Wie sich das Feedbackinstrument harmonisch in den Coaching-Prozess integrieren lässt und bei welchen Coaching-Anlässen diese Kombination besonders wirkungsvoll ist, schildern die folgenden Beispiele:
Bernd K.* (38) ist als Projektmanager in einem internationalen Unternehmen tätig. Seine Fachkompetenz wird hoch geschätzt. Sein Kommunikationsstil dagegen ist für viele ein Problem. Kollegen im In- und vor allem im Ausland beschweren sich. In Videokonferenzen und internationalen Meetings nimmt man an seiner „direkten und dominanten Art“ Anstoß.
Der Vorgesetzte, die Personalentwicklerin und auch der Bereichsleiter wissen das. „Andeutungsweise“ sollte es auch Bernd K. wissen. Als eine Mitarbeiterin weinend eine von ihm geleitete Besprechung des Projektteams verlässt und mit sofortiger Wirkung ihre Projektarbeit niederlegt, wird klar, dass „Andeutungen“ wohl nicht reichen. Ein Coaching wird angedacht. Doch wer soll das wie kommunizieren?
Mit dieser Frage tritt die Personalentwicklerin an den externen Coach heran, und die rät: Der Vorgesetzte soll ein Coaching mit 360-Grad-Feedback vorschlagen, und wenn Bernd K. offen für diese Maßnahme ist, findet ein Vorgespräch statt. Interessanterweise ist Bernd K. sogar ausgesprochen offen dafür. Er findet es „total klasse, dass endlich mal was getan wird“ und die Aussicht auf das Rundumfeedback findet er „einfach nur spannend“ und meint: „Ich kann davon ja nur profitieren.“
Diese offene, neugierige Einstellung ist eine Grundvoraussetzung für die Anwendung der Methode. Die allermeisten Klienten, denen ein 360-Grad-Feedback vorgeschlagen wird, reagieren erfahrungsgemäß mit Interesse, nicht mit Ablehnung. Das hat natürlich viel damit zu tun, wem oder in welcher Situation das Instrument angeboten wird. Eine wichtige „Indikationsstellung“ ist die oben geschilderte: Es gibt Spannungen und Reibungspunkte in der Zusammenarbeit mit Kollegen, auch und gerade mit Kollegen, die in anderen Abteilungen, Unternehmensbereichen oder Kulturräumen tätig sind.
Dem Klienten ist „irgendwie schon klar, was das Problem der anderen (!) ist …“ aber irgendwie auch wieder nicht. „Man kriegt ja kein direktes Feedback von den Kollegen, dabei wäre ich dafür immer offen. Eigentlich schade, dass es dazu so ein Instrument braucht, das sollte doch auch anders möglich sein …“ Mit dieser Aussage unterstreicht Bernd K., wie notwendig gerade in seinem Fall ein definierter Feedbackprozess ist!
Besonders geeignet ist die Methode dann, wenn
Es empfiehlt sich, den Klienten selbst auswählen zu lassen, von wem er ein Feedback haben möchte. Drei bis maximal vier Personen pro Feedbackgebergruppe sind völlig ausreichend. Der Klient lädt die Feedbackgeber persönlich ein, teilzunehmen und sendet damit zwei zentrale Botschaften ins Unternehmen. Erstens: „Deine/Eure Meinung ist mir wichtig“ und zweitens: „Ich arbeite an mir, ich bin bereit, mich zu verändern“. Wahlfreiheit ist auch bei der Zusammenstellung der Kompetenzen, die Gegenstand des Feedbacks sind, gegeben.
Nach einer ersten, intensiven Zielvereinbarungsphase legen Coach und Klient gemeinsam fest, welche Themenbereiche im Fokus des Feedbackprozesses stehen sollen. Schlüsselkompetenzen wie zum Beispiel „Konfliktfähigkeit“ oder „Flexibilität“ werden definiert und im Anschluss von den Feedbackgebern bewertet. Die Kompetenzen in zahlreiche Einzeleigenschaften zu zerlegen, ist weder zielführend noch notwendig. Denn dadurch wird eine Informationsfülle erzeugt, die für den Feedbacknehmer wenig greifbar, ja manchmal sogar eher verwirrend ist.
Der Coach führt im nächsten Schritt Einzelinterviews mit den Feedbackgebern. Die Gespräche dauern 30 bis 60 Minuten und beginnen stets mit zwei offenen Fragen:
Erst danach werden die ausgewählten Kompetenzbereiche (mindestens fünf, selten mehr als acht) einzeln erläutert und eingeschätzt. Wiederum wird das Augenmerk darauf gerichtet, diese Einschätzungen anhand von Verhaltensbeispielen zu konkretisieren. Verhaltensbeispiele sind es, die das Feedback aussagekräftig für den Klienten und damit wertvoll für das Coaching machen. Sie erlauben ein ressourcenorientiertes Arbeiten mit den Stärken ebenso wie das konkrete Angehen von Entwicklungsfeldern.
Die Interviews lassen sich in aller Regel telefonisch führen. Lediglich bei direkten Mitarbeitern, insbesondere wenn sie einem Kulturraum (oder einer Unternehmenskultur) entstammen, die noch eher hierarchisch geprägt ist, sind persönliche Gespräche notwendig. Im persönlichen Kontakt gilt es, Vertrauen aufzubauen, die positive Absicht des Verfahrens herauszustellen, um somit die notwendige Offenheit zu erzeugen.
