Coaching kann als reflexiver Dialog verstanden werden, welcher u.a. der Förderung der Selbstorganisationsfähigkeit der Klientin bzw. des Klienten im Berufs- und Arbeitsleben dient (RTC, 2015). Hierbei richtet sich Coaching zumeist an Personen mit Managementfunktionen und findet auf Augenhöhe statt (Rauen, 2014). Folglich stellt das Verhältnis von Coach und Klient/in keine Lehrer-Schüler-Beziehung dar, ein Beziehungsgefälle liegt nicht vor. Vor diesem Hintergrund betrachtet mag es auf den ersten Blick unpassend erscheinen, im Coaching „Hausaufgaben“ einzusetzen. Viele Coaches tun jedoch genau dies und es spricht auch einiges dafür, wie in folgendem knappen Überblick (siehe auch Abb.) gezeigt werden soll.
Anhand des Einsatzes von Aufgaben, die zwischen den Sitzungen eigenständig zu bearbeiten sind, können Coaches für mehr Verbindlichkeit im Coaching-Prozess sorgen. Nach Rauen (2012) kann ein mangelhaftes Mitwirken der gecoachten Person auf einen fehlenden schriftlichen Vertrag, eine nur oberflächlich erfolgte Zielklärung und/oder darauf zurückzuführen sein, dass keine verbindlichen Hausaufgaben vereinbart wurden.
Was sind die Folgen fehlender Verbindlichkeit im Coaching-Prozess? „Grundsätzlich führt mangelnde Verbindlichkeit oft dazu, die Kompetenz des Coachs anzuzweifeln. Im Ergebnis wird das Coaching nicht allzu ernst genommen, der Prozess wird zäh oder dreht sich im Kreis“, so Rauen (ebd.). Coaches sollten daher „mit selektiver Direktivität Hausaufgaben vereinbaren und überprüfen“, führt Rauen weiter aus. Dies verlange Coaches allerdings Disziplin und das Arbeiten am eigenen Standing ab.
In eine ähnliche Richtung geht die Funktion des Aufrechterhaltens der Prozessintensität zwischen den Sitzungen. Zwischen zwei Coaching-Terminen kann schon einmal etwas Zeit vergehen und das Besprochene schnell in Vergessenheit geraten. Schuy (2017) weist darauf hin, dass Klientinnen und Klienten einen Großteil des Coaching-Prozesses (oder auch einer Therapie) und damit einen Großteil der Veränderungs- und Entwicklungszeit im Alltag verbringen. Schuy (ebd.) erklärt daher: „Deshalb stellen vor allem erfahrene Therapeuten und Coaches ihren Klienten Hausaufgaben, die den Transfer in die Praxis sicherstellen und die Intensität des Prozesses aufrechterhalten.“
Aus dem Zitat geht eine weitere Funktion hervor: Mittels Hausaufgaben können Coaches den Praxistransfer der in den Coaching-Sitzungen erarbeiteten Inhalte unterstützen. So weist Schuy (ebd.) darauf hin, dass die praktische Umsetzung in den gemeinsamen Sitzungen erarbeiteter Inhalte anhand entsprechender eigenverantwortlich umgesetzter Aufgaben geübt werden könne. Erfahrungen, die der Klient bzw. die Klientin hierbei macht, und Reaktionen des Umfeldes der Person können wiederum in die Arbeit mit dem Coach eingebracht werden und wertvolle Information für die Planung weiterer Schritte im Prozess darstellen, so Schuy (ebd.).
Hausaufgaben können – werden sie als Umsetzungsübungen verstanden – der Erprobung neuer Handlungsoptionen dienen, die im Coaching ausfindig gemacht, aber noch nicht in der Praxis auf Funktionalität geprüft wurden. Pscherer (2012, S. 21) skizziert, wie sich Hausaufgaben im Anschluss an die Formulierung von Veränderungszielen in den Coaching-Prozess einbinden lassen und stellt dabei die Funktion einer „Realitätstestung“ heraus: „Schrittweise werden verhaltensnahe Übungen mit entsprechenden Hausaufgaben (Realitätstestung) lösungsorientiert eingesetzt.“
Durch passend gewählte Hausaufgaben können Coaching-Sitzungen an Effizienz gewinnen. Fritzsche (2021) beschreibt, wie Coaching-Sessions zielführender gestaltet werden können, indem der Coach seiner Klientin bzw. seinem Klienten anhand eines im Vorfeld zur Verfügung gestellten Fragentableaus zu einer Vorabreflexion animiert: „So kann der Klient einige Aspekte bereits vor der Sitzung reflektieren, der Coach kann in der Sitzung unmittelbar daran anknüpfen.“ Dieses Vorgehen, so Fritzsche (ebd.), sei im Coaching „generell sinnvoll, wenn Coach und Klient schnell auf den Punkt kommen wollen.“ Im Kontext von Online-Coachings biete es sich deshalb besonders an, da Online-Sitzungen häufig kürzer ausfallen, um der oftmals berichteten schnelleren Erschöpfung der Gecoachten Rechnung zu tragen. Aus Rauen et al. (2022) geht wiederum hervor, dass Online-Coaching in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat. Vor diesem Hintergrund könnte man auch den Hausaufgaben eine wachsende Bedeutung in der Coaching-Praxis beimessen.
