Ethik

Wie Coaches sich vor Instrumentalisierung schützen

Interessenkonflikte erkennen, Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen

In einem Unternehmen wirken zahlreiche, teils widersprüchliche Interessen. Sie zu erkennen, ist grundlegende Voraussetzung, um als Coach nicht zu ihrem Spielball zu werden und Coaching als das praktizieren zu können, was es nach hier vertretener Auffassung sein sollte: Persönlichkeitsentwicklung. Dieser Anspruch speist sich aus einem Bildungsbegriff, der sich von der Vorstellung des Menschen als rein nutzenmaximierendes Wesen abgrenzt.

9 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2019 am 27.02.2019

Die Zeiten, in denen Coaching im Unternehmen selten war, sind vorbei. Vom Führungsnachwuchs bis zur Geschäftsführerin werden alle Zielgruppen gecoacht. Manchmal von internen, manchmal von externen Coaches. Die Ziele des Coachings erarbeiten in der Regel Klient und Coach gemeinsam mit der jeweiligen Führungskraft oder der Personalabteilung als Auftraggeberin. Soweit so gut. Aber wozu findet das alles statt? Und inwiefern kann dabei Persönlichkeitsentwicklung geschehen?

Angenommen Coaching wäre eine Art Blackbox, dann soll dieser Artikel nicht erhellen, was innerhalb der Box passiert. Es geht also nicht darum, zu verstehen, was genau im Coaching geschieht oder welche Ziele erreicht werden. Dieser Artikel stellt die Frage nach dem „Wozu?“ auf der Ebene darüber: Welche Funktionen hat Coaching im Unternehmenssystem und darüber hinaus? Inwiefern wird Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Bildung intendiert? Zur Beantwortung dieser Fragen werden Forschungsergebnisse der Autorin vorgestellt und ein aktualisierter Bildungsbegriff vorgeschlagen.

Wie gelingt es, Interessenkonflikte zu erkennen?

Die Antwort hierauf ist wichtig, um sich als Coach nicht instrumentalisieren zu lassen. Es gilt, Interessenkonflikten schnell auf die Schliche zu kommen, um sie ansprechen zu können. Das gehört zu jeder guten Auftragsklärung dazu. Als Unterstützung werden in diesem Text verschiedene Funktionen benannt, die Coaching zugeschrieben werden können. Diese Funktionen sind Ergebnisse eines Forschungsprojekts der Abteilung Erwachsenen-/Weiterbildung der Humboldt-Universität zu Berlin, an dem die Autorin mitgewirkt hat. Das Forschungsprojekt hatte nicht nur Coaching im Blick, sondern unterschiedliche Formen betrieblicher (Weiter-)Bildungsmaßnahmen. Damit sind alle Formen organisierten Lernens gemeint, die innerhalb der Arbeitszeit stattfinden und/oder durch den Arbeitgeber finanziert sind.

Der erwachsenenpädagogische Blick ist kritisch

Anders als in vielen betriebswirtschaftlichen Werken wird betriebliche Weiterbildung in der Erwachsenenbildung sehr kritisch betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf allen beteiligten Stakeholdern und ihren Interessen. Es wird nicht davon ausgegangen, dass es lediglich ein Budget zu verwalten gibt, sondern jede Weiterbildungsmaßnahme wird als mikropolitisches Spielfeld verstanden. Traditionellerweise hat die Erwachsenenpädagogik verstärkt die Interessen der Mitarbeitenden im Blick. Normativ gefordert werden Chancengerechtigkeit, Adressaten- und Teilnehmerorientierung. Dabei taucht der Begriff Bildung immer wieder auf, „wenn es um die Horizonte humaner Perspektiven geht“ (Faulstich & Zeuner, 2015, S. 26).

Als Coach bewegt man sich durch Minenfelder

Diese Zwischenüberschrift ist zugegebenermaßen sehr überspitzt formuliert. Coaching findet nicht in Kriegsgebieten statt. Aber Coaching findet in einem Umfeld statt, das von Interessenkonflikten geprägt ist. Das Unternehmen verfolgt (legitimer Weise) andere Interessen als der einzelne Mitarbeiter. Die Führungskraft hat eine andere Agenda als die Personalabteilung. Als Coach wiederum bringt man zumeist die Haltung und den Anspruch mit, Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Bildung zu ermöglichen. Je nach Unternehmen und beteiligten Personen ergeben sich dadurch unterschiedliche Macht- und Interessenkonstellationen.

Coaching soll viele verschiedene Funktionen erfüllen

Im Rahmen des bereits erwähnten Forschungsprojekts wurden in drei Großunternehmen alle Stakeholder betrieblicher (Weiter-)Bildungsmaßnahmen befragt: Personalentwicklung, Führungskräfte verschiedener Ebenen, Betriebsräte, Mitarbeitende, andere Personalbereiche wie z.B. HR-Business-Partner (von Hippel & Röbel, 2016).

