Ein Segler vor Helgoland funkt im dichten Nebel die Deutsche Zentrale zur Rettung Schiffbrüchiger an und bittet darum, ihn per Funk über Radar nach Helgoland zu lotsen. Der Diensttuende ist hilfsbereit: „Klar, das können wir machen. Bitte geben Sie uns Ihre Position an!“ Der Segler erwidert: „Bankdirektor“.
Vielleicht entspricht es Ihrem Bezugsrahmen nicht, in einem Fachartikel einen Witz zu lesen? Dann seien Sie beruhigt, das war kein Witz - diese Geschichte ist vor etlichen Jahren tatsächlich passiert. Sie zeigt sehr schön, wie stark unsere Verhaltensweisen von unserem Bezugsrahmen dominiert werden. Im Bezugsrahmen des obigen Seglers bedeutete „Position“ eben die Stufe der Karriereleiter, die er erklommen hatte. Er kam selbst in der prekären Lage, in der er sich befand, nicht auf die Idee, dass sein momentaner Aufenthaltsort damit gemeint sein könnte und seine berufliche Stellung gerade gar niemanden interessierte.
Im Bezugsrahmen eines Menschen fließen Selbstbild und Weltbild zusammen, dazu kommen die Erfahrungen, die im Laufe eines Lebens gemacht wurden, sowie die Werte, die man von Eltern und anderen Autoritätsfiguren übernommen und jene, die man sich selbst angeeignet hat. Der Bezugsrahmen ist die Brille, durch die der Mensch auf die Welt schaut. Und da der Bezugsrahmen ausschlaggebend für unser Denken, Handeln und Fühlen, ja sogar für unsere Wahrnehmung, ist, muss jede Veränderung nach außen mit einer Veränderung des Bezugsrahmens nach innen einhergehen. Oder anders herum, es muss sich etwas auf der Ebene des Bezugsrahmens verändern, wenn sich am Verhalten etwas ändern soll. Jemand, der im Coaching ein Problem lösen will, muss lernen, mit anderen Augen, beziehungsweise mit einer anderen Brille, auf dieses Problem zu schauen. Unveränderte Sichtweisen führen nur zu unveränderten Handlungen.
Zunächst muss der Coach den Bezugsrahmen seines Klienten verstehen. Das erreicht man durch Fragen. Selbst gestandenen Coachs passiert immer wieder, dass sie glauben, das Problem verstanden zu haben und sind doch nur ihrem eigenen Bezugsrahmen aufgesessen. Fragen Sie als Coach so lange, bis Sie alle wesentlichen Worthülsen geknackt haben, indem sie genau hinterfragen, was mit bestimmten Begrifflichkeiten, Mengenangaben usw. ganz konkret gemeint ist. Zu schnell zu glauben, man habe etwas verstanden, ist für den Coach eher hinderlich.
Während dieses Prozesses, bei dem die Worthülsen geknackt werden, erfährt der Coach sehr viel über die Werte, die der Klient implizit mitteilt. Außerdem kann man sehr viele Rückschlüsse ziehen auf die Glaubenssätze des Klienten, die mitverantwortlich dafür sind, dass er genau dieses Problem hat. Zum Beispiel jene Führungskraft, die im Coaching „besseres Zeitmanagement“ erlernen wollte: Beim Befragen stellte sich heraus, dass sie nie dazu kam, ihre eigentlichen Tätigkeiten in Ruhe zu erledigen, weil sie permanent von den Mitarbeitern „beschäftigt“ wurde. Durch weiteres Nachfragen wurde klar, dass „immer für die Mitarbeiter da sein, sie fördern und unterstützen“ einen ganz hohen Wert für sie darstellte, der sich in dem Glaubenssatz „wenn meine Tür jederzeit für die Mitarbeiter offen ist, bin ich eine gute Führungskraft“ kulminierte. Ein besseres Zeitmanagement allein hätte dieser Führungskraft gar nichts genützt.
