Portrait

Interview mit Dr. Christopher Rauen

„Coaches sollten Entwicklung nicht nur verkaufen, sondern auch vorleben.“

Das Coaching-Magazin feiert 15-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass sprach die Redaktion mit Herausgeber Dr. Christopher Rauen über die Entwicklung des Magazins seit 2008, aktuelle Projekte des Business-Coachs und wichtige Coaching-Marktveränderungen. Entwicklung sollte – davon ist der langjährige 1. Vorstandsvorsitzende des Deutschen Bundesverbands Coaching e.V. (DBVC) überzeugt – von Coaches nicht nur „verkauft“, sondern auch vorgelebt werden, denn als Coach sei man nie „fertig“. Dies habe etwa der von der Pandemie getriebene, sprunghafte Anstieg des Remote-Coachings gezeigt.

20 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2023 am 17.05.2023

Ein Gespräch mit David Ebermann

2023 feiert das Coaching-Magazin 15-jähriges Jubiläum. Wie blickst Du als Gründer und Herausgeber auf die Entwicklung des Magazins?

Spontan gesagt war es ein langer Weg. Die ersten Gedanken für ein Coaching-Magazin hatte ich bereits vor über 25 Jahren. Damals war die Branche aber noch nicht so groß, dass genügend Interesse für ein Magazin vorhanden war. Trotzdem war ich zuversichtlich, dass es eines Tages soweit sein könnte, und habe damals bereits diverse Internetdomains für ein Magazin registriert. 2007 war der Markt dann deutlich gewachsen und auch unser Coaching-Newsletter hatte schon über 25.000 Empfänger. Da bot sich die Chance, ein gedrucktes Coaching-Magazin zu produzieren. 2008 erschien es dann, war aber bei weitem nicht so erfolgreich, wie ich gehofft hatte. Da war dann klar: „Das ist ein Marathon, kein 100-Meter-Lauf.“ 

Entscheidend für den Erfolg war der Wille, nicht aufzugeben, weil ich wirklich immer an das Magazin geglaubt habe. Dieser Glaube wurde oftmals geprüft, aber nie zum Wanken gebracht. Wir haben Schritt für Schritt das Magazin und die Website weiter verbessert, waren und sind für jedes einzelne Abonnement dankbar. Auf diesem Weg muss man ehrlich zu sich und selbstkritisch sein, sonst hat man keine Chance, besser zu werden. Und es gibt immer etwas, was man besser machen kann. Letztlich ist das Coaching-Magazin auf diese Weise zwar langsam, aber eben auch nahezu organisch gewachsen. Das gilt auch für das Team dahinter.

Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass das wahrscheinlich auch gut war, denn so hatte alles die Zeit, sich konstruktiv zu entwickeln. Betriebswirtschaftlich gesehen hätte ich mir allerdings ein schnelleres Wachstum gewünscht. Aber schneller Erfolg zieht auch schnell Trittbrettfahrer an und dann hat man wieder andere Herausforderungen. Daher bin ich inzwischen damit zufrieden, wie es gekommen ist. Wir haben für den Erfolg lange, hart und konsequent gearbeitet und werden das auch weiter so machen. Es gab keine Abkürzungen oder einen schnelleren Weg – jedenfalls vermutlich keinen, der nicht irgendwelche negativen Kollateraleffekte mit sich gebracht hätte.

Seit Deinem ersten Interview im Coaching-Magazin vor zehn Jahren ist einiges geschehen. 2020 hast Du die jährliche RAUEN Coaching-Marktanalyse gestartet. Was soll die Analyse leisten?

Die Idee hinter der RAUEN Coaching-Marktanalyse war und ist, quantitativ sowie qualitativ hochwertige, gültige und aussagekräftige Daten zu erheben. Es gab vorher schon verschiedene Umfragen, aber keine umfangreiche und jährliche Marktanalyse. Dieses Manko wollten wir beheben und die Ergebnisse frei und vollständig zur Verfügung stellen. Und das machen wir auch. Warum? Eine Branche kann sich meiner Meinung nach nur gezielt oder zumindest gezielter entwickeln, wenn sie regelmäßig eine Bestandsaufnahme macht und auch kritische Punkte beleuchtet. Und dazu gehört eben mehr, als Durchschnittshonorare von Coaches zu erfassen, die ganz unterschiedliche Dienstleistungen anbieten. Was ein Life-Coach mit Privatpersonen macht, hat sehr wenig mit dem Topmanagement-Coaching im Konzern zu tun. An diesem Bespiel zeigt sich auch, dass man für eine Analyse den Markt sinnvoll segmentieren muss. Das geht nicht nur anhand von erhobenen Zahlen, sondern man benötigt bereits vorab Fachwissen, um überhaupt die richtigen Fragen zu stellen und die Ergebnisse sinnvoll einordnen zu können. Es gibt ja nicht nur Life- und Business-Coaches. Ohne dieses Kontextwissen bleibt jede Analyse oberflächlich und schlimmstenfalls sogar fehlerhaft. 

