Ethik

Die Neutralität des Coachs

Qualität versus Quantität in Coaching

11 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 10 | 2016

Wir können nach Wittgenstein nur dann wissen, was ein Wort bedeutet, wenn wir sehen, wie die Teilnehmer eines Gesprächs es verwenden, denn die Bedeutung der Wörter wird durch den Gebrauch der Teilnehmer innerhalb eines spezifischen Kontextes festgelegt. Mit anderen Worten: Die Bedeutung eines Wortes kann (muss) verhandelt werden. Und genau das soll hier geschehen: Der Anspruch dieses Textes ist es, den Begriff der Neutralität neu zu verhandeln.

Neutralität

Neutralität wird üblicherweise als eine äußere Haltung definiert, die mit dem Wort der Allparteilichkeit umschrieben ist. Dies bedeutet: Coaches, denen Neutralität als notwendige Eigenschaft zugeschrieben wird, müssen alle am Begleitungsprozess beteiligten Klienten gleich behandeln und dürfen keine einseitigen Sympathien erkennen lassen.

Letzteres stößt auf den Kern dieses Artikels: Wie schafft es der Coach, einseitige Sympathien, d.h., subjektive Wertvorstellungen, nicht nur im Prozessverlauf nicht erkennen zu lassen. Sondern wie schaffen es Coaches, diese gar nicht erst zu haben?

Qualität versus Quantität

Begonnen wird mit der Definition von Qualität versus Quantität: Qualität bedeutet Beschaffenheit, Eigenschaft, Wert etc. Qualität ist eine Grundkategorie bei Aristoteles. In der von ihm ausgehenden Denktradition sind die Qualitäten einer Sache die Eigenschaften, die dieser notwendigerweise zukommen, die ihr (inneres) Wesen ausmachen.

Quantität demgegenüber ist die mess- oder zählbare Größe, Zahl, Menge etc. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich vorrangig mit Quantitäten, mit der Erkenntnis quantitativer Unterschiede und Veränderungen.

Im dialektischen Denken bedeutet Qualität darüber hinaus „etwas Neues“, oft „Höheres“ – auf dem Vorherigen beruhend, aber dennoch anders. Dass quantitative Veränderungen in qualitative umschlagen können, ist eine Erkenntnis Hegels. Dieser Umschlag ist es, der Entwicklung überhaupt erst einen Wert verleiht. Anders ausgedrückt: Quantität, die nicht in Qualität „gipfelt“, hat keinen intrinsischen (innewohnenden) Wert entwickelt. Damit sind zwei Merkmale beschrieben, die Qualität ausmachen:

1. Veränderung von Quantität in Qualität (Umschlag)
2. Mit der Folge eines „höheren“ (innewohnenden) Wertes

Subjektivität und Objektivität

Der Begriff Coaching wird an folgenden (äußeren) Eigenschaften gemessen (siehe hier):

Interaktion und Personzentrierung, Prozessberatung, Lösungs- und Zielorientierung, Beziehung, Hilfe zur Selbsthilfe, transparente Methoden, Konzept, zeitliche Begrenzung, Zielgruppe, Qualifikation des Coachs, Zielsetzung, Psychologischer Vertrag und Neutralität des Coachs.

Zur Neutralität heißt es im Coaching-Report: „Der Coach drängt dem Klienten nicht seine eigenen Ideen und Meinungen auf, sondern sollte stets eine unabhängige Position einnehmen. (...) Er darf dem Klienten auf keinen Fall seine eigenen Wertvorstellungen aufdrängen.“ Die Fragen, die sich hieran anschließen, sind folgende:

Wann ist eine Position (objektiv) unabhängig? Wie und wodurch kann der Coach (subjektiv) frei werden von eigenen Wertvorstellungen? Oder anders herum gefragt: Wann, wie und wodurch schlägt die Neutralität als Quantität in die Neutralität als Qualitätsmerkmal mit der Folge des höheren intrinsischen Wertes um?

