Obwohl Macht zum Alltag jeder Organisation gehört und uns allen vertraut scheint, handelt es sich um ein sehr komplexes Phänomen (Ameln & Heintel, 2016). Macht – verstanden als überlegene Chance, seine Ziele in einem sozialen Zusammenhang durchzusetzen – gibt es in jedem sozialen System, von der Kindergartengruppe über die Familie bis hin zur Gesellschaft als Ganzes. Immer, wenn Menschen aufeinandertreffen, bilden sich selbstorganisiert Machtstrukturen und -dynamiken aus. Diese drei Ebenen der informellen Machtdynamiken, die spezifischen Gegebenheiten der Macht in Organisationen und gesellschaftlich gewachsene Machtverhältnisse überlagern und durchbrechen sich gegenseitig. Wenn wir Machtphänomene in Coaching-Prozessen thematisieren, müssen wir neben der Ebene der persönlichen Reflexion mit den Klienten diese drei Ebenen als Hintergrundfolie berücksichtigen.
Auseinandersetzungen um die Macht sehen wir bereits bei den Primaten, wo sich typischerweise ein Alphatier herausbildet, das aufgrund seiner Fähigkeiten einen besonderen Beitrag zum Überleben der Gruppe leistet. So kann körperliche Stärke eine Voraussetzung für die Übernahme einer Alpha-Rolle sein, sie ist aber nicht die Macht selbst. Wenn man die eigene Überlegenheit immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen und mit Zwangsmitteln durchsetzen muss, ist dies kein Zeichen der Macht, sondern ein Beleg für die eigene Machtlosigkeit. Macht im eigentlichen Sinne entsteht, wenn die Mitglieder des Systems (des Rudels, der Organisation …) die Position des Machtinhabers nicht mehr infrage stellen und ihm auch ohne Zwang Folge leisten. Macht ist also nicht etwas, das man „hat“, sondern sie erwächst aus der Folgebereitschaft derjenigen, die sich der Macht fügen.
Die evolutionäre Funktion der Macht liegt darin, eine gemeinsame Ausrichtung der Systemmitglieder sicherzustellen – trotz unterschiedlicher Ziele, Interessen, Bewertungen und Wahrnehmungen der Akteure. Dadurch reduziert Macht Komplexität (z.B. in Entscheidungsprozessen), dämmt Konfliktpotenzial ein und erhält das System auch im Konfliktfall handlungsfähig. In Interaktionssystemen geschieht dies, indem sich informelle Machtstrukturen im Zuge der Systemgeschichte selbstorganisiert herausbilden – die Gruppe „einigt“ sich unausgesprochen auf bestimmte Normen und auf Personen, die diese als Führungsfiguren verkörpern. Diese Machtstrukturen sind sozusagen die Pazifikationsformel für die Gruppenkonflikte, die solange unterschwellig bleiben, bis das etablierte Machtgefüge infrage gestellt wird.
In Organisationen klassischen Typs sind diese strukturschützenden Mechanismen der Macht durch die Einrichtung einer Hierarchie auf Dauer gestellt. Organisationsmacht ist kein naturwüchsiges Phänomen und setzt keine besonderen persönlichen Eigenschaften voraus, sondern ist an die Vorgesetztenfunktion gebunden. Durch diese hierarchiegestützte Rollenmacht und ihre Bindung an die Mitgliedschaft (wer seine Stelle behalten will, tut gut daran, den Erwartungen des Vorgesetzten Folge zu leisten) kann „der Vorgesetzte […] bei Entscheidungen in letzter Konsequenz auf die persönliche Achtung seiner Untergebenen als Einflussbasis verzichten […]. Dadurch hat die Organisation die Möglichkeit, Personen auf eine Position zu setzen, wenn diese zwar fachlich geeignet, sie aber nicht zum Charismatiker geboren sind“ (Kühl, 2012; S. 167).
Ein typisches Merkmal der Macht ist, dass sie im Verborgenen wirkt und nur mit Hilfe von Symbolen (klassische „Insignien der Macht“ wie Etage, Größe/Einrichtung des Büros, Firmenwagen, Parkplatzlage etc.) kommuniziert werden muss. Man kennt die Erwartungen und orientiert sich an ihnen, explizite Anweisungen sind nur im Ausnahmefall erforderlich, sogar die „unbefohlenen Befehle“ werden befolgt. Hier zeigt sich die komplexitätsreduzierende Funktion der Macht: „Explizite Kommunikation wird auf eine unvermeidbare Residualfunktion beschränkt“ (Luhmann, 1975; S. 36). Je häufiger der Vorgesetzte seine Macht einsetzen muss, desto mehr deutet dies daher auf einen Machtverlust hin.