Aus den Feedbackgesprächen wird ein Ergebnisbericht erstellt, der so viele Originalzitate wie möglich enthält, ohne jedoch die Anonymität zu gefährden. Empfehlenswert: Gleiche oder ähnliche Einzelaussagen zu einem Block zusammenzufassen, um für den Klienten seine Außenwirkung deutlich herauszuarbeiten oder – auch das kommt vor – unterschiedliche oder widersprüchliche Fremdwahrnehmungen gegenüberzustellen.
Für die Eröffnung des Ergebnisses gilt es, ausreichend Zeit einzuplanen, damit wirklich jeder Punkt und jedes Zitat – falls notwendig – gemeinsam reflektiert werden kann. In den meisten Bereichen finden sich ein, zwei „Perlen“, das heißt Aspekte, die unmittelbar nachvollziehbar oder mit geringem Aufwand vom Klienten direkt veränderbar sind. Hier zwei Beispiele für „Perlen“:
Diese Ergebniseröffnung ist anspruchsvoll – für Klient und Coach. Es sollen keine Verständnisfragen offenbleiben und dennoch nicht alles zu zerredet werden. Das Feedback soll auch nachwirken, nachklingen. Der Klient hat das Recht auf einen „Verdauungsprozess“. Der gelingt in der Regel, interessanterweise auch bei hochkritischem Feedback, erstaunlich gut. Motto: „Irgendwie geahnt habe ich es ja, jetzt weiß ich wenigstens konkret, was los ist und kann damit arbeiten“.
Entscheidungsfähigkeit
Mitarbeiter
Kollegen
Vorgesetzte
Kommunikations- und Informationsfähigkeit
Mitarbeiter
Kollegen
Vorgesetzte
Es kann durchaus vorkommen, dass bei einzelnen Aspekten des Feedbacks Selbst- und Fremdwahrnehmung partout nicht zusammenpassen wollen. Hier helfen die sogenannten „Sharing-and-Clarifying-Meetings“. In diesem Prozessschritt wird das Ergebnis an die Feedbackgeber zurückgespiegelt. Mit dem Vorgesetzten kann das Gesamtergebnis besprochen werden, um ihn so intensiv in den Coaching- und Veränderungsprozess einzubinden. Mit Kollegen gilt es, in Einzelgesprächen Fragen zu klären, geplante Veränderungen transparent zu machen und es ihnen dadurch zu erleichtern, Verhaltensänderungen überhaupt wahrzunehmen. Denn es ist ja bekannt, wie stark die Tendenz ist, bei einmal gefällten Urteilen über eine Person zu bleiben.
Insbesondere im internationalen Umfeld hat es sich bewährt, einen Workshop mit allen Mitarbeitern anzuberaumen, dort die Ergebnisse der Mitarbeitereinschätzung (nur dieser!) transparent zu machen und gegebenenfalls weitere Verbesserungspotenziale in Gruppen erarbeiten zu lassen.
Michael R.* ist ein junger Manager, der als Werksleiter an dem türkischen Fertigungsstandort seines Unternehmens arbeitet. Entsprechend der Konzernkultur pflegt er einen sehr kooperativen und integrativen Führungsstil: „Meine sieben Abteilungsleiter und ich sind ein echtes Team. Alle wichtigen Entscheidungen besprechen wir ausführlich in unseren wöchentlichen Jour fixes und mir ist wichtig, dass wir immer einen Konsens finden, den alle mittragen.“
Sehr erstaunt ist Michael R. über folgendes Ergebnis seines 360-Grad-Feedbacks: Seine Abteilungsleiter wünschen sich von ihm fast einhellig eine stärkere Durchsetzungskraft. „Er versucht, alle Meinungen einzuholen, möglichst alle Entscheidungen im Team zu treffen – das ist nicht gut. Er ist doch schließlich der Chef! Er versucht, jedem zuzuhören und ist nicht in der Lage, Entscheidungen eigenständig zu treffen.“
Ob der Wunsch nach mehr Durchsetzungskraft auf Kulturunterschiede zurückzuführen ist? Oder auf die Erfahrungen des Teams mit dem eher hierarchisch geprägten Führungsstil des Vorgängers? Letztlich sind die möglichen Ursachen zweitrangig. Im Sharing-and-Clarifying-Meeting mit den Mitarbeitern können die Feedbackergebnisse diskutiert und Vereinbarungen für die Zukunft getroffen werden.
Michael R. kann die Hintergründe seiner konsensorientierten Entscheidungsfindung erläutern („Bereichsübergreifendes Denken und Handeln ist für mich wichtig, das wird durch Konsensentscheidungen gefördert“), die Mitarbeiter können ihre Probleme damit loswerden („dauert lang, es reden immer die Gleichen und prägen damit die Entscheidung in ihrem Sinne“). Dies ist eine organisationsbezogene Entwicklungsmaßnahme, die über die individuelle Entwicklungsmaßnahme Führungskräfte-Coaching weit hinausreicht.
Die Feedbackphase ist damit abgeschlossen – das Coaching selbstverständlich nicht! Das individualisierte 360-Grad-Feedback unterstützt die Selbstreflexion des Klienten und fördert seine Eigenwahrnehmung. Im weiteren Coaching geht es nun darum, nachhaltige Verhaltens- und auch Einstellungsänderungen einzuleiten und zu begleiten.
*Namen von der Redaktion geändert