Ethik

Coaching in Zeiten der Agilität

Wie umgehen mit dem Hype?

Dem Thema Agilität mangelt es – auch im Coaching-Kontext – nicht an Aufmerksamkeit, denn dem Aufbau agiler Unternehmensstrukturen wird große Bedeutung beigemessen, wenn es darum geht, Antworten auf Herausforderungen wie Volatilität, Komplexität und Unsicherheit zu finden. Dies ist nicht grundsätzlich falsch, bedarf jedoch insbesondere dann einer kritischen Reflexion, wenn Agilität zum Allheilmittel stilisiert, Widersprüche und Gefahren für Unternehmen sowie Mitarbeiter ausgeblendet werden.

14 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2019 am 20.11.2019

Es heißt, durch Globalisierung und Digitalisierung sei die Welt VUCA geworden: volatile, uncertain, complex und ambiguous. Wer ökonomisch erfolgreich sein wolle, müsse daher agil sein. Agil sein heißt: in höchstem Maße anpassungsfähig an sich stetig verändernde Umfeldbedingungen. Zum Glück passe dies zu einem modernen Selbstverständnis des arbeitenden Menschen. Es biete die Möglichkeit, sich von starren Strukturen zu befreien, monotone, fremdbestimmte Arbeit zu überwinden und das kreative Potenzial der Einzelnen zur Entfaltung zu bringen. Unternehmen seien darauf angewiesen, die eigenen Mitarbeiter in ihrer Selbstentfaltung zu unterstützen. Genau darin liege der nächste Wettbewerbsvorteil, der nächste innovative Schub. So oder so ähnlich wird der Einsatz agiler Managementkonzepte begründet, als State of the Art der Unternehmenskultur.

Wir sind da etwas skeptisch. Wir bestreiten nicht die Chancen, die in diesem Konzept sowohl für den Erfolg von Unternehmen als auch für eine weitere Humanisierung der Arbeitswelt liegen können. Doch wie immer, wenn ein Managementtrend sich mechanistisch und schablonenhaft zu verbreiten droht und zum unwidersprochenen Mainstream wird, ist von Seiten von Coaches ein Distanz wahrender, analytischer Blick gefragt.

Widerspruch von völliger Selbstentfaltung bei völliger Anpassung

Agilität ist im Ursprung getrieben vom Erwartungsdruck der Kunden und der Angst vor dem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Der Satz „Der Kunde ist König“ beinhaltet – zugespitzt formuliert – eine Unterwerfung. Während Effizienzsteigerung, Prozessoptimierung und Kostenreduktion noch recht hölzern wirkende und schwer vermittelbare Zustandsbeschreibungen für harten Wettbewerb sind, so verkörpert das Agilitätskonzept die perfekte Geschmeidigkeit, um neue (Wettbewerbs-)Bedingungen als anpassungsnotwendig, alternativlos und sogar attraktiv zu beschreiben (Erlinghagen & Witzel, 2019). Wer will nicht agil, dynamisch, beweglich sein?

In vielen Unternehmen gibt es im Management und in der Mitarbeiterschaft das Bedürfnis, sich von kafkaesken Organisationsstrukturen und Arbeitsprozessen zu befreien. Im Diskurs über Agilität scheint das ursprüngliche Bedrohungsszenario durch diesen Impuls verdrängt zu werden. Agile Methoden gelten als organisationale Basis für die Entfesselung der Dynamik und Innovationskraft der Mitarbeiter. Diese Verschmelzung von Anpassungsdruck und Selbstentfaltungsversprechen kann bewusst oder latent missbräuchlich eingesetzt werden – in ihr keinen Widerspruch mehr zu sehen, ist vielleicht die heimliche Erfolgsstory der Agilität (ebd.).

Ungesunde Aufrechterhaltung dauerhaften Erregungszustands

Agilität als ein ständiges Auf-dem-Sprung-Sein ist keine allen Menschen innewohnende Sehnsucht, zumal das Leben als sich selbst verwirklichender, flexibler, stets positiv gestimmter, effektiver Mensch anstrengend ist. 2010 diagnostizierte der Philosoph Byung-Chul Han eine „Müdigkeitsgesellschaft“ als Ergebnis des Übergangs von einer Disziplinar- zu einer Leistungsgesellschaft: Während die frühere Disziplinargesellschaft – geprägt von Vorgaben und Kontrolle – Verbrecher und Verrückte erzeugt habe, schaffe die postmoderne Leistungsgesellschaft – geprägt von der Affirmation, vom „Yes, we can“, vom Glauben an unbegrenzte Möglichkeiten – Depressive und Versager (Han, 2012, S. 20). Nach Alain Ehrenberg ist der Depressive „erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen“ (ebd., S. 22). Han sieht für die Leistungsgesellschaft die Gefahr eines Übermaßes an Positivität: Der Mensch, der „sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge. […] Das Leistungssubjekt befindet sich mit sich selbst im Krieg. […] Die Depression ist die Erkrankung einer Gesellschaft, die unter dem Übermaß an Positivität leidet.“ (ebd., S. 23–24)

