr Durchsetzungskraft auf Kulturunterschiede zurückzuführen ist? Oder auf die Erfahrungen des Teams mit dem eher hierarchisch geprägten Führungsstil des Vorgängers? Letztlich sind die möglichen Ursachen zweitrangig. Im Sharing-and-Clarifying-Meeting mit den Mitarbeitern können die Feedbackergebnisse diskutiert und Vereinbarungen für die Zukunft getroffen werden.

Michael R. kann die Hintergründe seiner konsensorientierten Entscheidungsfindung erläutern („Bereichsübergreifendes Denken und Handeln ist für mich wichtig, das wird durch Konsensentscheidungen gefördert“), die Mitarbeiter können ihre Probleme damit loswerden („dauert lang, es reden immer die Gleichen und prägen damit die Entscheidung in ihrem Sinne“). Dies ist eine organisationsbezogene Entwicklungsmaßnahme, die über die individuelle Entwicklungsmaßnahme Führungskräfte-Coaching weit hinausreicht.

Coaching muss fortgesetzt werden

Die Feedbackphase ist damit abgeschlossen – das Coaching selbstverständlich nicht! Das individualisierte 360-Grad-Feedback unterstützt die Selbstreflexion des Klienten und fördert seine Eigenwahrnehmung. Im weiteren Coaching geht es nun darum, nachhaltige Verhaltens- und auch Einstellungsänderungen einzuleiten und zu begleiten.

*Namen von der Redaktion geändert

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