Ein weiteres Ziel der Coaching-Marktanalyse war, den Coaches Daten zur Verfügung zu stellen, die ihnen bei der Professionalisierung ihres Angebots helfen. Ein konkretes Bespiel dafür sind die Marketingmaßnahmen, die Coaches einsetzen. Was davon ist wirklich hilfreich, was bringt Klienten weiter und was ist nur Zeitverschwendung? Hier zeigte sich beispielsweise, dass erfahrene Coaches andere Instrumente erfolgreicher einsetzen können als Coaches mit weniger Berufserfahrung. Auch da muss man also differenzieren, sonst bekommt man als Ergebnis nur Durchschnittswerte, die ziemlich banal sind.

Welche Coaching-Marktentwicklungen waren für Dich in den letzten Jahren besonders eindrücklich?

Corona hat viel durcheinandergewirbelt und auch neue Chancen eröffnet. Coachings remote durchzuführen, ist inzwischen normal. Dadurch konnten sich viele Coaches neue Kundengruppen erschließen und viele Kunden hatten wiederum Zugriff auf kompetente Coaches, die aber nicht in ihrer Nähe waren. Aus meiner Sicht ist das eine echte Win-win-Situation geworden. Gleichzeitig hat die Veränderung den Coaches neue Kompetenzen abgefordert. Das finde ich gut. Coaches sollten nicht nur Entwicklung für andere verkaufen, sondern selbst vorleben. Mein Eindruck war, dass sich vor Corona einige durchaus bequem eingerichtet hatten. Meiner Meinung nach sollten aber gerade Coaches ihre eigene Entwicklung nie aus dem Blickfeld verlieren. Als Coach ist man nie fertig. Wer das glaubt, ist fertig – aber nicht so, wie er oder sie vielleicht annimmt …

Im Podcast „Business-Coaching and more“ berichtest Du von der Erfahrung, dass alles, was im Präsenz-Setting möglich ist, in angepasster Form auch für das Remote-Setting adaptiert werden könne. Braucht es das Präsenz-Coaching dann überhaupt noch?

Eindeutig ja. Denn zum einen gibt es einfach Klienten, für die das persönliche Kennenlernen eine Bedingung ohne Wenn und Aber ist. Und zum anderen ist es auch für viele Coaches die nach wie vor bevorzugte Variante zu arbeiten. Inzwischen habe ich selbst komplett remote mit Klienten erfolgreich gearbeitet. Machbar ist es also. Aber es ist eben nicht das passende Format für jeden. Und das ist ja auch gut so. Menschen und Organisationen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Bedürfnisse und Zielsetzungen. Der Coaching-Markt ist vielfältig und bietet für jeden ein passendes Angebot. Diese Vielfalt finde ich auch gut – vorausgesetzt, die Qualität stimmt.

Dr. Christopher Rauen © Foto: die lichtbildmanufaktur

Dr. Christopher Rauen © Foto: die lichtbildmanufaktur

Welche Marktentwicklungen werden zukünftig wichtig sein?

Das Angebot differenziert sich immer weiter aus. Es ist im Rahmen der fortschreitenden Professionalisierung einer noch immer jungen Branche auch sinnvoll, wenn es immer mehr Spezialisten für bestimmte Themen, Anlässe, Zielsetzungen und Zielgruppen gibt. Allerdings gibt es da auch Entwicklungen, die ich für bedenklich halte. „Coach“ ist nach wie vor kein geschützter Beruf, jeder kann sich so bezeichnen. Daher gibt es viele „Wald-und-Wiesen“-Coaches, die auf YouTube sowie diversen Social-Media-Plattformen unterwegs sind und nur das schnelle Geld suchen. Mit seriösem Coaching hat das leider oftmals sehr wenig gemeinsam. Natürlich gibt es auch seriöse Coaches auf YouTube. Für die Laien ist das aber nicht ohne weiteres unterscheidbar. Da werden dann alle Coaches in einen Sack gesteckt und es wird draufgehauen. Es wird daher für die seriösen Coaching-Verbände weiterhin wichtig bleiben, sichtbar zu machen, woran man professionelle Coaches erkennen kann. Und wir werden das auch weiterhin machen.