Zum Leben und Arbeiten gehören Pausen, Misserfolge, Schwächephasen, Konflikte, Ängste, Negativität. Sie sind nicht die zu vermeidende Ausnahme, sondern geradezu die Voraussetzung dafür, dass es auch Phasen der Höchstleistung, Kooperation, Erfolge, des Mutes und der positiven Energie geben kann – und umgekehrt. Diesen Zusammenhang zu ignorieren, wäre ein eher kindliches Verhalten. Coaches müssen einen erwachsenen Umgang mit Innovationskraft und Power einerseits sowie Bedrohungen und Ängsten andererseits unterstützen.

Die unsichere Welt

Auch wenn auf den ersten Blick die Idee einer VUCA-Welt voller Unsicherheit plausibel scheint: Ist es nicht so, dass wir in überaus abgesicherten Zeiten leben? Mit Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfälle? Schaut man sich die Faktensammlung „Factfulness“ (Rosling, 2018) an, so ist die Welt auf dem besten Wege, ein immer sichererer Ort zu werden (von den Folgen des Klimawandels abgesehen). Hier und heute sind unsere Tage meist verplant und durchgetaktet. Vielleicht ist es sogar gerade umgekehrt: In einer sicherer gewordenen Welt wächst die Angst vor den verbliebenen Risiken und die Unfähigkeit, mit Unvorhergesehenem, Rückschlägen und Krisen umzugehen (Erlinghagen & Witzel, 2019). Selbst Dauerbelastung und Hektik – so sehr wir darüber klagen mögen – wirken eher stabilisierend als verunsichernd. Wirkliche Verunsicherung tritt ein, wenn wir Zeit zum Grübeln haben (eben z.B. über den Klimawandel). Insofern ist das Postulat der Agilität ein Rettungsanker: Solange ich agil bin, habe ich zu tun und mache nichts „falsch“.

Coaches sollten darauf hinarbeiten, dass Verunsicherungen nicht durch agile Methoden überspielt werden. Ist existenzielle Verunsicherung da, muss diese einen Raum bekommen. Denn Coaches sind gleichermaßen dem Leistungsziel (ökonomischer Erfolg) und dem Humanziel (seelische und physische Gesundheit) in Unternehmen und Organisationen verpflichtet. Gerade aus der Konfrontation mit Verunsicherungen können wirklich disruptive Entwicklungen hervorgehen.

Zugleich muss man aber feststellen, dass mittlerweile scheinbar fest etablierte Konzerne ins Wanken geraten oder verschwinden können, während in kürzester Zeit neue globale Player entstehen. Zudem tauchen neue Bedrohungsszenarien z.B. vor dem Hintergrund des Klimawandels auf, für die noch keine Bewältigungsstrategien gefunden wurden: Es gibt eine diffuse Ahnung, dass es ganz schlimm kommen könnte, aber kein ausreichend starkes unmittelbares Erleben, das zum Handeln veranlasst und klare Richtungen vorgibt. Die Welt für unternehmerische Entscheidungen ist tatsächlich VUCA geworden. Agilität ist hierfür scheinbar ein Patentrezept. Es suggeriert dem Management, dass es durch die Etablierung agiler Strukturen und Prozesse besser gewappnet sei, um mit künftigen Überraschungen umzugehen. Diese Scheinsicherheit erwartet dann ein stets rechtzeitiges Erkennen und Agieren durch die Agilen. Im Falle des unvermeidbaren Scheiterns dieses Ansatzes – jedenfalls als universales Allheilmittel – sind die Ursachen dann schnell ausgemacht: Der Agile wollte dann wohl doch nicht so recht agil sein. Die personifizierte Schuld erleichtert den Entscheidern ihre Ignoranz gegenüber Methodenskepsis und psychosozialen Zusammenhängen. Als Coach muss man es besser wissen, dass auch in agilen Unternehmen „Prognosen schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ (wie Mark Twain gesagt haben soll).

