Unter digitaler Transformation wird hier die zielorientierte Verbesserung von Systemen zur Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit unter Nutzung digitaler Technologieinnovationen verstanden. Für die Entwicklung eines Coaching-Konzepts zur Begleitung komplexer Digitaltransformationen soll im Folgenden in drei Schritten vorgegangen werden. Zunächst wird ein Überblick über Besonderheiten digitaler Transformationsprojekte gegeben. Daraus leiten sich im zweiten Schritt anhand der Erläuterung exemplarischer Spannungsfelder einige operative Managementherausforderungen ab. Darauf aufbauend wird im dritten Schritt vor dem Hintergrund der Systemtheorie ein Rahmenwerk für das Coaching von Projektleitungen für die Einführung von Digitalinnovationen diskutiert.
Die Besonderheiten der digitalen Transformation werden in Abbildung 1 umrissen. Die wesentliche Herausforderung ist, dass der Transformationsprozess mitgedacht und geplant werden sollte, noch bevor das eigentliche Digitalisierungsprojekt gestartet wird. Denn eine effiziente Durchführung setzt eine klare Digitalisierungsstrategie voraus, die aus den Kundenbedürfnissen abgeleitet wird. Für diese Strategieentwicklung sind bereits Systeme und Fähigkeiten zur Datenanalyse notwendig, insbesondere zu Customer-Insights-Analysen. Das Besondere an Digitalisierungsprojekten ist, dass Technologie von Anfang an im Projektmanagement eingesetzt werden muss.
Transformationsmanagement ist vor diesem Hintergrund das permanente Balancieren zwischen Technologie, Psychologie und Systemdenken. „Systeme“ sind als allgemeine Theorie zu verstehen und hier ist eine wichtige Perspektivenerweiterung notwendig: Wenn im Coaching von „systemisch“ gesprochen wird, ist in der Regel die Theorie sozialer Systeme gemeint. Aus Abbildung 1 sollte aber deutlich werden, dass der Systembegriff in der Ära der Digitalisierung weit mehr umfasst: Psychische Systeme, Organisation als System und Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz (KI), die als neuronale Netze ebenfalls Eigenschaften sich selbst steuernder Systeme aufweisen (Lenz, in Druck).
Für den Moment kann festgehalten werden, dass bei komplexen Digitalisierungsprojekten mehrere interne und externe Stakeholder koordiniert werden müssen, u.a. deshalb, weil in der Regel mehrere externe Unternehmensberatungen gleichzeitig tätig sind und interne Bereiche – mit häufig sehr unterschiedlichem Wissensstand bezüglich Digitalisierung – mitwirken. Außerdem ist es für ein effektives Projektmanagement unabdingbar, dass vor Projektbeginn eine Digitalstrategie formuliert wird, aus der ein Geschäftsprozessmodell abgeleitet wird. In der Praxis kommt es immer wieder zu Verzögerungen und Mehrkosten, weil unvollständige und fehlerhafte Geschäftsprozesse irgendwie in die neue Applikation hineingepresst werden. Zusätzliche Projektkomplexität entsteht durch die erheblichen technologischen Anforderungen, von der Neukonzeption der IT-Infrastruktur, über das zielorientierte Entwickeln und Trainieren der KI bis hin zu IT-Tools, die z.B. den automatisierten Rollout der neuen Anwendung steuern.
Der Blick richtet sich nun auf einige Managementherausforderungen, die bei solchen Projekten an der Tagesordnung sind. Diskutiert werden diese Herausforderungen anhand exemplarischer Spannungsfelder, denen sich das Projektmanagement komplexer Digitalisierungsprojekte gegenübersieht und die vor dem Hintergrund der Systemtheorie beleuchtet werden. Solche Spannungsfelder entstehen durch die Differenz von hoher Umfeld-Komplexität eines Systems und der zu starken Eigentrivialisierung der Komplexität innerhalb des Systems. Die Handlungsmöglichkeiten eines Systems, die sogenannte Eigenvarietät, kann mit Hilfe von Digitalisierung gesteigert werden. Dadurch wird eine erhöhte Varietät des Umfelds, z.B. steigende Kundenanforderungen, bewältigt. In der Komplexitätstheorie ist dieser Sachverhalt als Ashby’s Law bekannt. Allerdings besteht aufgrund der beschriebenen technologischen Komplexität von Digitalisierungsprojekten die Gefahr des Entstehens einer systeminternen Überkomplexität. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn die User zusätzliche Softwarefeatures nachfordern und von der Projektleitung solche Nachforderungen unreflektiert übernommen werden.
Dieses Spannungsfeld ist tägliche Praxis in fast allen Projekten. Die Projektleitung hat die Verantwortung für die zeit-, sach- und budgetgerechte Lieferung des Projektoutputs, ohne über formale Sanktionsmacht zu verfügen. Das kann insbesondere in Organisationsstrukturen mit einer Überbetonung der formalen Hierarchie zum Problem für die Projektleitung werden. Dabei besteht das Risiko, dass sich nicht die beste fachliche Lösung durchsetzt, sondern die Lösung, die in dem internen Machtgefüge als sogenannter Kompromiss ausgehandelt wird. Das kann bis hin zum vorzeitigen Projektabbruch reichen. Macht- und Einflussnahme sollte im Coaching reflektiert und hinsichtlich der Unterstützung bzw. Behinderung des Projekterfolgs untersucht werden. Strategien der zielorientierten Einflussnahme sind zu bedenken.