Wenn es um das Thema Digitalisierung im Coaching-Markt geht, warst Du u.a. mit der Coach-Datenbank – heute CoachDb – ein Vorreiter. Wie siehst Du die Entwicklung, dass mittlerweile immer mehr Digital Coaching Provider (DCP) auf den Markt drängen?

Dass es immer mehr von diesen Angeboten gibt, zeigt, dass gutes Coaching gesellschaftlich wie wirtschaftlich immer mehr an Relevanz gewinnt. Das finde ich gut. Weniger gut finde ich – und da spricht der Unternehmer in mir –, wenn ich Geschäftsmodelle sehe, die gar nicht darauf ausgerichtet sind, Substanz zu erzeugen, sondern nur darauf, wenige Menschen reich bzw. noch reicher zu machen. Gier ist menschlich, aber wenn man dabei vergisst, worum es eigentlich gehen sollte – wem nutzt das dann? Für manche Unternehmen, die Coaching einkaufen, mag es zunächst attraktiv klingen, diese Aufgabe outzusourcen und Kosten zu sparen, indem man die Coaches gegeneinander ausspielt und die Preise drückt. Aber welcher gute Coach macht das dauerhaft mit? Hier sehe ich eher das Risiko des „Lohndumpings“ zu Lasten derjenigen, die noch jung im Markt sind. 

Und letztlich geht das auch immer zu Lasten der Qualität und damit zu Lasten der Kunden. Wenn Du ein ernsthaftes Thema mit Hilfe eines Coachs bearbeiten möchtest und Dein Unternehmen kauft den billigsten Coach ein, den es bekommen kann: Wie fühlst Du Dich dann? … Genau! Da sehe ich nicht, wie das auf Dauer funktionieren soll. Unternehmen brauchen nicht irgendwelche Coaches. Im Grunde benötigen sie nicht einmal Coaching. Sie benötigen Lösungen! Natürlich gibt es auch andere DCP-Konzepte, aber auch da halte ich es für sehr schwer, eine so individuelle Dienstleistung wie das Coaching hochzuskalieren. Aber genau das müssen diese Anbieter, damit sie profitabel sind. Und Profitabilität erwarten die Geldgeber, denn Venture Capital benötigt für jede gegebene Million acht bis zehn Millionen an Rückfluss, um selbst überleben zu können. Das geht nur mit hochskalierenden Geschäftsmodellen in einem Massenmarkt. Der Rest sind spezielle Marktlücken, die sind aber nie so groß, dass sie für Venture Capital interessant wären. 

Plausibler erscheint mir eine Entwicklung aus einer ganz anderen Richtung, der Künstlichen Intelligenz (KI). KI-Systeme verfügen inzwischen über bemerkenswerte Fähigkeiten, Stichwort „ChatGPT“. Systematisch entwickelt kann ich mir durchaus vorstellen, dass ein KI- oder AI-Coach zumindest in bestimmten Bereichen wie der Diagnostik besser in der Mustererkennung wird als ein Mensch. Das ist ein hochinteressantes Anwendungsfeld. Aber die Investitionen liegen hier nicht im Millionen-, sondern im Milliardenbereich. Und das heißt, dass nur die wirklich großen Player im IT-Sektor eine Chance haben. Dafür benötigt man keine DCPs, das wird ein Nebenprodukt von „Big Tech“. Im Ergebnis erwarte ich also platzende Blasen, sobald die DCP-Investoren begreifen, dass sie ihr Geld nicht wiedersehen werden. Einige Anbieter sind ja bereits vom Markt verschwunden. Diese Bereinigung wird sich fortsetzen und wer keine Substanz anbieten kann, sondern nur flotte Sprüche, wird das nicht überstehen.