Wenn man nun den für das Problem relevanten Teil des Bezugsrahmens erkannt hat, kann man sich an die Arbeit machen. Dabei geht es im Coaching keinesfalls darum, etwas „Altes, Schlechtes“ aus dem Bezugsrahmen zu entfernen und etwas „Neues, Gutes“ hinzufügen. Es geht darum, durch das Coaching den Bezugsrahmen zu erweitern, sodass sich dem Klienten mehr Handlungsspielraum eröffnet.
Eine der Möglichkeiten, die dem Coach dafür zur Verfügung stehen, ist, den Bezugsrahmen des Klienten zunächst zu übernehmen, ihn also zu bestätigen - aber unangenehme Konsequenzen daraus abzuleiten. Anhand eines Beispiels aus der Praxis sei dieses Vorgehen erläutert:
Ein Klient hatte einen empfindlichen Karriereknick erlitten und stand kurz vor dem endgültigen Aus in seiner Firma, weil er es nicht lassen konnte, hierarchisch höher Stehende vorzuführen und „anzuschießen“. Da er fachlich hervorragend und sehr intelligent war, traf er dabei auch immer ins Schwarze, was ihm inzwischen den Ruf eingebracht hatte, dass er einfach unerträglich und zur Zusammenarbeit nicht fähig sei. Im Coaching rechtfertigte er sein Verhalten damit, dass er eben sehr geradeheraus sei, sich nicht verbiegen wolle, und immer offen und ehrlich seine Meinung sage. Und das alles könne er auch leider nicht ändern, denn: „Ich bin eben so, da kann man gar nichts machen!“.
Der Coach kann darauf mit der „Hampelmann-Intervention“ reagieren: „Ja, das sehe ich ein. Sie sind, wie Sie sind und da kann man auch nichts machen. Aber, Sie sind dadurch natürlich total manipulierbar. Sie müssen ja so sein, wie Sie nun einmal sind. Das ist wie bei einem Hampelmann, wenn man bei dem unten zieht, dann reißt er die Arme hoch!“ Das führt man dem Klienten am besten auch bildlich vor, indem man seine Arme nach oben reißt, sodass ihm sehr plastisch wird, was mit Hampelmann gemeint ist.
Anhand der Episoden, die der Klient dem Coach aus seinem Berufsleben erzählt, kann man die Hampelmann-Metapher noch mehrere Male ins Spiel bringen und ihn immer wieder wissen lassen: „Wenn man halt so ist, wie man ist, reagiert man zwangsläufig wie ein Hampelmann. Und die anderen können dann mit einem machen, was sie wollen, denn sie können sich ja darauf verlassen, sie brauchen nur am Fädchen zu ziehen, schon reißt er die Arme hoch!“. Bis er genug von diesem Bild hat, statt als aufrechter Kämpfer als im Grunde willenloser Hampelmann dazustehen. Nach dem vielleicht fünften Mal wird er zu überlegen beginnen, dass er sein Verhalten eigentlich doch selbstbestimmt gestalten und damit verändern könnte. Sein Bezugsrahmen hat sich dann um die Erkenntnis „Ich kann mich verändern, ohne mich zu verbiegen“ erweitert. Das Ergebnis: Der Klient ist in seiner Firma inzwischen wieder für einen Millionen-Etat und internationale Projekte verantwortlich.
Eine weitere Möglichkeit, den Bezugsrahmen eines Klienten zu erweitern, besteht darin, ihm Umdeutungen seines Problems anzubieten. Umdeutungen müssen jedoch unbedingt einleuchtend sein, sie wirken nur, wenn der Klient sie nicht für an den Haaren herbeigezogen hält. Die Umdeutung kann manchmal die Form einer glatten 180-Grad-Wendung annehmen, wenn man etwas, das der Klient als große Katastrophe, stattdessen als Glücksfall wertet und das auch begründen kann. Einem Abteilungsleiter, der einen seiner Kollegen so abscheulich fand, dass er am liebsten gekündigt hätte, kann man sagen, dass ihm etwas Besseres als genau dieser Kollege doch gar nicht hätte passieren können. Um einen so fantastischen Trainingspartner für folgende Punkte, die man ihm dann aufzählen kann, zu finden, hätte er lange suchen müssen. Wenn der Klient seinen verhassten Kollegen als Sparringspartner betrachten kann, entspannt sich die Dynamik zwischen beiden, sodass sich auch ihre Beziehung normalisiert.