Das Dialogmodell

So wenig wie Menschen nicht nicht-kommunizieren können, so wenig können sie nicht nicht-bewerten. Denn jede Beobachtung wird stets durch eine individuelle und damit subjektive Maske „gefiltert“ und ihr so ein bestimmter Wert (eine Be-Wertung) zugeschrieben. Wenn der Mensch nicht nicht-bewerten kann, was also bleibt dann den Coaches zu tun, um die äußere quantitative Neutralität in eine höhere, mit dem inneren Qualitätswert (hier: frei sein von Wertvorstellungen versus Wertvorstellungen nicht erkennen lassen) bereicherte Neutralität umschlagen zu lassen?

Die Antwort ist im Dialogmodell zu finden. Das Dialogmodell behauptet, dass Evolution im Sinne einer inneren Qualitäts(er)findung nur stattfinden kann, wenn sich Gegensatzpole alternierend gebend austauschen. Ein Fall aus der Praxis macht das deutlich:

Herr A und Herr B sind dicke Freunde aus der Studienzeit. Sie brechen das Studium ab, um ihr eigenes Ding zu drehen, sie gründen eine Firma. Alles läuft prima. Zehn Jahre später kommt Herr A auf den Gedanken, zu heiraten, sein Studium wieder aufzunehmen und die Firma zu verlassen. „Du musst in der Firma bleiben“, schreit Herr B. „Ich will meine Freiheit“, schreit Herr A. „Ich kann die Firma nicht ohne dich fortführen“, schreit Herr B. Mit diesem Geschrei kommen beide in die Beratung ...

Nach Glasl (2007) ist die Polarisation in einem Konfliktfeld der Anfang vom Ende der Beziehung, während das Dialogmodell darin den Beginn der (Er-)Findung einer Co-Existenz sieht: Denn wenn zwei (A und B) sich zu einem vermischen (die Firma), dann muss sich das Vermischte aus Gründen der Selbsterhaltung (durch Selbstbehauptung) früher oder später polarisieren (A gegen B).

Man nehme als Beispiel die Farben Weiß und Schwarz. In sämtlichen Grautönen sind Weiß- und Schwarzanteile in unterschiedlichen Mischverhältnissen enthalten. Man könnte sagen, in sämtlichen Grautönen sind die Schwarz- und Weißanteile zu einem Miteinander verbunden. Das nun hat den Nachteil, dass sich Weiß und Schwarz als individuelle „Farbe“ verlieren (müssen), denn im Grau sind Schwarz und Weiß in ihrer Individualität nicht mehr zu unterscheiden. Das wiederum führt aus Gründen der Selbsterhaltung – wie sie jedem lebenden System innewohnt – dazu, dass sich Weiß und Schwarz voneinander trennen (müssen), um sich erneut als individuelle „Farbe“ zu behaupten, was natürlich wiederum dazu führt, dass der Grauton (das Miteinander) „sterben“ muss.

Dieser Prozess ist das Muster des Selbstorganisationsprozesses sozialer Systeme, das der Biologe und Philosoph Humberto Maturana (Der Baum der Erkenntnis) mit dem Wort der „Autopoiese“ umschrieben hat. D.h., sich selbst erhaltende Systeme produzieren nicht nur ihre eigenen, inneren Strukturen, sondern sie produzieren auch die Elemente, aus denen die Strukturen gebildet werden. Im Klartext gesprochen: Wenn zwei Menschen zusammenkommen, ob sie nun eine Firma gründen oder „nur“ eine Ehe eingehen, wann und wo immer eine Vermischung stattgefunden hat, werden sich diese zwei Menschen früher oder später in Gegensatzpositionen polarisieren (müssen). D.h.: Aus dem ursprünglichen Miteinander wird aus Gründen der Selbstbehauptung ein Gegeneinander (werden müssen).

Und jetzt kommt es darauf an: Ob nämlich der (Dialog-)Prozess, der just im Moment der Polarisation begonnen hat, und der zum Zwecke hat, ein Raumfeld zu (er)finden, in dem beide Gegensätze in Co-Existenz überleben können, zu Ende geführt wird oder nicht.