Nicht selten schreiben sich DCPs eine Demokratisierung des Coachings als Ziel auf die Fahnen. Wäre dies nicht wünschenswert?

Marketingslogans sind eine Sache, die Realität ist oft eine ganz andere. Was soll denn diese „Demokratisierung“ konkret bedeuten? Oder provokanter gefragt: Ist Coaching bisher eine Diktatur? „Demokratisierung“ klingt erst einmal positiv, ist aber bei näherer Betrachtung in dem Kontext ein ziemlich schräger Begriff. Selbst wenn damit nur gemeint sein sollte, aus Coaching ein Massenphänomen zu machen, damit jeder von den „Segnungen“ des Coachings profitieren kann, ist das doch eine Illusion. „Wenn alle super sind, wird es niemand mehr sein“, sagte schon der Bösewicht in „Die Unglaublichen“. Es käme doch auch niemand auf die Idee, Technisches Zeichnen oder Lineare Algebra zu demokratisieren. Warum dann Coaching? Coaching ist beileibe nicht so trivial, wie manche denken, sondern eine hochkomplexe Disziplin. Um es gekonnt zu praktizieren, ist nicht jeder geeignet. Bereits jetzt habe ich dein Eindruck, dass es zu viele nicht qualifizierte Coaches gibt, die zudem oft via Social Media nach Sichtbarkeit streben. Besser wäre es, erstmal echte Kompetenz aufzubauen. Wir benötigen keine Demokratisierung, sondern eine Professionalisierung des Coachings! Ansonsten macht der Markt sich selbst überflüssig, weil er seine Wirksamkeit und sein Image ruiniert. Und selbst wenn man gute Absichten unterstellen mag: Gut gemeint und gut gemacht sind eben oft nicht dasselbe.

Den angesprochenen Podcast hast Du 2021 – gemeinsam mit Andreas Steinhübel – ins Leben gerufen. Was ist die Motivation dahinter?

Wir möchten über das Thema Business-Coaching und psychologische Themen aufklären. Daher haben wir den Podcast auch „Business-Coaching and more“ genannt. Nach wie vor mache ich die Beobachtung, dass in der Wirtschaft und auch in der Gesellschaft zu wenig psychologisches Wissen angewandt wird bzw. überhaupt bekannt ist. Oftmals wird eher eine „Küchenpsychologie“ eingesetzt oder halbgare Methoden und Trendthemen. Das hat mit seriöser Psychologie meist gar nichts zu tun. Daher haben Andreas und ich beschlossen, dass wir aus unserer Praxiserfahrung heraus die Brücke zwischen seriöser Anwendung und fundiertem psychologischen Wissen schlagen möchten. Das Ganze haben wir als Experiment gestartet und sind inzwischen hocherfreut, wie positiv unser Podcast angenommen wird. Offenbar haben wir da einen Nerv getroffen. Das motiviert uns zusätzlich, den Podcast immer besser zu machen und über interessante und manchmal auch nicht ganz einfache Themen aufzuklären. So hatten wir z.B. eine Folge über unbewusste Motive, was ein sehr komplexes Thema ist, die sehr gut angenommen wurde.

Dr. Christopher Rauen und sein Team © Foto: André Bodin

Dr. Christopher Rauen und sein Team © André Bodin

In einer Folge des Podcasts sagst Du, als junger Coach sei es schwer, sich in der Branche zu etablieren. Was sind die größten Herausforderungen und was würdest Du Coaching-Einsteigern diesbezüglich raten?

Junge Coaches müssen sich erst einmal einen Kundenstamm aufbauen und Referenzen gewinnen. Coaching ist im Kern immer noch ein Empfehlungsgeschäft. Es dauert einfach mehrere Jahre, etwas aufgebaut zu haben. Nach meiner Erfahrung sind es mindestens drei Jahre, oft dauert es aber auch fünf Jahre. Das ist für viele eine zu lange Durststrecke. Man muss sich also genau überlegen, wovon man in dieser Zeit wirtschaftlich existieren kann, denn Coaching allein wird es am Anfang nicht sein. 

