Das Leben eines Coachs ist vergleichbar mit einer lebenslangen Pilgerschaft. Das immerwährende Ziel dieser Reise ist die Begegnung mit dem Klienten auf einem immer tiefer werdenden existenziellen Niveau. Auf diesem Weg ist ein Coach stets neuen Schwellensituationen ausgesetzt, deren Überwindung ihn als Mensch immer weiter differenziert, im Sinne eines initiatischen – inneren – Weges. Um diesen zu bewältigen, bedarf es eines ständig wachsenden Wissens um die Prozesse, denen er begegnet. Noch wichtiger aber ist, dass er durch Selbsterfahrung immer tiefer begreift, wer er ist, sodass er seinen Klienten als gefestigte Persönlichkeit begegnen kann. Dies erleichtert es ihm, mit den diversen Anliegen seiner Klienten umgehen und seine Erfahrungen einbringen zu können. Der folgende Aufsatz versucht, diesen Wachstums- und Werdensprozess zu beschreiben.
Coach zu sein, bedeutet nach Einschätzung der Autoren nicht nur lebenslanges Lernen – das ist selbstverständlich. Es bedeutet auch einen lebenslangen Reifungsprozess. Daher soll in diesem Aufsatz für Coaches beschrieben werden, wie sich der Entwicklungsprozess eines Coachs über die Jahrzehnte seiner Tätigkeit darstellt und was sich als hilfreich erwiesen hat, um diesen persönlichen Prozess zu unterstützen.
Die meisten Menschen kennen das Erlebnis, sich durch ein Problem blockiert zu fühlen. Sie meinen damit, dass der freie Fluss ihrer Lebensenergie – im Kern könnte man auch von Handlungsfähigkeit sprechen – durch das Problem oder eben auch durch menschliche Unreife blockiert ist. Umgekehrt kennt jeder das Gefühl der Erleichterung oder gar Erlösung, das dann entsteht, wenn eine Schwelle überschritten ist und plötzlich deutlich mehr Energie zur Verfügung steht.
Der Werdensprozess als Coach bedeutet, …
Es geht darum, eigene oder bei Klienten verschüttete bzw. blockierte Lebensenergie in Fluss zu bringen. Dieser Aspekt fokussiert die Lebenskraft als den zentralen Bezugspunkt von Coaching. Unsere Vitalität ist im Laufe unseres Lebens vielen Wandlungen unterworfen, die uns letztlich zu dem reifen lassen, was wir heute sind (Krahé & Weigt, 2019).
Die eigentliche Aus- und Weiterbildung eines Coachs beginnt ausnahmslos schon lange vor seiner tatsächlichen Ausbildung. Auf unterschiedlichstem Niveau fühlen sich manche berufen, ihre eigentliche berufliche Biografie zu verlassen, um andere dabei zu unterstützen, ihren professionellen Werdegang besser zu bewältigen. Irgendwann absolviert jemand dann eine Ausbildung, die je nach theoretischer Fundierung sehr verschieden sein kann, und er hat dann, wenn er Glück hat, Gelegenheit, das Gelernte anzuwenden. Gerade Coaches in einem frühen Stadium ihrer Tätigkeit profitieren dann von Tools, die sie in der Ausbildung gelernt haben. Diese Tools schaffen das beruhigende Gefühl, für eine Vielzahl von Coaching-Prozessen gerüstet zu sein. Sie helfen, die Stunden zu strukturieren, und erlauben es oft, sich selbst Identität und Kompetenz zu attribuieren. Mitunter sind sie aber auch so etwas wie Stoßgebete angesichts erlebter Ratlosigkeit.
Viele (auch gute) Coaches arbeiten stets mit einem Gefühl der Unsicherheit, weil sie aus Erfahrung wissen, dass ihr Lernprozess niemals zu einem Ende kommen wird und dass sie ihre Aufgabe immer nur im Rahmen ihres aktuellen Bewusstseinsstandes erfüllen können. Dies ist die Quelle jener Demut, die die unbedingte Voraussetzung dafür ist, dem Klienten achtsam und frei von Überheblichkeit zu begegnen.
