Zwei Fragen begleiten wohl jedes Coaching: Was ist das Thema hinter dem Auftrag und wie kann der Klient dort abgeholt werden, wo er gerade steht? Dabei konnte in vielen Forschungen bestätigt werden, dass zur Beantwortung dieser Fragen, durch den Coaching-Prozess hindurch, das Denken, Fühlen und Verhalten gleichermaßen angesprochen werden müssen und ebenso, dass es nicht bestimmte Methoden und Techniken sind, die den entscheidenden Entwicklungsschub auslösen (Grawe, 2000; Rogers, 1942; 2009; Yalom, 2019). Techniken und Interventionen sollten daher flexibel dem Klienten angeboten werden und auf dessen Reaktion wiederum flexibel reagiert werden können. Und um diesem Anspruch nachzugehen, reicht es nicht aus, dass der Coach über ein Methodenrepertoire verfügt. Stattdessen gilt vor allem: „Wir müssen uns anhören, was die Klienten uns zu sagen haben (…). Letztendlich müssen wir ein wohldurchdachtes (…) Vorgehen entwickeln, das uns die Flexibilität ermöglicht, die wir brauchen, um mit der unendlichen Vielfalt menschlicher Probleme sinnvoll umzugehen.“ (Yalom, 2019, S. 108ff)
Doch worauf sollte der Coach hören, wie kann er seine Flexibilität erhalten und im passenden Augenblick am Wahrgenommenen intervenieren, anstatt „vorzurennen“ oder „zurückzubleiben“? Und wie können die Eigenarten einer Person konstruktiv in den Prozess integriert werden?
Um diese Fragen zu beantworten, nimmt das Personzentrierte Zwei-Kräfte-Modell (PKM) (Hellwig, 2020) die psychodynamischen Wechselwirkungen in den Fokus. Die zwei Kräfte stehen darin gleichbedeutend für die sich gegenseitig beeinflussende psychische Energie von Coach und Klient. Es wird gefragt, wie diese Energie im Hier-und-Jetzt wirkt (siehe Abb.). Das PKM ist damit ein Wirkungs- und Anwendungsmodell, mit dem individuelle Besonderheiten des Klienten derart wahrgenommen und integriert werden können, dass ihm seine Umsetzungs- und Veränderungsenergie für das Coaching-Thema zugänglich gemacht werden kann.
Das theoretische Fundament dieses Modells bildet die Personzentrierte Theorie von Carl R. Rogers (z.B. 1976; 2009). Es ist das maßgebliche Verfahren der humanistischen Psychologie mit ihrem festen Glauben an eine konstruktive Entwicklungskraft im Menschen. Im Verlauf seiner Theoriebildung und Forschungen hatte Rogers sechs Bedingungen für Beratungsgespräche erkannt ( Hellwig, 2016), unter denen Personen ihre Ressourcen selbstwirksam entwickeln können. Dabei sind es drei Merkmale, die für die Ressourcenaktivierung das Fundament bilden, die Rogers formulierte: Der Coach sollte (1) empathisch das Übermittelte des Klienten verstehen können, (2) ihm wertschätzend begegnen und dabei selbst (3) kongruent bleiben (Rogers, 2009). In ihrer Kombination sind sie das „Beziehungsangebot“ des Coachs: Jede Person benötigt zur Weiterentwicklung die Sicherheit einer wertschätzenden, akzeptierenden Beziehung, in der sie sich ohne Gefahr von Bewertungen und fremden „besseren“ Wissen über die eigene Person konstruktiv selbstkritisch mit sich auseinandersetzen kann. Rogers „Beziehungsangebot“ ist die förderliche Energie im Zwei-Kräfte-Modell: Sie begünstigt die Selbstwirksamkeitsüberzeugung als übergreifende Ressource (Bandura, 1997; Herriger, 2006) und fördert damit das gegenseitige Vertrauen. Diese drei Beziehungsbedingungen sind im PKM Handlungsstrategie und Haltungsanspruch gleichermaßen (Hellwig, 2016; 2020).