Verinnerlichungsprozess

In Bezug auf das im Coaching-Prozess angestrebte Qualitätsmerkmal „frei sein von subjektiven Wertvorstellungen versus subjektive Wertvorstellungen nicht erkennen lassen“ setzt Geben inzident ein (Verinnerlicht-)Haben voraus, denn was der Mensch nicht (verinnerlicht) hat, kann er auch nicht (von sich) geben. Geben verlangt also inzident das (Verinnerlicht-)Haben.

Und wie nun, ganz konkret, läuft ein Verinnerlichungsprozess ab? Durch das, was Max Schupbach im Rahmen seines Konfliktlösungsansatzes „World Work“ die „Superposition“ nennt. Die Superposition ist eine Lösung zweiter Ordnung, die sich daraus ergibt, dass zwischen dem Gegensatzpaar nicht ein Kompromiss ausgehandelt wird, sondern dass sich im Prozessverlauf eine Co-Existenz (er)findet, d.h., die Gegensätze teilen sich denselben Raum – miteinander, nebeneinander, füreinander.

Auf das Beispiel von der Farbe bezogen: Die Superposition ist nicht im Grau zu finden. Im Raum der Co-Existenz sind Schwarz und Weiß weder miteinander vermischt, noch sind sie voneinander abgespalten und mal zeigt sich das Eine im Vordergrund, während das andere im Hintergrund verschwindet. Beide Pole sind im Bewusstsein gleichzeitig präsent, wenn auch nicht gleichzeitig aktiv.

Superposition

Damit „beißt“ sich die Katze in den eigenen Schwanz: Um die Superposition zu erringen, braucht es zuerst ein Gegensatzpaar, das in den Prozess des Dialoges eintreten kann.

Für den Verinnerlichungsprozess muss also das Pferd von hinten gesattelt werden: Ausgehend von (1) der gewünschten Superposition gilt es zunächst (2) die Gegensatzpole zu (er)finden, um sodann (3) die Co-Existenz zu (er)finden. Für den gewünschten Verinnerlichungsprozess des frei seins von subjektiven Wertvorstellungen wird jetzt also das Muster der Autopoiese lebender Systeme genutzt, um diesen ganz bestimmten inneren Entwicklungsschritt selbstwirksam zu vollziehen, d.h. dieses ganz konkrete innere Qualitätsmerkmal zu (er)finden.

Fokus und Flow

Was nun sind die beiden Gegensatzpole der Superposition „frei sein von subjektiven Wertvorstellungen“ versus „subjektive Wertvorstellungen nicht erkennen lassen“? Die beiden Gegensatzpole sind: Fokus und Flow.

Im menschlichen Gehirn gibt es zwei sogenannte Fundamentalsysteme: (a) das von unten nach oben arbeitende Trieb- oder Basissystems, zuständig für die triebhaften und überwiegend automatisch ablaufenden Verhaltensweisen, und (b) das von oben nach unten wirkende Kontrollsystem im Präfrontalen Cortex, zuständig für Konzentration, Arbeitsgedächtnis soziale Intelligenz etc.

Analog zu diesen beiden Dynamiken aus Buttom-up und Top-down verfügt der Mensch über Flow und Fokus. Man stelle sich eine Pyramide vor. Unterhalb des Pyramidenbodens findet sich der Raum der Möglichkeiten: Tausende und abertausende Punkte fließen frei im Raum und wann immer man den Blick auf einen Punkt lenkt, verschwindet er auch schon wieder aus den Augen und ein anderer Punkt zeigt sich, usw. bis man sich am Ende dem Fluss im Raum hingibt (hingeben muss), weil eine Fixierung nicht möglich ist. Oberhalb des Pyramidendaches befindet sich einen einziger Punkt, der fokussiert werden kann. Pendelt man zum Flow aus, verliert man den Fokus aus den Augen, pendelt man zum Fokus aus, verliert man den Flow aus den Augen. Und dann werden die Pendelbewegungen kleiner und kleiner, bis man in der Lage ist, beide Pole gleichzeitig im Gewahrsein zu halten.