Ab dem Eintreten in das Berufsleben als Coach werden alle versuchen, die jeweils neuen Überlegungen zu Coaching-Methoden mitsamt theoretischer Grundlegung aufzunehmen und zu integrieren. Fast alle beschäftigen sich mit aktuellen Denkmodellen zu Themen wie Organisationsentwicklung, Agilität, New Work etc. Alle bemühen sich um die eigene Anpassung, mindestens jedoch um die Auseinandersetzung mit dem intellektuellen Mainstream.
Während sie das über Jahre tun, merken manche, dass ein Coach mehr ist als die Verkörperung von Seriosität und technischem State oft the Art. Sie spüren, dass sie mit ihren Klienten immer tiefere Ebenen berühren, die sie faszinieren, oft beunruhigen und verunsichern. Sie erkennen einfach, dass Coaching auch verlangt, menschlich dahin zu reifen, immer anspruchsvollere, existenzielle Themen berühren zu können. Ein Generationswechsel im Unternehmen z.B. ist niemals allein dadurch bewältigt, einen fairen Vertrag abzuschließen. Trennungsprozesse auch im Privatleben der Klienten fordern den Coach in seiner eigenen Fähigkeit, loszulassen, Veränderungsprozesse anzunehmen und diese möglichst angstfrei im Dienste des Klienten zu tragen.
Man könnte etwas pathetisch sagen, nach der Ausbildung ist der Absolvent zwar nominell ein Coach, aber erst im Laufe seines weiteren Lebens reift er wirklich zum Coach. Dieser Prozess der Reifung, der sowohl der intellektuellen wie emotionalen Differenzierung dient, ist nach Auffassung der Autoren der wesentlichste Aspekt an Fortbildung bzw. Fortentwicklung, die ein Coach braucht.
Das ist natürlich auch ein moralischer Aspekt. Der Coach schuldet es dem Klienten, auf dem neusten Stand der Coaching-Expertise zu sein. Viel wichtiger aber ist, dass es hier um die existenzielle Entwicklung des Coachs selbst geht. Das bedeutet insbesondere, erlebte Konflikte im eigenen Leben zu integrieren. Nicht zuletzt bedeutet es aber auch, die tiefen Prozesse, mit denen die Klienten ihre Coaches konfrontieren, angstfrei annehmen zu können und dadurch ein breiteres persönliches Potenzial zu entwickeln, von dem weitere Klienten profitieren.
Häufig wird vergessen, wie sehr der Coach selbst in seiner Persönlichkeit zumindest belastet – wenn nicht gar gefährdet – ist. Grund sind die teilweise hochkomplexen psychodynamischen Prozesse des Klienten, die oft weit unter der Bewusstseinsebene stattfinden. Das klassische Beispiel ist das, was Kernberg (1989) projektive Identifikation nennt. Dies bedeutet, dass der Coach damit rechnen muss, Projektionen und Konflikte des Klienten ins eigene Selbst aufzunehmen und dort auszuagieren. Mancher Streit mit dem Ehepartner im Gefolge eines Coaching-Prozesses hat hier seine Ursache.
So betrachtet kann man das Leben eines Coachs als initiatischen Weg sehen. In der Regel zeichnet sich eine Coach-Biografie dadurch aus, dass Coaches immer wieder an Bewusstseins- und Erkenntnisschwellen gelangen, jenseits derer das, was wir unter Coaching verstehen, eine Tiefung erlangt (Krahé & Weigt, 2019a).
Letztendlich kann man den beschriebenen Pfad so deuten, dass sich bis zum Ende des Weges immer wieder Türen öffnen, die dem Leben erlauben, breitere Erkenntnisse zu erlangen und Lebensenergie fließen zu lassen, die vorher zwar existierte aber nicht die Freiheit hatte, sich zu verwirklichen.
Dieser initiatische Weg, auf dem Coaches immer besser begreifen können, wer sie sind und was sie tun, ist natürlich keine Fortbildung, die in einigen Monaten abgeschlossen werden kann. Er ist, wie erwähnt, ein lebenslanger Prozess. Insbesondere bei Engpässen und eigenen Krisen, nicht selten mit Burn-out-Charakter, kann es hilfreich sein, sich Unterstützung anderer Coaches zu suchen. Natürlich gibt es unzählige Wege, diesen inneren Prozess zu bewältigen.