Meine Empfehlung ist daher, nicht sofort in die vollständige Freiberuflichkeit zu gehen, sondern sich aus einer bestehenden Beschäftigung heraus stückweise selbständig zu machen. Eine Ausnahme kann sein, wenn man genug Rücklagen hat. Aber wer hat das schon am Anfang? Leider verführt dieser Umstand dazu, dass junge Coaches sich Geschäftsmodelle aufschwatzen lassen, die nur für die Verkäufer lukrativ sind. Da kann ich immer nur empfehlen, kritisch zu hinterfragen. Es gibt keine Geschäftsmodelle, die von alleine funktionieren. Und wenn es sie gäbe, würde der Erfinder wohl eher Stillschweigen darüber bewahren, als es lautmalerisch bei YouTube anzupreisen. 

Es ist also wichtig, sich einen Plan zu machen, der realistisch und eher langfristig orientiert ist, und vorher Meilensteine zu definieren, um stets prüfen zu können, ob man „in der Spur“ ist. Und es ist meistens gerade am Anfang noch wichtiger, das Geld zusammenzuhalten und alle Investitionen zweimal zu hinterfragen. Ich sage den jungen Coaches da immer: „Für jeden Euro, den ihr nicht ausgebt, müsst ihr zehn Euro weniger umsetzen.“ Das Gute ist aber, dass man als Coach auch keine hohen Anfangsinvestitionen benötigt. Das Wichtigste zum Start ist eine gute Coaching-Ausbildung und die Klärung der eigenen Motivation. Die Kernfrage dabei ist: Warum möchte ich Coach sein? Was treibt mich dabei an? Nur wer das wirklich für sich geklärt hat, wird auf dem Weg bleiben.

Du gibst zudem zu bedenken, dass der Beruf des Coachs mitunter emotional sehr anstrengend sei. In welchen Situationen ist das der Fall?

Als Coach kommt man immer wieder mit Menschen in Kontakt, die in sehr belastenden Situationen sind. Stress, Demotivation, Burnout und innere Kündigung zeigen sich oftmals eher maskiert, z.B. in Form von Überforderung und Zynismus. Teilweise zeigen sich diese Dinge aber auch schon im Körper, z.B. in Form von Kopfschmerzen, Schwindel, Kreislaufproblemen, Schlafschwierigkeiten usw. Da muss man zum einen dafür sorgen, dass medizinisch abgesichert ist, dass das keine körperlichen Ursachen hat. Und zum anderen muss man als Coach auch mit solchen Themen gut und reflektiert umgehen können, was eine gewisse emotionale Reife und Erfahrung erfordert. Sonst kann das schnell in die eigene Überforderung führen. Selbst in „normalen“ Coachings kann es anstrengend werden, das Wechselspiel aus Nähe (als Coach muss ich schnell guten Kontakt aufbauen können) und Distanz (ich darf nicht zu nah am Klienten sein und mich vereinnahmen lassen) zu beherrschen. In der Praxis zeigt sich das darin, ob man mitfühlen kann oder schon mitleidet. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ohne Mitgefühl kann ein Coach nicht arbeiten. Leidet er jedoch mit, hat er eine innere Grenze überschritten. Den Unterschied rechtzeitig wahrzunehmen und die Grenze nicht zu überschreiten, kann anstrengend sein. Coaching ist eben viel mehr als Kontakt herstellen und sich nett miteinander unterhalten.

Wie können Coaches mit belastenden Situationen umgehen, um sich selbst zu schützen?

Zunächst bedarf es einer guten Qualifizierung, die sie auf diese Situationen angemessen vorbereitet. Auf der persönlichen Ebene benötigt man Achtsamkeit und Selbstreflexion sowie „feine Antennen“, wenn Prozesse in die falsche Richtung laufen. Gleichzeitig sollte man aber emotional stabil und resilient sein und den Mut besitzen, problematische Aspekte offen zu thematisieren. Zudem benötigt ein Coach eine funktionierende Methodik, um sich selbst und den Klienten in herausfordernden Situationen zu stabilisieren. Coaches sollten zudem regelmäßig Supervision in Anspruch nehmen, damit keine „blinden Flecken“ entstehen. Da merkt man schon: Das ist anspruchsvoll und nicht jeder ist als Coach geeignet, auch wenn viele Menschen etwas anderes annehmen.

Ein weiteres neues Projekt ist der RAUEN Analyzer. Was hat es damit auf sich?