Verantwortungsübertragung ohne unternehmerische Beteiligung

In den Unternehmen herrscht die Sorge, einen Trend zu verpassen und nicht mehr zuverlässig Rendite erwirtschaften zu können. Da ist es überaus funktional, wenn sich die Mitarbeiter diese Unsicherheit zu eigen machen. In der konventionellen Unternehmenskultur wurde und wird dies mit Druck versucht. Heute, auf der nächsten Stufe der Internalisierung von ehemals äußeren Abhängigkeitsverhältnissen, geschieht das subtiler. Nicht mehr nur der Unternehmer fühlt sich verantwortlich für die Anpassungsfähigkeit seiner Organisation, sondern alle – ohne dass sich an den Beteiligungsmöglichkeiten am unternehmerischen Profit und den sich daraus ergebenden Verantwortlichkeitsstrukturen etwas ändert (Erlinghagen & Witzel, 2019). Der frühere Konsens zwischen Unternehmer bzw. Management und Belegschaft wurde einmal treffend durch einen Betriebsrat eines größeren Konzerns als Anforderung an die Unternehmer formuliert: „Ihr macht uns satt und wir machen Euch dafür reich.“ Dieser Konsens scheint aufgekündigt. Im Extremfall bis hin zu einem wertebefreiten Management, welches nicht mehr führt bzw. verantwortet, sondern nur noch verwaltet.

Agilität ist hierfür ein verlockendes mentales Konzept, in dem sich unternehmerische Notwendigkeit mit gesellschaftlichen Trends verschmelzen lässt. Anstelle einer konkreten Wettbewerbs- und Organisationsanalyse mit realistischen Veränderungsperspektiven tritt der eigene Verantwortlichkeiten und gelegentlich leider auch führungstechnische Inkompetenzen verschleiernde Appell des „jetzt-seid-ihr-auch-mal-gefordert“; die unternehmerische Angst verschmilzt mit der individuellen Angst der Arbeitnehmer, selbst nicht hip, kreativ, flexibel genug zu sein und zum alten Eisen zu gehören (ebd.).

Das Mehr an gestalterischer Partizipation der Arbeitnehmer ist durchaus kritisch zu betrachten: Wie frei ist die Entfaltungsmöglichkeit real? Bleibt es am Ende dabei, dass Wünsche und Befähigungen zur Mitverantwortung instrumentalisiert und damit abgewertet werden? Nur die direkte unternehmerische Beteiligung als Kompensation für dieses Mehr an Input, Lebenszeit und Risikotragung wäre die logische Konsequenz aus einem solchen Anspruch – und gleichzeitig seine einzige wirkliche Legitimation (ebd.). Diese Dimension wird in der Diskussion aber so gut wie nie abgebildet.

Sinnstiftung, Führungspersönlichkeit und Struktur

Agile Organisationen sollen laut Theorie alles daran setzen, ihren Mitarbeitern einen Rahmen zu schaffen, in dem diese ihre ganze Kraft entfalten können und wollen. Deshalb stellt sich für sie verstärkt die Frage nach dem Sinn ihres Tuns. Denn die Aktivierung des ganzen Potenzials der Mitarbeiter setzt voraus, dass diese ihre Arbeit nicht als Job, sondern tendenziell als Berufung sehen. Also muss der Ruf formuliert werden. Hier kommt z.B. Simon Sinek ins Spiel mit einem Vorschlag zur – man könnte fast sagen: universellen – Sinnstiftung: „What if we show up to work every day simply to be better than ourselves? What if the goal was to do better work this week than we did the week before … for no other reason than we want to leave the organization in a better state than we found it?“ (Sinek, 2009, S. 224)

Viel Pathos. Wer darf sich bei einer solchen emotionalen, fast schon spirituellen Aufladung eines Anstellungsverhältnisses gegen die Aufforderung stellen, sich doch bitte noch persönlicher mit den Leistungszielen der Organisation zu identifizieren, ohne Missbilligung Dritter befürchten zu müssen? Die Synthese unternehmerischer Anforderungen mit individueller Selbstentfaltung setzt potenzielle Kritiker schachmatt. Sinnstiftung ist schon der richtige Weg, wenn man unterstellt, dass Sinn nicht durch pure Deklamation erzeugt, sondern sich erst durch konfirmatorische Wahrnehmung der Betroffenen entfaltet.