Die augenscheinliche Einfachheit und Selbstverständlichkeit dieser drei Bedingungen sind es jedoch auch, durch die sie zu einem Axiom für Beratungsgespräche geworden sind. Doch: Ihr volles Potential nutzen sie nur in ihrer Triade und nur in Kombination mit weiteren drei Bedingungen. Es sind (1) die Qualität und die Besonderheit der Kontaktgestaltung sowie die aktuellen (2) Empfindlichkeiten (Inkongruenzen), die mit dem Coaching-Anlass und -Thema einhergehen, und die (3) Resonanz: wie der Klient auf das Beziehungsangebot reagiert. Dabei zeigen sich die Inkongruenz, Kontakt- und Resonanzfähigkeit des Klienten als Teil seines Selbsterlebens und in der Konsequenz in seiner Selbstexplorationsfähigkeit, der Fähigkeit zur holistischen Selbstanalyse. Mit diesen Eigenheiten ist der Klient die zweite Kraft im PKM.
Diese sechs Bedingungen sind im Verlauf des Coachings folgendermaßen aufeinander bezogen: Wie geht der Klient in Kontakt? Was macht seine Inkongruenz (sein Thema) aus? Kann der Coach auf die Person und ihr Thema kongruent reagieren? Wie gibt der Coach das Verstandene wertschätzend und empathisch zurück? Wie reagiert der Klient auf seine Interventionen? Dieser linear geschilderte Verlauf ist im PKM in ein psychodynamisches Prozessmodell integriert, mit dem die Wirkung und die Handhabung der entstehenden Wechselwirkungen verdeutlicht werden. Denn: Keine Person ist ohne ihr psychologisches Mitwirken erreichbar – der Klient muss sich auch entwickeln wollen (Rogers, 1983). Das PKM will daher für das gegenwärtig erreichbare Selbst-Erleben des Klienten sensibilisieren, um „mit dem Klienten gehen“ zu können.
„Erleben“ ist hier definiert als das, was sich innerhalb der Person in einem bestimmten Augenblick abspielt und was dem (Rand-)Bewusstsein zugänglich ist. Es ist die Summe aller Einflüsse aus Vergangenheit und Gegenwart (Rogers, 2009). Daher sind die Beachtung und das Aufgreifen des Hier-und-Jetzt, in Verbindung mit den psychodynamischen Wechselwirkungen, die die Beziehungsgestaltung zwischen Coach und Klient „bewegen“, von höchster Bedeutung: Sie steigern die Effizienz der Coaching-Wirkung durch die Förderung des interpersonellen Lernens und durch die Klärungsmöglichkeit im Prozess erheblich (Yalom, 2019; Rogers, 1976; 2009). Dazu geht der Coach auf die unmittelbaren Selbst-Erlebens-Äußerungen des Klienten ein, auch auf die, die am „Rande der Gewahrwerdung“ bemerkt werden. Der Coach beobachtet die Resonanz auf seine Intervention – denn die Überprüfung der Interaktion hat Priorität (Gendlin, 2012; Rogers, 2009). Sie zeigt die Bedeutung und den Sinnbezug an, den die Intervention für den Klienten hat. In der Konsequenz können mit dem PKM drei Bereiche menschlicher Themen bearbeitet werden:
Anhand dieser Leitfragen können tieferliegende Wünsche und Hindernisse bearbeitet werden wie z.B.: Als wie sinnvoll werden innere und äußere Vorhaben und Ziele empfunden? Wie konsistent und klar werden Informationen wahrgenommen und wie handhabbar erscheint dem Klienten die Umsetzung?
Dabei ist jeder Klient in der gleichen Ausgangslage. Er befindet sich in einer Krise: Seine bisher gewohnten Handlungsoptionen sind zur Bewältigung aktueller Anforderung unzureichend. Und durch die gescheiterten Lösungsversuche, durch die „Unverbesserlichkeit“ der Situation, wurden innere und/oder äußere Zweifel an den vorhandenen Fähigkeiten aktiviert, was mit unterschiedlichen (emotionalen) Reaktionen verbunden ist. Zudem befindet sich der Klient in einer ungewohnten Situation, in der er sich mehr oder weniger bewusst fragt: Versteht der Coach meine Situation und mich als Person? So sollte der Verstehensprozess in der Konsequenz das Verstehen der persönlichen Bedeutungen der Situation für den Klienten und das Verstehen dessen Erlebens sowie der Erfahrungen mit den (Eigen-)Bewertungen erfassen (Rogers, 1976). Es involviert damit auch die Vertrauensfrage: Werde ich hier in meinem Sein angenommen oder (auch wieder) belehrt und verkannt?