Der RAUEN Analyzer ist ein diagnostisches Instrument für Coaches. Im Gegensatz zu vielen Instrumenten, die für andere Maßnahmen bzw. Disziplinen entwickelt wurden, ist der Analyzer ein Coaching-Instrument. Er gibt uns die Informationen, die im Coaching besonders wichtig sind. Dazu zählen Einstellungen und innere Haltungen, Verhaltensstile, Selbststeuerungskompetenzen, Führungs- und Kooperationsstile sowie vor allem Stress- und Resilienzfaktoren. Coaches können damit valide und reliabel erfassen, wo Ressourcen liegen, sehen aber auch die Entwicklungsfelder ihrer Klienten. Der Analyzer ist kein statisches Persönlichkeitsmodell. So ein Instrument hätte ich mir vor 25 Jahren gewünscht! Nun bilden wir inzwischen Coaches damit aus und die Rückmeldungen sind enthusiastisch. Denn neben der Analyse einzelner Personen können wir auch das Zusammenspiel und Konfliktpotenziale in Teams damit durchleuchten – inklusive konkreter Verbesserungsvorschläge.

Inwieweit ist Persönlichkeitsdiagnostik im Coaching einsetzbar?

Persönlichkeit wird schlichtweg deshalb gerne diagnostiziert, weil das vergleichsweise einfach und auch durchaus reliabel möglich ist. Aber für das Coaching ist das eher in Ausnahmefällen relevant. Denn man muss sich klar machen, dass Coaching keine Maßnahme ist, um Persönlichkeit zu entwickeln. Das ist ja selbst im Rahmen einer Psychotherapie ein „dickes Brett“, was soll man da in 10 bis 20 Stunden Coaching erreichen? Zudem findet Persönlichkeitsentwicklung jenseits des 30. Lebensjahres kaum noch statt. Natürlich können sich Menschen ihr ganzes Leben lang weiterentwickeln. Nur wird das auf der Ebene von Persönlichkeitsmerkmalen mit zunehmendem Alter immer schwieriger. Im Coaching geht es aber um Veränderung. Also messe ich lieber die Aspekte des Menschen, die ich im Coaching auch vergleichsweise gut beeinflussen kann und die im Arbeitsalltag relevant sind. Und da sind wir dann eben bei Einstellungen, inneren Haltungen und Verhaltensstilen. Diese zu messen und zu verändern, macht im Coaching viel mehr Sinn. Was nutzt es mir denn, zu wissen, dass jemand z.B. introvertiert ist? Als Führungskraft kann ich extravertiert oder introvertiert sein. Es gibt nicht die eine Persönlichkeitseigenschaft, die einen erfolgreicher macht. Entscheidender ist doch, mit welcher inneren Haltung ich an Aufgaben herangehe und mit Menschen interagiere. Da kann man als Coach den Klienten enorm viel Unterstützung geben, denn die meisten Klienten agieren hier rein intuitiv – manchmal gut, manchmal nicht so glücklich. Und gerade in den letzteren Fällen kann man mit vergleichsweise wenig Aufwand oft deutliche Verbesserungen erzielen.

Und aus diesen Gründen ist es wichtig, dass der Analyzer kein „statisches Persönlichkeitsmodell“ darstellt?

Ja. Statische Persönlichkeitsmodelle und -typologien führen nach meiner Erfahrung eher dazu, dass Menschen sich selbst in eine Schublade stecken. Auf eine Typologie fixierte Coaches verstärken das dann noch. Das fördert beim Klienten eher ein Denken der Art „ich bin halt so“, statt die Möglichkeiten zu betonen, wie man sich verändern kann. Ergebnisse von Persönlichkeitstests sollte man generell nicht unreflektiert mit der Wirklichkeit verwechseln. Dazu ein Beispiel: Anhand eines Persönlichkeitstests erfährt eine Führungskraft, dass sie zu 80 Prozent introvertiert und zu 20 Prozent extravertiert ist. Dadurch kommen erhebliche Zweifel auf, ob eine Bewerbung auf eine neue Aufgabe, die den Aufbau vieler neuer Kontakte erfordert, der richtige nächste Schritt ist. „Ich bin da nicht der Richtige, das hat der Test doch gezeigt!“, denkt der Klient über sich selbst. So lähmt man Entwicklungen! Meine Erfahrung ist, dass selbst Menschen mit noch höherer Introvertiertheit und geringerer Extraversion hervorragende Führungskräfte sein können, weil sie gelernt haben, in den richtigen Momenten passende Anteile von sich zu aktivieren. Das ist eine Frage der Motivation, der inneren Haltung und der Übung. Solche Faktoren sind meiner Erfahrung nach deutlich erfolgsrelevanter als Persönlichkeitsmodelle.