Entsprechend haben haltgebende Führungspersönlichkeiten in Unternehmen, die auf dem Weg in Richtung Verwirklichung agiler Prinzipien weit fortgeschritten sind, einen hohen Stellenwert. Als Sinnstifter, Projektionsfläche und Integrationsfiguren auf der normativen Ebene sind sie enorm wirkungsmächtig, sorgen für Bindung und bleiben vermutlich unverzichtbar. Zudem wird bei allen neuartigen Managementansätzen eine Rolle der Führenden immer im Containment – im Halten und Absorbieren von Unsicherheiten vor ihren Mitarbeitern – liegen. Kurz gesagt, es braucht hochalimentierte Führungskräfte, weil es permanente Krisen und Unsicherheiten gibt, die mit hoher Risikobereitschaft und Kaltschnäuzigkeit zu bewältigen sind. Agilität braucht starke, (Ur-)Vertrauen ausstrahlende und ermutigende Führung, um nicht zur reinen Fassade zu degenerieren (Erlinghagen & Witzel, 2019). Außerdem gilt: Hierarchien sind nicht per se von Übel. Hierarchien können Klarheit schaffen, Verantwortlichkeit regeln, für schnelle Entscheidungen sorgen. Coaches müssen die differenzierte Reflexion der Rolle und Struktur von Führung unterstützen.

In diesem Sinne legen viele der ausgefeilteren agilen Konzepte hohen Wert auf die Einhaltung von Verfahren. Man denke an das Time-Boxing-Prinzip und die Regelmäßigkeit von Meetings im Scrum oder die Betonung klarer Rollenbeschreibungen und Wenn-dann-Entscheidungsbäume im Holacracy-Ansatz. Neben haltgebender personeller Führung können solche Regeln ebenfalls eine wichtige Grundlage für Agilität bilden. Der Anteil von „Organisation“ im Wort „Selbstorganisation“ darf nicht unterschätzt werden. Coaching muss um das psychische Wechselspiel zwischen Innovationsbereitschaft, Offenheit, Neugier und dem Bedürfnis nach Sicherheit, Struktur und Halt wissen und darauf hinarbeiten, dass beides gewährleistet ist.

Das Prinzip „one size fits all“

Stephan Fischer bietet für die Entwicklung agiler Organisationen ein Modell an, in dem Unternehmen nach Reifegraden unterschieden werden (Eireiner et al., 2018). Damit suggeriert er, es gebe einen notwendigen Entwicklungsverlauf, ähnlich wie in der Persönlichkeitspsychologie. Ob agile Prinzipien zum Einsatz kommen sollten, ist allerdings keine Frage der Reife, sondern der Zweckmäßigkeit. Der Einsatz agiler Methoden und Strukturen ist für manche Unternehmen absolut passend. Problematisch werden Managementkonzepte immer dann, wenn sie nach dem Prinzip „one size fits all“ verwendet werden.

Hinzu kommt, dass viele Unternehmen, z.B. lokal verankerte und global erfolgreiche Mittelständler, seit Jahrzehnten agil handeln, ohne dies jemals so zu nennen. Kurze Wege, schnelle Entscheidungen, Nähe am Markt, das sind nicht erst seit gestern Erfolgsfaktoren für Unternehmen. Wobei es gerade Mittelständlern oft gut gelingt, durch Bodenständigkeit und eine bewusst gepflegte Firmentradition die Balance zwischen Bewahren/Stabilität und Verändern/Agilität zu halten.

Die „Jugendlichkeit“ agiler Konzepte

Im Diskurs der Protagonisten agiler Konzepte fällt ein jugendlicher Sprachgebrauch auf, der Leichtigkeit vermittelt. Diese Leichtigkeit wird z.B. auch beim „Delegation Poker“ eingesetzt, einem bekannten agilen Tool, mit dem in Teams die Diskussion über die Frage, wie Führungsentscheidungen zustande kommen sollen, angeregt werden kann. Es kann wie Poker als Kartenspiel gespielt werden und die Metakommunikation ermöglichen. Und tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass mit einem spielerischen Zugang potentiell konfliktträchtige Fragen entpersonalisiert und versachlicht werden können. Hier bieten agile Methoden einen reichen Fundus. Zugleich zeigt die Erfahrung aber auch, dass dies nur dann gelingt, wenn die Ernsthaftigkeit, die in den bearbeiteten Fragen liegt – Macht, Autorität, Neid, Kränkung usw. – nicht überspielt wird, wozu gerade ein unverbindlicher, jugendlicher Sprachgebrauch und zu große Leichtigkeit verleiten können.