In dieser Verstrickung entsteht im Prozess das, was man als psychodynamisches Chaos bezeichnen kann. Durch den primären Wunsch, verstanden zu werden, beinhaltet das Handeln die stete Ausrichtung auf die andere Person, mit der Absicht eine „Wir-Wirklichkeit“ herzustellen (Rosenthal, 1995, S. 457): Es entstehen aufeinander bezogene, selbstorganisierende Interaktionsmuster und gleichzeitig besteht durch jede – absichtliche oder unabsichtliche – Irritation durch Nichtverstehen die Gefahr der „operativen Schließung“ des Person-Systems (Luhmann, 1997, S.44): Die Person aktiviert unbewusste Schutzmechanismen, wenn ihren Erfahrungen widersprochen wird („Ich hab das schon immer so gemacht.“), oder ihre Erfahrungen bestätigt werden („Ich wusste, dass der mich auch nicht versteht.“). Eine Person wird dann von ihren „Überzeugungen dominiert, es gelingt ihr nicht, das eigene Reagieren nach der Realität auszurichten“ (Rogers, 2009, S. 37). Doch eine Person fühlt, denkt, handelt nicht nur aufgrund ihrer Erfahrungsmuster, sondern sucht beim aktuellen Gegenüber auch nach bekannten Mustern aus alten Beziehungen. Diese geben Handlungssicherheit und befriedigen Bedürfnisse. So können Menschen gar nicht anders, als ihre abgespeicherten, zwischenmenschlichen Erfahrungen in neue (Coaching-)Beziehungen hineinzutragen. Sie fungieren als „aktivierte primäre Beziehungsschemata“ (Fosshage, 1994 nach Oberhoff, 2009, S. 56; Rogers, 2009).
In der Folge kann der Klient in seinen Reaktionen rigider werden, weniger offen und weniger selbstreflexiv mitarbeiten. Die (Gesprächs-)Techniken des Coachs können auf sehr unterschiedliche Weise von ihm abgewehrt werden. Was jedoch nicht gleichbedeutend damit ist, dass der Klient äußerlich nicht mitarbeitet. In diesem Dilemma eines strukturgebundenen Handelns stehen Coach und Klient umso intensiver, desto stärker bestimmten Erfahrungsmustern neue Erfahrungsangebote übergestülpt werden. Monokausale Reaktionserwartungen greifen daher zu kurz. Denn auch wenn eine offene und ehrliche Beziehung zwischen Coach und Klient die Basis ist, reicht ein einseitiges „Beziehungsangebot“ nicht aus. Die Resonanz des Klienten darauf sollte für beide verstehbar sein, damit sie integriert werden kann (Keil & Stumm, 2018).
Das bedeutet, dass der Coach wahrnehmen sollte, was in der Person vorgeht: ihre Art zu denken, zu fühlen und ob es zu dem passt, wie sie sich verhält oder verhalten soll. Auf diese Weise orientiert sich der Coach am Erleben des Klienten, kann sich diesem „von innen“ nähern und Interventionen können vom Klienten auch von innen angenommen werden (Bettinghofer, 2010; Rogers, 1983). Durch das Beziehungsangebot kann der Klient in seiner Selbstexploration unterstützt und dafür sensibilisiert werden, wozu er seine Kräfte nutzt: für die Erhaltung „bewährter“ Denk- und Handlungsmuster oder für deren Erweiterung und flexible Handhabung. Diese Wechselwirkungen im gegenwärtigen Moment sinnvoll aufzugreifen, ist zentraler Bestandteil der Klärungsarbeit im PKM.
Um jedoch die themenspezifische Inkongruenz des Klienten nicht nur zu verstehen, sondern auch die innere Flexibilität zu aktivieren, muss das, was vom Klienten verstanden worden ist, als eine Art Feedback an ihn zurückgegeben werden: Sein Selbsterleben muss mit ihm exploriert werden – auf das Coaching-Thema bezogen.