Nach 16 Jahren als 1. Vorsitzender des DBVC-Vorstands bist Du 2022 nicht zur Wiederwahl angetreten. Weshalb? Wie blickst Du auf die Zeit zurück?

In fast 19 Jahren als Vorstand und davon 16 Jahren als 1. Vorsitzender habe ich eine Organisation mitgestalten dürfen, die von zehn auf über 600 Mitglieder angewachsen ist. Da war viel Pionierarbeit zu leisten und das hat mich schon immer angetriggert. Der Erfolg war kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis engagierter Arbeit kompetenter Menschen. Dadurch habe ich enorm viel gelernt und das war für mich auch der „Lohn“ dieser Arbeit. Was ich durch die Verbandsarbeit über Gruppendynamik gelernt habe, könnte ein eigenes Buch füllen. 

Die vielen spannenden Aufgaben haben dann auch dazu geführt, dass ich die Position so lange ausgefüllt habe. Eigentlich wollte ich es nur ein paar Jahre lang machen, aber jedes Jahr gab es eben neue Herausforderungen. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Nachdem der DBVC auf über 500 Mitglieder gewachsen war, war mir jedoch klar, dass die Pionierphase definitiv vorbei ist. Dann kam aber Corona und ich wollte in dieser Phase keine Signale senden, die zur weiteren Verunsicherung hätten beitragen können. Um den DBVC fit zu machen für die nächste Phase und dabei selbst nicht im Weg zu stehen oder zum „ewigen Vorsitzenden“ zu mutieren, habe ich im Vorstand frühzeitig einen Übergangsprozess initiiert, der dann auch genügend Zeit hatte und erfolgreich war. Aus professioneller Perspektive kann ich nur sagen: Wir wissen doch alle, wohin es führt, wenn jemand – auch mit besten Absichten – zu lange in einer Position verharrt. Das wäre weder für den DBVC noch für mich persönlich gut gewesen. Alles ist eben einmal zu Ende und das ist auch gar nicht schlimm, sondern vollkommen normal. Es war eine gute Zeit voller lebendiger Erfahrungen und die Erfolgsgeschichte werden meine Nachfolgerinnen und Nachfolger nun fortsetzen. In der Summe muss ich sagen, dass ich dankbar und auch ein wenig stolz darauf bin, was wir gemeinsam erreichen konnten.

Was wirst Du mit der nun dazugewonnenen Zeit anfangen?

Acht Jahre vor der Gründung des DBVC hatte ich ja schon mein eigenes Unternehmen aufgebaut und habe es zeitlich parallel zum DBVC geführt, was zuweilen schon eine anspruchsvolle Doppelbelastung war. Das ist jetzt einfacher geworden. Die gewonnene Zeit fließt zudem auch in meine Familie. Man muss sich aber keine Sorgen machen, dass ich mich zur Ruhe setze. (lacht) Tatsächlich ist es mein Ziel, so lange zu arbeiten, wie ich geistig dazu in der Lage bin, denn ich empfinde das, was ich mache, als sinnstiftend. Global und auch gerade in Deutschland stehen wir vor enormen Herausforderungen – kulturell, politisch, gesellschaftlich und auch wirtschaftlich. Mein Eindruck ist, dass das bei vielen Menschen eher mit Ängsten verbunden ist. Wir müssen und dürfen vor der Zukunft aber keine Angst haben. Jeder kann dazu beitragen, dass morgen etwas besser wird als heute – auch durch Kleinigkeiten. Da hoffe ich, auch meinen Beitrag leisten zu können. Neben dem Einzel-Coaching für Führungskräfte habe ich in den letzten Jahren einen immer größeren Schwerpunkt in der Kulturentwicklung von Führungskreisen aufgebaut. Da stehen kulturelle Fragen des Miteinander-Umgehens im Vordergrund und das ist für mich spannend, weil es enorme Hebelkräfte zeigt. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass es noch viele nahezu archaische Führungskulturen gibt, bis in die höchsten Positionen. Da wird sich viel verändern müssen und ich freue mich, meinen Teil dazu beitragen zu können.

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