Um einen einfachen Kompass für die Unterschiede in den fachlichen und persönlichen Entwicklungswegen eines Coachs zu haben, kann das allseits bekannte Eisbergmodell herangezogen werden, das im Wesentlichen die bewusste Sachebene und die vor- oder unbewusste Beziehungsebene benennt. In Ergänzung dazu erscheinen Gedanken von Wilber (2002), die ähnlich wie bei Rogers die Entwicklung des Bewusstseins im Fokus haben, wesentlich. Auch hier kommen beide Entwicklungsebenen vor. Zudem führt Wilber je Ebene eine individuelle und eine soziale/kollektive Seite ein, sodass sein Modell vier Quadranten erhält. Entscheidend sind die folgenden zwei Erkenntnisse von Wilber (ebd.):
Beide Ebenen gehören zum Entwicklungsprozess eines Coachs. Aus tiefem Erleben kann ein bewusstes Verhalten entstehen, von dem Klienten profitieren können, sofern es in Verbindung mit fachlicher Coaching-Expertise zur Verfügung gestellt wird. Es ist die Voraussetzung für die von Rogers (2021) benannte Kongruenz, die uns als Individuen – gerade in einer helfenden Beziehung – als wahrhaftig, aufrichtig und vertrauenswürdig beim Gegenüber erscheinen lässt.
Wie in allen anderen Feldern beginnt die erste Orientierung auch beim Beruf des Coachs durch Aufnahme von Informationen. Die Vielfalt an Weiterbildungen ist gewaltig. Auch das Themenspektrum ist riesig. Manche Ausbildungen schließen nach zwei Wochenenden mit einem Zertifikat ab, andere dauern Jahre. In der Ausbildung lernt der Coaching-Anfänger Techniken und Tools kennen, die recht schnell gefühlte Handlungsfähigkeit vermitteln und die oft in ihrer Wirkung eindrucksvoll erscheinen. Viele beschäftigen sich dann z.B. mit systemischem Denken, was für manche eine echte Neuorientierung in der Betrachtung von Prozessen in Unternehmen sowie Teams und auch beim einzelnen Individuum ermöglicht. Für viele ist das auch eine erste Selbsterfahrung, weil sie merken, dass sich ihre Sicht auf Menschen, Beziehungen und Organisationen weiterentwickelt. Dieser Teil des Lernprozesses führt entlang an einer Reihe äußerlich definierbarer Schwellen. Man kann also sagen, dass die Professionalisierung eines Coachs in Richtung eines zunehmenden Wissens verläuft. Der Coach hat mehr Spanne, mehr sichtbares Knowhow.
Eine Frage, die sich von vornherein unabwendbar stellt, ist jene nach der Passung der Person zur Rolle als Coach. Ist er gefestigt genug, um Entwicklungen zu nehmen, die den Reifungsprozess eines Coachs zu einem Menschen, der zunehmend in der Lage ist, seinen Klienten auf einem tiefen existenziellen Niveau zu begegnen, lebenslang aufrechterhalten?
Spätestens hier kommen die mehr inneren, primär unsichtbaren Aspekte zum Tragen. Wie weit ist jemand in der Lage, wirklich empathisch zu sein, d.h., mit seinem Gegenüber wirklich und für beide Seiten spürbar in Resonanz zu treten? Hier stellt sich immer weniger die Frage der fachlichen Breite, es geht um Tiefe oder auch um Reife. Damit die vielzitierte Chemie zwischen Coach und Klient stimmen kann, ist es unabdingbar, mit einer Person in Resonanz zu treten und offen für eine Begegnung zu sein.
An dieser Stelle ändert sich die Art der Fortbildung eines Coachs erheblich. Hier geht es um Prozesse, die als fachliche Themen nur unzureichend operationalisierbar sind. Es geht um eine Erlebnisform im Augenblick, in dem es dem Coach gelingt, eine tragfähige Beziehung, eine für den Klienten sichere Begegnung ohne Bewertung herzustellen. Der Coach ist jetzt in der Lage, hinter seine Methoden zu treten und loszulassen.