Die Interessen der verschiedenen Stakeholder spiegeln sich in den Funktionen, die betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen – in diesem Fall Coaching – zugeschrieben werden. Neben der offensichtlichen Qualifizierungsfunktion lassen sich weitere Funktionen identifizieren. Teilweise sind die Lernergebnisse dabei relevant, teilweise nicht. Beispielsweise ist es im Sinne des Employer Branding erstrebenswert, einen beeindruckenden Seminarkatalog vorlegen zu können. Dazu ist es zunächst nicht relevant, was genau angeboten wird und inwiefern dabei Lernen stattfindet. Auf Coaching übertragen bedeutet dies, dass es für die Arbeitgeberattraktivität reicht, dass Coaching angeboten wird. Inwiefern es genutzt wird und ob dabei Ziele erreicht werden, ist nicht relevant.

Die Funktionen im Detail

Die Tabelle gibt einen Überblick über die verschiedenen Funktionen. Sie umfasst so unterschiedliche Aspekte wie die „Image- und Akquise-“ oder die „Entwicklungsfunktion“. Es ist an dieser Stelle wichtig, zu verstehen, dass es darum geht, welche Funktionen den Weiterbildungsmaßnahmen zugeschrieben werden. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Funktionen auch erfüllt werden. Aber die Zuschreibungen bringen ein unterschiedliches Verständnis und unterschiedliche Interessen zum Ausdruck.

In diesem Sinne hilft die Übersicht der verschiedenen Funktionen bei der Reflexion des Auftrags: Was soll mit dem Coaching erreicht werden? Zum anderen lässt sich die Übersicht möglicherweise auch als Gesprächsgrundlage für die Abstimmung mit den verschiedenen Stakeholdern verwenden. Es ist oft nicht leicht in Worte zu fassen, was bislang noch nicht klar besprochen wurde.

Tabelle: Funktionen von Weiterbildungsmaßnahmen in Unternehmen

Tabelle: Funktionen von Weiterbildungsmaßnahmen in Unternehmen (nach von Hippel & Röbel, 2016)

Zwischenfazit

Coaching im Unternehmenskontext findet – genauso wie Trainings, Seminare, Workshops etc. – in einem Spannungsfeld verschiedener Interessen statt. Coaching-Ethik bedeutet, sich dieser unterschiedlichen Interessen erstens bewusst zu sein und zweitens zu versuchen, sie explizit zu machen. Nur was ausgesprochen wird, kann auch verhandelt werden. Nur wer wirklich versteht, was der Auftrag ist, kann entscheiden, ob er (oder sie) ihn annehmen möchte.

Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Bildung

Ein Verständnis für die Interessen der anderen Stakeholder zu entwickeln, ist die eine Seite der Medaille. Die eigene Vorstellung von Persönlichkeitsentwicklung klar formulieren zu können, die andere. Für alle, die Coaching im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung sehen, sind die folgenden Ausführungen zum Bildungsbegriff als Inspiration und Reflexionsanstoß gedacht.

Ein aktualisierter Bildungsbegriff als Diskussionsgrundlage

Bildung als Begriff, so steht es bereits in der Einleitung, taucht immer wieder auf, „wenn es um die Horizonte humaner Perspektiven geht“ (Faulstich & Zeuner, 2015, S. 26). Dabei scheint es wichtig, den Begriff der Bildung mit aktuellem Leben zu füllen. Das ist auch deshalb notwendig, da Bildung als Begriff in so vielen Kontexten verwendet wird. „Bildung erscheint als universelle Strategie für Wirtschaftswachstum, für Demokratie und für personelle Entwicklung.“ (Faulstich, 2016, S. 52) Die folgende Sichtweise orientiert sich an Ausführungen von Faulstich (2016), der wiederum von der subjektwissenschaftlichen Sichtweise von Holzkamp geprägt wurde.

Für einen kritischen Blick ist Faulstichs Bildungsbegriff dienlich, weil er sich explizit von einer Vorstellung des Menschen als nutzenmaximierendem Individuum distanziert. Sein theoretischer Ausgangspunkt ist die „Gesellschaftlichkeit des Menschen“, der konzipiert wird „als intentionales, absichtsvoll handelndes Individuum, das in steter Auseinandersetzung mit seiner Welt auf diese einwirkt und von dieser beeinflusst wird und ihr im biographischen Prozess Sinngehalte zuweist“ (Faulstich, 2016, S. 56).

Ganz konkret definiert Faulstich Bildung als einen lebensgeschichtlichen Vorgang, „in dessen Verlauf die Individuen versuchen, Identität für sich immer wieder neu herzustellen und erweiterte Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Sie eignen sich Kultur an und entfalten dabei ihre Persönlichkeit. In diesem Prozess entsteht eine individuelle Biographie. Das zentrale Bildungsproblem, die Perspektive der Entfaltung von Persönlichkeit, ist demnach gebunden an Verfügungserweiterung, an die Gewinnung von Souveränität für das eigene Leben, d.h. auch im Kontext der Arbeit“ (ebd.).