Im klassischen Verständnis von Macht wird ein Interessenkonflikt vorausgesetzt, in dem die Führungskraft ihre Macht einsetzt, um das übergeordnete Organisationsinteresse gegenüber den Partikularinteressen der Mitarbeiter durchzusetzen. Jedoch muss die Folgebereitschaft des Mitarbeiters nicht auf eine durch hierarchische Rollenmacht gestützte latente Sanktionsdrohung zurückgehen. Ein Mitarbeiter kann sich an seiner Vorgesetzten orientieren, weil er ihre fachliche Autorität und bessere Entscheidungsfindung anerkennt, ihre Visionen und Ziele teilt oder einfach eine gute Beziehung zu ihr hat.
In diesen Fällen würde man nicht von Macht, sondern von (nicht-machtbasiertem) Einfluss sprechen. Alle Motivationsmodelle und die sozialpsychologische Forschung zu Macht und ihren Folgen münden in derselben Empfehlung, auf Einfluss statt auf Macht als Mittel der Führung zu setzen.
Macht ist, funktional betrachtet, ein organisationaler Integrationsmechanismus, der eine gemeinsame Ausrichtung sicherstellen soll. Gleichzeitig ist Macht aber mit gravierenden „Nebenwirkungen“ für alle Beteiligten verbunden, die zu Konflikten, Reibungsverlusten und Blockaden führen. Funktionalität und Dysfunktionalität der Macht bilden also zwei Seiten derselben Medaille, die nur schwer voneinander zu trennen sind.
Organisationale Macht vermittelt sich immer durch die Personen, auf die sie übertragen wird. Dass Macht die Machthaber verändert, ist durch zahlreiche psychologische Studien belegt. Die Machtausstattung der Führungsrolle kann für eigene Zwecke instrumentalisiert werden – schon durch den Anschein einer solchen Vermischung von Organisationsinteresse und Eigeninteresse delegitimiert sich Macht und stellt sich selbst infrage.
Jeder erlebte Machteingriff erzeugt bei den Machtunterworfenen Reaktanz. Macht erstickt Eigenmotivation und ruft den Aufbau von Gegenmacht auf den Plan (die in Zeiten des Fachkräftemangels oft größer ist als die der offiziellen Machthaber). Macht kann dazu führen, dass Informationen und korrektives Feedback von der Basis nicht mehr bis zur Entscheiderebene durchdringen. Kommunikation zwischen den Hierarchieebenen wird blockiert. Machtdominierte Systeme neigen daher zu Schwerfälligkeit, kalten Konflikten und Veränderungsresistenz.
Von Gruppenarbeit über Lean Management bis hin zu Scrum und Holacracy hat es zahlreiche Versuche gegeben, diese negativen Effekte durch eine weniger hierarchische Gestaltung der Organisation zu vermeiden. Viele dieser Ansätze konnten nur begrenzte Wirkung entfalten, weil sie auf den Systemwiderstand derjenigen etablierten Machtstrukturen trafen, die sie zu reformieren suchten. Doch schon seit langem zeichnet sich ab, dass die noch aus dem tayloristischen Prinzip der Trennung von Kopf- und Handarbeit abgeleiteten Prämissen der Macht – nämlich die Annahme, die Führungskraft verfüge über überlegenes Wissen, bessere Entscheidungsfähigkeit etc. – immer mehr erodieren. In zunehmend von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA) geprägten Umwelten soll Führung heutzutage Sicherheiten überzeugend präsentieren, über die sie oft selbst nicht verfügt (Ameln & Kramer, 2012). So kommt es zu einer fortschreitenden „Deflation“ der Macht (Luhmann, 1975).
Eine Reihe von in der Fachdiskussion immer wieder zitierten Unternehmen leben vor, wie man in der „VUKA-Welt“ mit hierarchieärmeren Organisationsstrukturen erfolgreich sein kann. Das Idealbild der „agilen Organisation“ changiert dabei zwischen realistischer Vision, Managementmode und Heilsversprechen (Brückner & Ameln, 2016). Agilität, verstanden als strukturell, prozessual und kulturell verankerte Reagibilität auf die Entscheidungs- und Veränderungsnotwendigkeiten der immer schneller wechselnden Kontextbedingungen, ist in vielen Start-ups bereits von Anfang an Bestandteil der Unternehmens-DNA. Der Kulturwandel hin zu Agilität in traditionsreichen Großunternehmen ist dagegen oft mit vielen Fragezeichen verbunden.