Klienten spüren das in der Weise, dass sie sich wirklich gesehen und verstanden fühlen. In diesen Momenten ist der Coach ein spürbar authentischer und ehrlicher Begleiter und Reflexionspartner. Gerade diese spürbare Begegnung im Jetzt vermittelt dem Klienten die Sicherheit, die nötig ist, abgewehrte, bedrohliche und abgespaltene Aspekte seiner Seele zu offenbaren, die bis dahin aus unterschiedlichen Gründen in ihm verborgen waren. So kann er dann beispielsweise aus seinem „Shutdown“, wie Porges (2021) es nennt, heraustreten und einen konstruktiveren Zustand annehmen.
Wenn Klient und Coach dies spüren, wird es ganz einfach, zu entscheiden, ob ein gemeinsamer Prozess Sinn ergibt. Sinnvoll ist ein Prozess immer dann, wenn er geeignet ist, das Erlebnisspektrum und damit die Problemlösungskompetenz des Klienten zu erweitern. Hier ist der Coach, wenn überhaupt, nur nebenbei Berater. Er hilft beim Wachsen.
Mehr oder weniger bewusst gehören diese Prozesse zu jedem wirklich effizienten Coaching. Für einen Coach ist es ein großer Gewinn, über sein fachliches Wissen hinaus den „energetischen“ Prozess, der beim Coaching immer stattfindet, in sein Bewusstsein zu lassen. Folgende Brücken als Zugang zum eigenen Wachstumsprozess haben sich in der Praxis als nützlich erwiesen.
Wachsen ist Bewusstwerdung. Für die Arbeit in helfenden Beziehungen – so auch als Coach – ist es wesentlich, innere Blockaden zu erkennen, also die Fragen zu beantworten: Welche Tabus und Hindernisse sind in mir? Was vermeide ich? Wie gehe ich mit meiner Ambivalenz zwischen Autonomie und Abhängigkeit bzw. Nähe und Distanz um?
Mit seinem Anliegen kommt ein Klient zum Coach, weil er hofft, in diesem einen geeigneten Reflexionspartner zu finden. Er wünscht sich, dass der Coach ihm eine vertrauenswürdige und vor allem sichere Beziehung anbieten kann, in der er die Erfahrung machen kann, angenommen zu sein, ohne bewertet oder gar verurteilt zu werden. Die wichtigste Frage lautet, wie weit der Coach in der Lage ist, die Zumutung der inneren Prozesse des Klienten angstfrei und gewährend anzunehmen. Jeder Coach, egal wie erfahren er ist, hat in dieser Hinsicht auch Grenzen. Diese zu kennen, ist für den Coach ein wichtiger Schutz, für den Klienten etwas, worauf er sich verlassen können muss.
Im Business-Coaching sind sicher die Vertragsbedingungen und Umstände zu berücksichtigen. Doch beim Wachstum geht es eher um unausgesprochene, unbewusste Normen und Werte. Wie weit sind wir in der Political Correctness gefangen? Gibt es Bedrohungen für meine Arbeit, kann ich wirklich unparteiisch sein? Können meine Basis, meine Reputation, meine Werte bedroht sein?
Der hier geschilderte, lebenslange Prozess des Coachs, ist dadurch gekennzeichnet, sich selbst als Coach und die Klienten erfahren zu lassen, was sie als Menschen ausmacht. Mit dieser Bewusstheit ist es dann im nächsten Schritt möglich, eine Passung zwischen den erlernten und im Alltag verwendeten Methoden herzustellen, diese mit ganzer, neuer Kraft und Identität zu füllen, somit leichter zu arbeiten und zu leben.
Der Beruf des Coachs ist für viele Menschen attraktiv. Die Entscheidung, Coach zu werden, kann sehr unterschiedliche Motivationen haben und sie kann richtig oder falsch sein, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. Coaching-Interessierte und -Einsteiger sollten sich jedoch keinesfalls der Illusion hingeben, mit dem erfolgreichen Abschluss einer entsprechenden Ausbildung „fertiger“ Coach zu sein. Hiermit täten sie weder ihren Klienten noch sich selbst einen Gefallen.