Zur Unterstützung der Selbstexploration wird im PKM die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Erlebensbereiche einer Person gelenkt: Was weiß oder ahnt die Person über sich, ist aber ihrem Bewusstsein noch nicht vollständig zugänglich, in Bezug auf ihre Gedanken, Gefühle, Emotionen und Körperreaktionen? Welche „Innerungen“ sind mit dem Tun verbunden? Wie beurteilt und bewertet sie ihr Tun und ihre Emotionen und das/die der anderen Personen? Wie erlebt sie sich in Beziehungen: Wie steht sie zum Coach? Wie steht sie zu sich selbst? Mit diesen Erlebensbereichen stehen (un-)ausgesprochene Wünsche, Ziele und Hindernisse in Verbindung, die sich im Prozess des Coachings, in seinen einzelnen Momenten und in der Beziehung zum Coach zeigen können (Rogers, 1976; 1983).
Zur Förderung und Einordnung dieser (Entwicklung der) Selbstreflexionsfähigkeit wird im PKM mit einer speziell modifizierten und vereinfachten Selbstexplorationsskala gearbeitet (vgl. Truax & Carkhuff, 1967; Rogers, 1976), die unten mit vier Stufen verkürzt aufgeführt ist. Die Leitfragen dazu sind: Was steht im Zentrum der Aussagen einer Person? Welche Präferenzen gibt es?
Diese Selbstexplorationsstufen geben auch eine Orientierung, um Interventionen und Techniken der Person entsprechend anzubieten. So wird ersichtlich, dass emotional konnotierte Interventionen vom Klienten abgewehrt werden können, wenn sie von seinem Selbstexplorationsniveau zu sehr abweichen. Doch mit dem Festhalten des Klienten an Beschreibungen, Erklärungen und Argumentationen der Stufe 1 und 2 nutzt er seine Energie maßgeblich (noch) für die Erhaltung seiner Muster und weniger für deren Erweiterung und Flexibilität. Doch erst wenn die Person ihr Thema als Tatsache, als einen Teil von ihr annimmt, wird sich ihre Beziehung zu anderen Menschen und die Sicht auf ihre Handlungsmöglichkeiten konstruktiv verändern (Rogers, 1976).
Das setzt voraus, dass die Person ein Problem- und Lösungsbewusstsein hat und sich mit diesem Erleben explorieren kann: Die Unsicherheit, die aus ihrer aktuell thematisierten Inkongruenz resultiert, sollte mindestens latent wahrgenommen werden.
Hingegen ist bei solchen Klienten eine Änderungsbereitschaft gering ausgeprägt, die das eigene (hinderliche) Verhalten als notwendig und sinnvoll der eigenen Person zugehörig erleben: Für das eigene Problem kann dann nur ein äußeres Umfeld verantwortlich gemacht werden. Die Selbstexploration ist blockiert (Rogers, 2009 a). Neue Denkweisen und Gefühle werden abgewehrt (Keil & Stumm, 2018 a), Lösungsmöglichkeiten werden im Außen gesucht.
Dieser Selbstexplorationswiderstand sollte vom Coach wahrgenommen werden, damit dieser sein Angebot anpassen kann und dem Klienten förderliche Beziehungserfahrungen möglich werden: Da reagiert jemand nicht bewertend, sondern verstehend. Und erst dieses Vertrauen erzeugt eine produktive Energie. In der Folge können die Eigenarten einer Person konstruktiv in den Prozess integriert werden und die Selbstwirksamkeit gewinnt so an Stärke. Und erst mit diesen Voraussetzungen können alte Muster überprüft und flexibler in den Alltag eingebunden werden.
Mit der Hier-und-Jetzt-Fokussierung der psychodynamischen Wirkungsweisen und deren Zusammenführung in ein Modell sowie den daraus abgeleiteten Interventionsmöglichkeiten kann das PKM universell angewendet werden. Aufgrund seiner personzentrierten Grundstruktur kann es in jeder zwischenmenschlichen professionellen Begegnung seine Wirkung entfalten. Ebenso kann es in fast jede Coaching-Technik integriert werden und diese fruchtbarer werden lassen.