So oder so: Eine Kulturveränderung beginnt an der Spitze, und dieser Allgemeinplatz des Change-Managements gilt gerade im Fall der Entwicklung hin zu hierarchieärmeren, agileren Strukturen in besonderem Maße. Agilität als Grundlage der Zukunftsfähigkeit in der VUKA-Welt ist also keine Frage der handwerklich korrekten Umsetzung von Scrum & Co., sondern in erster Linie eine Machtfrage. Wie wir mit Macht und ihren Folgewirkungen umgehen, wird daher über das zukünftige Überleben vieler Organisationen mitentscheiden.
Coaching-Anliegen können auf unterschiedlichste Art und Weise mit Machtfragen zusammenhängen:
Ein häufig in Coaching-Prozessen anzutreffendes Thema ist die Machtlosigkeit, die paradoxerweise oft mit Führung einhergeht. Die vielfältigen Gründe dieses nicht selten anzutreffenden Ohnmachtserlebens kommen z.B. in der Studie von Hoffmann (2003) zum Ausdruck:
Die eigentümliche Machtlosigkeit der Führungsrolle geht also zum Teil darauf zurück, dass Führung in hohem Maße auf die Mitwirkung der Geführten und auf die Legitimation seitens der Organisation angewiesen ist. Zum Teil entmachten sich Führungskräfte aber auch selbst, da sie ein negativ besetztes, biografisch gebrochenes Verhältnis zur Macht haben. Vor diesem Hintergrund geht es in Coaching-Prozessen dann häufig entweder um die eigene Positionierung in den mikropolitischen Spannungsfeldern der Organisation oder darum, die der eigenen Führungsrolle immanente Machtausstattung überhaupt wirksam einzusetzen (natürlich in verantwortungsvoller Weise). Denn, wie wir aus der Praxis und vielen Studien wissen, bewerten Mitarbeiter nur eines noch negativer als einen autoritären Führungsstil, nämlich Nicht-Führung, d.h., das Zurückschrecken vor den „nicht-konsenspflichtigen Entscheidungen“, in denen Luhmann (1976; S. 215) eine Kernaufgabe der Führung sieht.
In Anbetracht dessen darf Coaching aber keinesfalls (wie es in Teilen der „Ratgeberliteratur“ und des Seminarmarktes propagiert wird) als mikropolitisches Aufrüstungsprogramm missverstanden werden, in dem die Klienten machiavellistisches Durchregieren und Manipulieren lernen sollen. Im Gegenteil: Die Organisationswelt ist aus gutem Grund dabei, sich vom lange kultivierten Leitbild der heroischen Führungsfigur zu verabschieden.
Auch die Führungskräfte selbst sind heute mehrheitlich überzeugt, dass die bestehende Führungspraxis nicht zukunftsfähig ist (dies hat z.B. eine im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums erstellte Studie gezeigt, siehe Niejahr & Rohrbeck, 2014). Trotz dieser Ablehnung gegenüber hierarchischer Führung reproduzieren sich die tradierten, auf einfachen Steuerungsvorstellungen basierenden Führungskulturen nach wie vor vielfach selbst – oft auch ohne dass dies den Führungskräften selbst bewusst wäre. Hier ist Coaching gefragt: Agilere, sprich stärker auf Selbstorganisation bauende Organisationsformen setzen einen Umdenkprozess bei den Führungskräften voraus (sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene), bei dem das eigene Selbstverständnis und das eigene Verhältnis zur Macht grundlegend auf den Prüfstand kommen.
Die persönliche Neupositionierung zum Thema Macht setzt Biografiearbeit voraus, denn unsere Prägung bestimmt „unsere Handhabung von Macht, Führung und Kontrolle“ – um zu ‚innerer Macht‘ zu gelangen, muss man vor allem Macht über sich selbst gewinnen, indem man selbstkritisch Glaubenssätze und innere Muster bewusst macht (Petzold, 2009; S. 21). Eine solche Selbstbetrachtung kann nur in einem unterstützenden organisationalen Kontext gelingen. Hierzu gehören
Der zuvor erörterte Wandel des Führungsverständnisses wird nur zustande kommen, wenn wir die Macht der Führung auf neue Füße stellen. Dies ist untrennbar mit ethischen Fragestellungen verbunden, die folgend in drei Leitmaximen zusammengefasst werden.