Wie bereits ausgeführt: Die Superposition aus Schwarz und Weiß ist nicht Grau; sie ist also kein statischer Zustand. Sie ist vielmehr eine Fließbewegung im Pendelrhythmus zwischen zwei Gegensatzpolen.

Um in die Superposition „hinein pendeln“ zu können, braucht es also (a) zunächst die Verinnerlichung der beiden Pole Flow und Fokus. Und es braucht (b) einen Raum, wo sich die beiden Gegensätze auch tatsächlich zum Zwecke des Dialoges begegnen dürfen. Denn Gegensätze ziehen sich bekanntlich nicht nur an, sie stoßen sich auch gegenseitig ab. Der Raum der Begegnung liegt aber genau dazwischen, d.h. da, wo Anziehung und Abstoßung „überwunden“ sind.

Auf die Dynamik von Buttom-up und Top-down bezogen, hat der Mensch das limbische System, das ein sogenanntes „crossing“ der beiden gegensätzlichen Dynamiken erlaubt und sich im Felt Sense widerspiegelt, wie er von Gendlin (2012) beschrieben ist: Der Felt Sense beinhaltet demnach sowohl ein Fließen des gesamten Erlebens als auch die aufgrund einer Aufmerksamkeitsfokussierung gespeicherte Erlebensselektion; er beinhaltet also beides: Flow und Fokus.

Auf Verinnerlichungsprozesse bezogen verfügt der Mensch über das, was C.G. Jung den Archetyp „Das Selbst“ nennt. Das Selbst ist der Ort, wo innere (wie äußere) Gegensätze aufeinandertreffen dürfen: Nach Jung „bezeichnet das Selbst den Gesamtumfang aller psychischen Phänomene im Menschen. Es drückt die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit aus. (...) Es ist Grund und Ursprung der individuellen Persönlichkeit und umfasst diese in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (Kast, 2016; 133). Nach Schwartz (2008) hat das Selbst Erkennungsmerkmale, nämlich: Ruhe, Klarheit, Neugierde, Mitgefühl, Zuversicht, Mut, Kreativität, Verbundenheit, Freude, Humor, Versöhnlichkeit und Dankbarkeit.

Zusammenfassend: Ausgehend von (1) der gewünschten Superposition(frei sein von subjektiven Wertvorstellungen) müssen Coaches und Mentoren (2) zuerst die Gegensatzpole (er)finden, nämlich Flow und Fokus, um sodann (3) im Raumfeld des Selbst die Co-Existenz zu (er)finden.

Fazit

Der Dialog ist der Umschlag-Platz (Umschlag von Quantität in Qualität), wo sich Neutralität als das beweist, was sie in neutraler Form ist, nämlich: Wahlfreiheit, mit der Konsequenz, hin und her pendeln zu können.

Der Mensch, der einem Pol anhaftet, kann nicht pendeln. Mit anderen Worten: Er kann nicht in die Superposition gelangen. Anhaftungen an Flow oder Fokus sind also zu überwinden.

Menschen haben Neigungen, wobei die Zuneigung zum einen Pol immer zugleich von der Abneigung vom anderen Pol begleitet ist. Aus Neigungen werden Gewohnheiten. Aus Gewohnheiten werden Muster. Und Menschen arbeiten mit Selbsttäuschung. Sie haben Angst; sie meiden Unsicherheit und Verlust. Und das Pendeln berührt den Verlust und schafft Unsicherheit. „Es ist oft nicht nötig, das zu durchschauen und zu ergründen, aber wenn es nötig ist, sollte man eher mit kluger List als wie eine Axt im Wald vorgehen.“ (Zeig, 2016; 59).

Literatur

  • Gendlin, Eugene T. (2012). Focusing. Reinbek: Rowohlt.
  • Glasl, Friedrich (2007). Selbsthilfe in Konflikten. Stuttgart: Freies Geistesleben.
  • Kast, Verena (2016). Die Dynamik der Symbole. Düsseldorf: Patmos.
  • Schwartz, Richard C. (2008). Das System der Inneren Familie. Norderstedt: Books on Demand.
  • Zeig, Jeffrey K. (2016). Einzelunterricht bei Erickson. Heidelberg: Carl-Auer.

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