Da der Coach durch das gründliche Erfragen des Bezugsrahmens weiß, welche Werte dem Klienten wichtig sind, kann er auch diese verwenden, um dem Klienten einen neuen Blick auf sein Problem zu ermöglichen. Von einem Vorgesetzten, dessen Problem unter anderem darin bestand, dass er sich immer wieder Aufgaben rückdelegieren ließ, wusste der Coach, dass er sich „Fairness“ auf die Fahnen geschrieben hatte. Also konfrontierte er ihn damit, dass er sich seinen Mitarbeitern gegenüber doch sehr unfair verhielte. Auf seine erstaunte Nachfrage, wieso man das behaupten würde, antwortete der Coach: „Da Sie den Mitarbeitern, die ihnen zugewiesene Aufgaben als zu schwierig empfinden, immer wieder die Arbeit abnehmen, berauben Sie sie der Möglichkeit, etwas dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln. Ich finde schon, dass das unfair ist. Die bleiben immer an der gleichen Stelle, während Sie sich sagen können, dass Sie ein herzensguter Chef sind. Es ist doch unfair, dass jede Anerkennung bei Ihnen hängenbleibt!“
Auch die Wertehierarchie des Klienten, die man sich aus der vorherigen Befragung erschlossen hat, kann man zu Interventionszwecken nutzen. Sinnlos ist allerdings, einfach gegen die Werte des Klienten zu argumentieren, selbst wenn sie dem Coach noch so absurd erscheinen. Was jedoch funktionieren kann, ist ihn in Konflikt zu bringen mit zweien seiner Werte, wenn man ihm klarmachen kann, dass das Verfolgen des einen notwendigerweise den Bruch des anderen, höheren Wertes nach sich zieht.
Ein Filialleiter hatte sich durch seinen beißenden Sarkasmus, den er bei Besprechungen mit seinen Kollegen an den Tag legte, einen so schlechten Ruf erworben, dass inzwischen alle ihre Ohren auf Durchzug stellten, wenn er etwas sagte. Dabei gingen auch seine inhaltlich guten Ideen unter. Im Coaching wurde klar, dass es ihm wichtig war, „immer offen und ehrlich zu sagen, was ich denke.“ Andererseits war ein hoher Wert für ihn, „an der Sache orientiert zu sein“. Die Coaching-Intervention besteht darin, zu ihm zu sagen: „Bei Ihren vielen guten Ideen ist es schade, dass Sie meistens gar nicht daran interessiert sind, die Sache voran zu treiben!“ Erwartungsgemäß protestiert er nun heftig. Der Coach fährt fort: „Sie bringen die Sache deshalb nicht vorwärts, weil niemand auf Ihre sachlichen Argumente hört, wenn Sie sie so dick in Sarkasmus verpacken. Alle hören nur Ihre ironischen Tiraden, verdrehen innerlich die Augen, schalten ab und Ihre guten und richtigen Argumente gehen unter!“
Es ist wichtig, solche provozierenden Aussagen genau so pointiert zu formulieren. Der Klient muss sofort protestieren, weil er so keinesfalls gesehen werden will. Eine windelweiche Formulierung brächte keinen Effekt (s. Kasten). Es ist der „Schock“, der den Bezugsrahmen so weit erschüttert, dass der Klient zu einer Sichtweise kommt, die ihm neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Und genau darum geht es bei der Arbeit mit Bezugsrahmen: Nicht um wahre oder falsche Sichtweisen, sondern darum, dem Klient Sichtweisen anzubieten, die ihm helfen, anders als bisher weiterzumachen.