Wie die Konjunktur von Konzepten wie „servant leadership“ oder geteilte Führung zeigt, müssen sich Führungskräfte auf dem Weg zur agileren Organisation stärker als bisher bewusst sein, dass die Macht der Führung nicht „ihre“ Macht ist, sondern nur eine „geliehene“ Macht, bei der Organisations- und Eigeninteresse auch nach außen hin deutlich getrennt werden müssen. Der Maßstab für einen ethisch vertretbaren Einsatz von Macht liegt also zum einen in der Legitimation des Führungshandelns in Bezug auf das Organisationsinteresse und in der Trennung vom jeweiligen Eigeninteresse – ein oftmals schmaler Grat.
Führung muss sich von der Hoheitsmacht verabschieden und stattdessen „Schöpfermacht“ (Fähigkeit, Räume für die gemeinsame Gestaltung zu schaffen) und „Sinnmacht“ (sinnstiftendes Handeln, an dem sich andere orientieren können) in den Vordergrund stellen (Schmid, 2016).
In jeder Organisation gilt die Erkenntnis von Hannah Arendt, dass man Macht immer nur insoweit hat, als man von anderen dazu ermächtigt wird, in ihrem Namen zu handeln. Führungskräfte haben sich ihre Macht insofern nicht nur von „der Organisation“, sondern auch von denen geliehen, die sich führen lassen. Je mehr man auf „nicht-intendierbare“, d.h. nicht durch Machteingriff erzwingbare, sondern nur freiwillig zu erbringende Leistungen der Mitarbeiter wie Innovativität, Flexibilität, Identifikation usw. (Ortmann, 2012) angewiesen ist, desto mehr verliert hierarchische Macht als Steuerungsmedium an Relevanz und desto mehr geht es um freiwilliges Mitziehen in einem durch Schöpfer- und Sinnmacht lediglich gestalteten, aber nicht verordneten Prozess. Dies setzt Aufbau und Rückgewinnung von Vertrauen, Dialog- und Konsensorientierung, Respekt und Verständnis voraus, also all die Dinge, die für Führung selbstverständlich sein sollten, aber längst nicht immer sind.
Dass psychische Erkrankungen wie Burnout deutlich gestiegen sind, hat auch mit den aktuellen Entwicklungen in der Arbeitswelt zu tun. Während die „alte Welt“ von der Erbringung einer Durchschnittsleistung im Rahmen der Regelarbeitszeit ausging, verspricht die neue Leistungskultur à la Google Freiheitsgrade in der (inhaltlichen und zeitlichen) Ausgestaltung der eigenen Arbeit, dafür wird aber kontinuierliche Spitzenleistung erwartet. Im Zuge dieses Subjektivierungsprogramms tritt eine Marktlogik an die Stelle von Macht als organisationales Steuerungsmedium. Die Machtstrukturen, die in der „agilen Organisation“ vordergründig demontiert werden, werden dabei durch subtilere, hintergründige Formen der Macht ersetzt: Während die Arbeitnehmer zu Zeiten der industriellen Revolution noch durch Sanktionsmacht kontrolliert werden mussten, hat sich die Kontrollinstanz in Zeiten der neoliberalen Leistungskultur 4.0 in die motivationalen Strukturen des Arbeitnehmers hineinverlagert. Arbeit und Freizeit verschwimmen. Für seine Arbeit „zu brennen“ ist erstrebenswertes Ziel und Teil des Lifestyles – so lange, bis man ausbrennt.
Zu einem ethisch begründeten Coaching gehört daher auch, die verborgenen Wirkmechanismen der Macht und die Grenzen des Leistbaren kritisch zu beleuchten. Die Arbeit an der „Work-Life-Balance“ ist dabei nur Symptombekämpfung. Auch wenn das „Prinzip einer nicht-hierarchischen Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis“, das Geißler (2016; S. 58) als ethisches Leitprinzip des Coachings betrachtet, eher utopische Züge trägt, gilt es doch auch in hierarchischen Organisationen neue Formen und Praxen des Umgangs mit Macht zu finden. Die Ersetzung der bisherigen externen Kontrollmacht durch internalisierte Leistungsmotive unter Wegfall der psychischen und sozialen Rückzugsräume der Mitarbeiter (sehr plastisch beschrieben von Dave Eggers in „The Circle“) ist dabei keine Alternative. Gerade auf dem Weg zu agileren Organisationen sind die Differenz von Organisation und Individuum, der Widerspruch und die Selbstfürsorge der Mitarbeiter unverzichtbare Ressourcen. Krankmachende Arbeit können wir uns als Gesellschaft ebenso wenig leisten wie überidentifizierte Ja-Sager.