Im obigen Zitat zeigt sich der Bezug zu Holzkamp, der zwischen defensivem und expansivem Lernen unterscheidet. Defensiv begründetes Lernen kann als Mitmachen verstanden werden; es umfasst alles, was „ohne Gefährdung der individuellen Lebenserhaltung“ möglich ist, während expansiv begründetes Lernen dadurch gekennzeichnet ist, dass es „aktiv alternative gesellschaftliche Verhältnisse“ anstrebt und zu realisieren versucht (nach Zimmer, 2004, S. 56). Faulstichs Bildungsbegriff zielt ganz im Sinne des expansiven Lernens weniger auf „die Faktizität des Bestehenden“ als vielmehr auf die „Potentiale des Möglichen“ (Faulstich, 2013, S. 89).

Zur Bedeutung des aktuellen Bildungsbegriffs

Bildung wird daher nicht aus einem zeitlosen Kanon bestimmt, sondern historisch konkret in Bezug auf die jeweils aktuellen Probleme (Faulstich, 2015). Mit Rückbezug auf Klafki nennt Faulstich sieben sich aktuell stellende Schlüsselprobleme:

  • die Frage von Krieg und Frieden
  • eine Doppelformel „Sinn und Problematik des Nationalitätsprinzips“ und „Kulturspezifik und Interkulturalität“
  • die Umweltfrage oder die ökologische Frage
  • das rapide Wachstum der Weltbevölkerung
  • die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit
  • die Gefahren und die Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien
  • die Subjektivität des/der Einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehungen

Übersetzt man diese Überlegungen in eine alltagsnahe Sprache, geht es im Kern um Folgendes: Bildung ist weit mehr als das „Anhäufen“ von vorab definierten Kompetenzen und Wissen. Bildung umfasst eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Lebens- und Arbeitsumgebung und damit auch eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen. Bildung ermöglicht nicht nur das Überleben des Individuums unter den gegebenen Umständen, sondern befähigt es, diese Umstände (im Unternehmen und darüber hinaus) mitzugestalten. Für den Unternehmenskontext bedeutet es, Mitarbeiter nicht als Produktionsfaktoren zu betrachten, die dank Coaching wieder (oder noch besser) „funktionieren“ sollen. Stattdessen sind Mitarbeiter als Experten ihrer jeweiligen Arbeits- und Lebenssituation zu betrachten.

Digitalisierung, Agilität, kollektive Führung und Co

Interessanterweise gewinnen das oben skizzierte Verständnis von Bildung und das damit verbundene Menschenbild aktuell wieder an Attraktivität. Vor dem Hintergrund immer höherer Komplexität und fachlicher Ausdifferenzierung erscheint es auch aus rein ökonomischer Logik notwendig, Mitarbeitern mehr Verantwortung zu übertragen und Führung anders zu organisieren.

Fazit: Mehr Mut ist notwendig

Ende gut, alles gut? Auf der einen Seite scheint sich das in Unternehmen vorherrschende Menschenbild ein Stück weit zu wandeln. Auf der anderen Seite bleiben die grundlegenden Interessenkonflikte trotzdem bestehen. In Unternehmen ist Gewinnmaximierung (in der Regel) die leitende Handlungslogik. Was auf den ersten Blick wie selbstverständlich erscheint, bringt auf den zweiten Blick viele Gefahren mit sich. Der Dieselskandal ist nur ein Beispiel dafür. Für Coaches, Trainer und Personalentwickler heißt das, dass ein klarer eigener Standpunkt, ein wachsamer Blick und der Mut, Interessenkonflikte offen anzusprechen, notwendiger sind denn je. Es ist leicht zu sagen, dass man nur Aufträge annimmt, die den eigenen Werten entsprechen. Wer sich (und seine Klienten) wirklich vor Instrumentalisierung schützen möchte, muss genauer hinschauen.

Literatur

  • Faulstich, Peter (2016). Das Politische in der Bildung. In Klaus-Peter Hufer & Dirk Lange (Hrsg.), Handbuch politische Erwachsenenbildung (S. 52–61), Schwalbach am Taunus: Wochenschau-Verlag.
  • Faulstich, Peter (2015). Erwachsenenbildung und Gemeinwohl. Bildung nach der Postmoderne. Magazin erwachsenenbildung.at, 2, S. 04/1–04/9.
  • Faulstich, Peter (2013). Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. Bielefeld: transcript.
  • Faulstich, Peter & Zeuner, Christine (2015). Ökonomisierung und Politisierung des Feldes der Erwachsenenbildung: Die Rolle der Wissenschaft. Erziehungswissenschaft, 1, S. 25–36.
  • Hippel, Aiga von & Röbel, Tina (2016). Funktionen als akteursabhängige Zuschreibungen in der Programmplanung betrieblicher Weiterbildung. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung – Report, 1, S. 61−81.
  • Zimmer, Gerhard (2004). Aufgabenorientierung: Grundkategorie zur Gestaltung expansiven Lernens. In Peter Faulstich & Joachim Ludwig (Hrsg.), Expansives Lernen (S. 54–67), Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

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