Wer alleine ist, muss nicht einsam sein. Andersherum gilt aber auch: Wer von Menschen umgeben ist, kann sich durchaus einsam fühlen. Sowohl für die Entwicklung als auch für die Praxis des Coachings war und ist das Phänomen der Einsamkeit von großer Bedeutung.
Bereits die Titel "Oben, aber allein" (Michael Böckler, 1984) und "Partner in dünner Luft" (Dr. Wolfgang Looss, 1986) lassen erkennen, warum das Coaching als eine neue, individuelle Forum der Unterstützung ursprünglich nachgefragt wurde: Es ging um die Einsamkeit im Topmanagement.
Sich einsam zu fühlen, bedeutet, von anderen Menschen getrennt und abgeschieden zu sein – oder dies zumindest so zu empfinden. Aus einer defizitorientierten Perspektive heraus kann dies als ein Mangel an Sozialkontakten oder als ausbaufähiges Sozialverhalten angesehen werden. Eine positivere Perspektive ist hingegen auch möglich: Einsamkeit kann Erholung vom Alltagsgeschäft bedeutet, sie kann vom einfachen "Sortieren der Gedanken" bis hin zu komplexen Strategien und kreativen Prozessen genutzt werden. Es ist also nicht die Einsamkeit an und für sich, die negative und positive Konsequenzen haben kann, sondern es ist vielmehr das Ausmaß der gefühlten Einsamkeit und die Art, wie man mit ihr umgeht.
Genau dieser Aspekt zeigt das Potenzial, das dem Coaching von einsamen Entscheidern innewohnt: Es geht weniger darum, den Zustand komplett zu ändern (was aus vielen Gründen oftmals kaum möglich oder mit vielen Kollateraleffekten behaftet ist), als vielmehr zusammen mit dem Coach konstruktive Bewältigungsstrategien und Nutzenaspekte zu generieren. In diesem Sinne schafft Coaching keine neuen Außenstrukturen, kann jedoch durchaus bei der Entwicklung von neuen Innenstrukturen und Perspektiven einen erheblichen Anteil leisten.
Einsamkeit im Topmanagement
Für eine grundsätzliche Betrachtung des Themas ist es jedoch notwendig, sich zunächst zu vergegenwärtigen, warum Manager, Entscheider, Unternehmer u.a. überhaupt von Einsamkeit betroffen sein können. Hier gibt es eine ganze Reihe von Ursachen:
- Wer entscheidet hat Macht. Wer Macht hat, vertritt Interessen, die nicht selten Begehrlichkeiten wecken. In der Konsequenz sind "Macht-Haber" immer von Personen umgeben, die Einfluss auf sie und ihre Entscheidungen ausüben möchten. Erfahrene und entsprechend sensibilisierte Entscheider bemerken dies und spüren dabei oft allzu deutlich, dass viele ihrer Kontakte funktionaler Natur sind. Der Mensch, der in jedem Entscheider steckt, fühlt sich dadurch zurückgesetzt und von den Anderen distanziert. Entscheidern, denen eine solche Erfahrung und/oder Sensibilität fehlt, vereinsamen auf noch schleichendere Weise: Sie sind häufig von Claqueuren umgeben und bemerken dies zunächst nicht. Erst wenn sie ihre Macht verlieren oder diese erodiert, wenden sich die Schmeichler ab. Die Einsamkeit kommt so vielleicht verzögert, aber umso schlagartiger und massiver.
- Je größer ein Unternehmen ist, desto vielfältiger ist i.d.R. die Anzahl der Interessen. Führungskräfte, die eine bestimmte Linie vertreten, müssen daher nahezu zwangsläufig mit Gegeninteressen umgehen, die teilweise massiv sein können. Sich in solchen Konstellationen durchzusetzen oder sie auch nur auszustehen, kann zu erheblichen Einschränkungen der Sozialkontakte führen und somit auch Einsamkeit auslösen. Dabei ist es auch keine Alternative, keine Linie zu vertreten: Wer es allen Recht machen möchte, wählt als Opportunist die sicherste Möglichkeit des Scheiterns (menschlich als auch als Führungskraft), was ebenfalls zu Einsamkeit führen kann.
- Insbesondere notwendige und eher langfristig zweckdienliche Entscheidungen, die nach außen hin kurzfristig als sehr "hart" wahrgenommen werden, gehen immer wieder mit mangelnder Wertschätzung des sozialen Umfeldes einher. Solche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen provoziert nahezu zwangsläufig Einsamkeit. Im Kern begründet dies sich dadurch, dass der oder die Entscheider auf Unverständnis stoßen, was sie ihrerseits mit Unverständnis quittieren. Da viele dieser Entscheidungen von Gründen abhängig sind, die weder der Öffentlichkeit noch innerhalb eines Unternehmens bekannt werden dürfen, sind solche Entscheidungen oft nicht ohne weiteres konfliktfrei kommunizierbar. Diese harten Entscheidungen werden daher nicht selten einer Person zugeordnet, statt einem strukturellen Hintergrund. Und diese Person muss dann - auch als Teil der Rolle und Funktion ihrer Aufgabe - diesen Druck und die Einsamkeit ertragen. Das Gehalt wird hier zum Schmerzensgeld.