Agilität ist nicht nur sprachlich, sondern auch biografisch meist mit der Phase der Jugend und des jungen Erwachsenenlebens verbunden. Es gilt als Privileg der Jugend, Neues auszuprobieren und Altes in Frage zu stellen, sich (noch) nicht festlegen zu müssen. Bis vor einigen Jahren galt es als Privileg des Alters, zur Ruhe zu kommen. Heute gilt das Postulat des lebenslangen Lernens. Hierzu schreibt der Hirnforscher Gerhard Roth: „Ohne jegliche wissenschaftliche Begründung wird davon ausgegangen, dass Menschen ein Leben lang in ihren Persönlichkeitsmerkmalen gleichmäßig formbar sind, neues Wissen erwerben und neue Fertigkeiten erlernen können.“ (Roth, 2018, S. 261) Und er fügt hinzu, dass lebenslanges Lernen neueren Studien zufolge weniger an nachlassenden kognitiven Fähigkeiten scheitere, sondern an motivationalen. Es passt einfach nicht in die biografische Situation, und zwar besonders dann nicht, wenn es an Respekt vor Lebensleistungen mangelt und die Sorge im Vordergrund steht, aufs Altenteil geschoben zu werden. Coaches müssen also damit arbeiten, dass Agilität für unterschiedliche Menschen unterschiedliches bedeutet.

Agilität letztlich nur Verkaufsmarketing?

Der Erfolg der Agilitätswelle hält Coaches den Spiegel vor. Vieles, was derzeit als (neue) agile Methode dargestellt wird, hat bereits eine lange Tradition. Coaches müssen sich fragen, wieso nicht an diese Tradition angeknüpft, sondern ein bewusster Bruch vollzogen wird? Letzteres hat sicher etwas damit zu tun, dass es grundsätzlich dem Verkauf eines Konzeptes dient, wenn es als „neu“ bezeichnet wird. Derzeit wird etwa der „Systemische Coach“ allmählich durch den „Agilen Coach“ verdrängt, ohne dass ganz klar wäre, wo eigentlich die Unterschiede liegen. Doch das allein ist es nicht: Nach Einschätzung der Autoren sitzen Coaches, die sich der kritischen Reflexion der Arbeitsbedingungen und Organisationsentwicklung verpflichtet fühlen, in Bezug auf das Konzept der Agilität ein wenig zwischen den Stühlen.

Auf der einen Seite stehen Unternehmen, die klassisch ökonomisch erfolgreich sein müssen und nur zu diesem Zweck auf der Welle Agilität reiten (Erlinghagen & Witzel, 2019). Der Deutsche Bundesverband Coaching e.V. schreibt in einem Positionspapier: „[…] agile Konzepte [sind] Mode geworden und drohen durch fortschreitende ‚Vertoolung‘ ihres eigentlichen Potenzials beraubt zu werden.“ (DBVC, 2018, S. 1) Von dieser Seite werden Begriffe okkupiert und teilweise umgedeutet. Hier heißt es, für Klarheit zu sorgen und Position zu beziehen.

Auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die sich vorrangig dem Humanziel verschreiben und dennoch Beratungs- und Coaching-Angeboten ausgesprochen reserviert gegenüberstehen. Zu ihrem Konzept der Selbstentfaltung gehört ein ausgesprochenes Selbstbewusstsein und eine gehörige Portion Abneigung gegenüber externen Ratgebern, zu denen – ob zu Recht oder Unrecht – auch Coaches gezählt werden (Erlinghagen & Witzel, 2019).

Allerdings: In der Lücke zwischen den Stühlen gibt es auch Unternehmen, die keine Patentrezepte sondern ernsthafte Auseinandersetzung suchen. Konzepte regen an zur Unterschiedsbildung und verstellen zugleich den Blick auf das Konkrete. Coaches sollten sich weder durch das Konzept der Agilität noch durch irgendein anderes Konzept davon abbringen lassen, genau hinzuschauen und die spezifische Situation begreifen zu wollen.

Literatur

  • DBVC (2018). DBVC-Positionspapier 02 „New Work und Agilität“. Abgerufen am 12.09.2019: www.dbvc.de/_Resources/Persistent/cd9f959fd1a6d02d953024ca19f0d5e60f9e6507/DBVC_Positionspapier02_Pra%CC%88sidium%20-%202017_10_19_final.pdf.
  • Eireiner, Cathrin; Fischer, Stephan & Weber, Isabel (2018). Wissenschaftliche Grundlagen für ein agiles Reifegradmodell. In André Häusling (Hrsg.), Agile Organisationen (S. 27–45), Freiburg: Haufe.
  • Erlinghagen, Robert & Witzel, Rainer (2019). Jetzt seid ihr dran: Über Agilität. Positionen, 1, S. 1–8.
  • Rosling, Hans (2018). Factfulness. 2. Aufl., Berlin: Ullstein.
  • Roth, Gerhard (2018). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. 13. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Sinek, Simon (2009). Start with why. How great leaders inspire everyone to take action. New York: Portfolio/Penguin.

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