Im Coaching sollte einem Problem- stets ein Ressourcenerleben entgegengestellt werden, wie Dr. Alica Ryba im Interview mit dem Coaching-Magazin (Ebermann, 2021) betont. Man spricht in diesem Kontext von Kontrastierung. „Wenn sie nicht stattfindet, dem Problemerleben also kein Lösungs- und Ressourcenerleben gegenübergestellt wird, verstärkt man das Problem nur“, so Ryba (ebd., S. 20). Was kann hieraus in Bezug auf das Thema dieses Beitrags gefolgert werden? Neigt ein Klient bzw. eine Klientin zu einem starken Problemempfinden, sollte der Coach bei der Auswahl von Umsetzungsübungen, die vom Coach nicht unmittelbar begleitet werden, umso penibler darauf achten, die gecoachte Person nicht zu früh mit besonders herausfordernden Aufgaben zu konfrontieren, da Misserfolge das Problemerleben bzw. die Defizitorientierung verstärken könnten. Auch eine quantitative Überforderung des Klienten sollte aus ebendiesem Grund unbedingt vermieden werden. Coaches sollten sich ein Bild von den Kapazitäten der Klientin/des Klienten machen und die gestellten Aufgaben entsprechend anpassen.
Im Umkehrschluss darf gefolgert werden: Erfolgreich erledigte Umsetzungsaufgaben können die Wahrnehmung der eigenen Ressourcen auf Klientenseite stärken und somit positiv zum Selbstwirksamkeitsempfinden der Person beitragen. Schuy (2017) bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Über die Zeit werden Ressourcen im Klienten aktiviert und die Motivation für die Gestaltung der eigenen Entwicklung steigt enorm.“ Um dieses Potenzial nutzen zu können, sollte eine Überforderung unbedingt vermieden und die Übungen mit Bedacht gewählt werden. Sie sollten „weder zu leicht noch zu schwer“ ausfallen und nicht mit einem zu hohen Zeitaufwand verbunden sein, wie Schuy (ebd.) festhält.
Wenngleich Coaches mit Hausaufgaben übergeordnete Ziele wie die Aufrechterhaltung der Prozessintensität zwischen den Sitzungen verfolgen, sollte sich die Auswahl der Aufgaben natürlich dennoch eng am Anliegen der gecoachten Person und am inhaltlichen Stand des Coaching-Prozesses orientieren. Der Coach sollte hierbei Transparenz hinsichtlich des Vorgehens walten lassen und den Sinn der Aufgaben im Kontext des spezifischen Coachings erläutern, damit nicht der Anschein einer „Beschäftigungstherapie“ erweckt wird. Schuy (ebd.) führt an, dass Klientinnen und Klienten das Versäumen von Hausaufgaben häufig damit begründeten, in der Aufgabe keinen Sinn gesehen zu haben, und erläutert: „Es sollte klar werden, wie und weshalb das Erledigen der Aufgabe zur Zielerreichung beiträgt.“ Aus demselben Grund bietet es sich an, zu Beginn der darauffolgenden Sitzung Bezug zur Hausaufgabe zu nehmen und die erlangten Erkenntnisse des Klienten/der Klientin in den Prozess nutzbringend einzubinden.
Bei der Erörterung potenzieller neuer Handlungsoptionen im Coaching kann der Coach durchaus Vorschläge einbringen, sofern er dabei in der neutralen Haltung bleibt und die Vorschläge als Reflexionsangebote begreift. Wird eine Option, die auf einen Vorschlag des Coachs zurückgeht, im Zuge einer Umsetzungsaufgabe von der begleiteten Person eigenständig erprobt, kann das Feedback an den Coach unter Umständen negativ ausfallen. Die Option kann vom Klienten bzw. von der Klientin als nicht funktional eingestuft werden. Der Coach sollte in dieser Situation keinesfalls in die Falle einer zu starken Identifikation mit seinem Vorschlag tappen und beleidigt sein. Im Interview mit dem Coaching-Magazin (Ebermann, 2022, S. 18) betont Dr. Beate West-Leuer im Zusammenhang mit Ratschlägen eines Coachs: „Es geht grundsätzlich darum, dass der Klient seinen zu ihm passenden Weg findet und den Ratschlag ggf. auf seine ganz eigene Weise umsetzt. Der Coach darf mit seinen Vorschlägen also keinesfalls narzisstisch identifiziert sein.“
Zurück zum Anfang dieses Beitrags: Die Vorstellung, einer Klientin bzw. einem Klienten – etwa einer erfahrenen Führungskraft der höheren Managementebene – im Coaching „Hausaufgaben“ zu geben, mag durchaus etwas skurril erscheinen. Sicherlich werden sich die meisten Klientinnen und Klienten hiervon – wenn überhaupt – nur kurz irritieren lassen. In Einzelfällen könnte sich die betroffene Person jedoch von dem Begriff (bzw. von dem Coach) herabgesetzt oder in unangenehmer Weise an ihre Schulzeit erinnert fühlen (vgl. Schuy, 2017). Dies wiederum könnte innere Widerstände fördern. Im allgemeinen Sprachgebrauch und -verständnis erhalten Schülerinnen und Schüler oder Lehrlinge Hausaufgaben. Bereits auf Studierende trifft dies erfahrungsgemäß nicht mehr zu – auf Menschen, die es im Arbeitsalltag gewohnt sind, selber den Ton anzugeben, schon gar nicht. Daher (und um den Eindruck einer „Beschäftigungstherapie“ wie oben erwähnt zu vermeiden) dürfte es überlegenswert sein, im Dialog mit der gecoachten Person stattdessen Begriffe zu verwenden, die stärker auf den eigentlichen Sinn und Zweck der Maßnahmen referenzieren, z.B.: Umsetzungs- oder Transferübung. Schuy (ebd.) schlägt zudem Begriffe wie u.a. Selbstbeobachtung, Selbsttraining, Praxisübung oder Lerntransfervereinbarung vor. Es wäre mehr als schade, wenn der oben angesprochene Nutzen, den entsprechende Aufgaben zwischen den Coaching-Sitzungen entfalten können, unausgeschöpft bliebe, weil ein als unpassend empfundener Begriff dem im Wege stünde.