- Auch nach außen erfolgreich wirkende Führungskräfte können durch Kränkungen tief verletzt sein, was Einsamkeit auslösen kann. Solche Kränkungen können z.B. dadurch entstehen, dass eine Führungskraft mit großem Idealismus und Engagement agiert, dann aber ernüchtert feststellt, dass Mitarbeiter ihre Tätigkeit "nur als einen Job" ansehen. Entsprechend honorieren sie das Engagement ihrer Führungskraft kaum, sondern wundern sich eher über dessen (aus ihrer Sicht) Aktionismus. Hier ist offensichtlich, dass durch unterschiedliche Erwartungen und Wertevorstellungen eine Distanz entsteht.
- Führungskräfte in der Sandwich-Position können durch eine Selbstentfremdung einsam werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Führungskraft von oben vorgegebene Interessen nach außen und gegenüber den Mitarbeitern vertreten muss, die sie persönlich nicht für richtig hält. Solche Konstellationen sind nicht immer zu umgehen, auch nicht durch einen Arbeitsplatzwechsel.
- Beziehungen in Unternehmen sind überwiegend Funktions- und Arbeitsbeziehungen. Hier kann es einen erheblichen Unterschied zu freiwillig gewählten persönlichen Beziehungen geben (auch wenn dies nicht zwangsläufig so sein muss). In der Konsequenz bedeutet dies, dass Menschen, die an Arbeitsbeziehungen den gleichen Maßstab wie an persönliche Beziehungen anlegen, eine gute Chance haben, enttäuscht zu werden und sich ob dieses Missverständnisses einsam fühlen.
- Versteht sich eine Führungskraft überwiegend als Problemlöser, können Probleme zu ihrem Arbeits- und Lebensmittelpunkt werden. Eine solche Extremperspektive kann einsam machen, weil man sich dann von Problemen umzingelt fühlt. Hier wird dann vergessen, dass jeder Mensch mehr als ein Problemlöser ist bzw. sein kann.
- Selbstbezogene Führungskräfte leiden oftmals unter Einsamkeit, weil sie in ihrer Fokussierung auf ihre eigenen Anliegen ihr Umfeld und dessen Bedürfnisse vernachlässigen. Eine solche Haltung führt recht sicher in das Gefühl, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein und somit in die Einsamkeit.
Fehlentwicklungen
Diese Ursachen und Grundzusammenhänge machen deutlich, dass das Coaching von einsamen Managern nicht nur eine Wellness-Maßnahme ist. Denn Einsamkeit geht häufig mit spezifischen Risiken einher, die für ein Unternehmen harte betriebswirtschaftliche Konsequenzen haben können. Wer über einen längeren Zeitraum einsam ist, riskiert durch mangelndes Feedback und durch die unzureichende Möglichkeit des Austauschs mit anderen Menschen ein verzerrtes Selbstbild zu entwickeln. Die Folge davon können unrealistische Einschätzungen sein, die in teilweise erheblichen Fehlentscheidungen münden. Als ein plakatives Beispiel dafür sei das Risikoverhalten in Teilen der Finanzbranche genannt. Auch hier führte eine Entkopplung vom normalen Wirtschaftssystem zu einer krassen Fehlentwicklung.
Das typische Muster solcher Fehlentwicklungen sieht wie folgt aus:
- Stufe 1: Gefühlte (oftmals – aber nicht zwangsläufig – auch reale) Distanzierung von Anderen; sich-missverstanden-fühlen
- Stufe 2: Zunehmende Vereinsamung
- Stufe 3: Einschränkung der Wahrnehmung, verzerrtes Selbstbild
- Stufe 4: Unangemessenes, sozial auffälliges Verhalten; Fehlentscheidungen
Austausch auf Augenhöhe
Als eine Art "sozialer Sparringspartner" kann ein Coach dabei Unterstützung geben, derartige Fehlentwicklungen zu vermeiden. Im Kern eines solchen Coachings steht ein Austausch auf Augenhöhe. Die Coaching-Beziehung kann ein prototypischer Ausgangspunkt für die Neugestaltung anderer Beziehungen werden und dabei helfen, Einsamkeit zu überwinden. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft des Managers, sich selbst ehrlich zu begegnen. In einem professionellem Coaching kann ihm dann verständlich werden, worin der Grund für seine Einsamkeit liegt – und was daran geändert werden kann.
Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich sind nicht alle Führungskräfte einsam. Allerdings beinhalten die spezifischen Funktionalitäten und Aufgaben einer Führungsrolle viele Aspekte, die Gefühle von Einsamkeit begünstigen können. Coaching kann hier Teil von Präventionsstrategie sein, um möglich negative Konsequenzen von Einsamkeit frühzeitig zu erkennen und angemessene Umgangs- und Bewältigungsmechanismen zu entwickeln.