Beziehungen innerhalb eines Systems bzw. mit dem Systemumfeld lassen sich kategorisieren in, wie es Luhmann nennt, Kommunikationen oder Kommunikationsinterakte. Der Autor verwendet hier die Begriffe „Kommunikation“ als Austauschbeziehungen und „Interaktion“, d.h. ein unmittelbares Einwirken auf Systemelemente durch Entscheidungen oder Regulierung.
Wie ein Deep-learning-KI-System die Ergebnisse ermittelt, ist eine Blackbox. Weder die Softwareentwickler noch die Anwender können die Entstehung des Outputs von außen nachvollziehen (Lenz, 2021). Dieser technologische Aspekt hat erhebliche Auswirkungen auf die Mensch-Maschine-Interaktion (Lenz, 2020) Der Mensch müsste Vertrauen gegenüber der KI aufbauen können. Im Coaching wäre dann herauszuarbeiten, wie es Projektleitungen gelingt, diese Haltung sowohl im eigenen Projektsystem als auch bei der Implementierung der Anwendung innerhalb des Gesamtunternehmens zu entwickeln.
Interaktionsbeziehungen müssen über die einzelnen Projektphasen hinweg sorgfältig gestaltet werden. Nach den Erfahrungen des Autors kreisen fast alle Anliegen im Projektleitungs-Coaching um die Frage wirkungsvoller Kooperationsbeziehungen. Wie kann die Projektleitung die Kooperation innerhalb des Projekts sowie mit den relevanten Umfeldsystemen gestalten? Wegen der zentralen Bedeutung der Kooperationsbeziehungen wird auf dieses Spannungsfeld etwas ausführlicher eingegangen.
Projektleitungen interagieren in und mit drei Systemen (siehe Abb. 2). Da ist zunächst das Projektsystem. Es besteht aus der Projektorganisation einschließlich der systeminternen Partner. Darin eingeschlossen sind Interaktionspartner, die nicht zur formalen Unternehmensorganisation gehören, wie z.B. Unternehmensberatungen. Das Projektsystem besteht außerdem aus den inhaltlichen Workstreams (WS), die in dem Projekt bearbeitet werden. Häufig geschieht das in einzelnen Teilprojekten. WS sind z.B. Softwareentwicklung, Testing, Complaint Management usw. Auch das digitale Subsystem (DS) ist als Interaktionspartner im System anzusehen. Als DS wird die Gesamtheit der Datenstrukturen und Applikationen bezeichnet, die in dem Digitalisierungsprojekt entwickelt werden. Der Zusammenhang der Abbildungen 1 und 2 ist wie folgt: Die Projektleitung (PL) sorgt für die Interaktionen innerhalb des Systems und mit dem Umfeld. Die dabei zu koordinierenden Projektaktivitäten sind in Abbildung 1 dargestellt. Dabei ist die Unternehmens-Digitalisierungsstrategie als Rahmenbedingung für die PL zu verstehen.
Das Projektsystem interagiert mit zwei Umfeld-Systemen. Als Umfeld 1 wird das Unternehmen bezeichnet, innerhalb dessen die digitale Transformation stattfindet. Dabei kann es sich um rein interne Kunden (IK 2) handeln und um interne Kunden, die ihrerseits unternehmensexterne Kundenbeziehungen aufweisen (IK 1). Die unternehmensexternen Systemelemente wie z.B. Endkunden und Lieferanten bilden das Umfeld 2.
In diesem Beitrag geht es um Coaching für die Projektleiterin bzw. den Projektleiter. Deshalb sind nur Interaktionsbeziehungen der PL eingezeichnet. Durchgezogene Linien repräsentieren die Kommunikationen, die diese direkt gestaltet. Die unterbrochenen Linien zeigen die durch die PL veranlassten automatisierten Kommunikationen der IT-Systeme. Darunter sind z.B. Datenanalysen, Vorhersagemodelle und Entscheidungsunterstützungs-Informationen zu verstehen. Besondere Relevanz haben diese Interaktionen, falls das Digitalisierungsprojekt auch die Implementierung von Anwendungen Künstlicher Intelligenz umfasst, was heute die Regel ist.
Zwei Kategorien von Interaktionen sind zu unterscheiden: horizontale Interaktion zur Koordinierung der Systemelemente und vertikale Interaktion zu(m) Steuerungssystem(en). Internes Steuerungssystem (IS) sind alle Systemelemente, die eine regulatorische Vorgabe im Sinn einer formalisierten Macht- und Einflussnahme auf das Digitalisierungsprojekt machen können. Dazu zählen u.a. eine Projektsteuerungsgruppe, vorgesetzte Führungskräfte oder das Unternehmenscontrolling.
Sich selbst organisierende Systeme reduzieren durch interne Ordnungsbildung die Komplexität des Umfelds. Digitalisierung unterstützt die systeminterne Ordnungsbildung. Deshalb stellen Klientinnen und Klienten im Coaching häufig die Technologie- und Systemperspektive in den Mittelpunkt. Vordergründig scheint es (nur) um Organisations- und Prozessdesigns oder andere, rein sachlich-kognitive Fragen zu gehen. Dabei kann ein wichtiger Umstand übersehen werden, der als Castells Paradox bezeichnet wird (Castells, 2010): Je mehr Arbeit in digital vernetzten Systemen stattfindet, desto höher (nicht niedriger!) sind die Anforderungen an die menschliche Kommunikation. Ein Coaching vor dem Hintergrund automatisierter Prozesse und digitaler Dashboards muss also die möglicherweise in den Hintergrund getretenen Grundprinzipien menschlicher Interaktion wieder in die ihnen zukommende Bedeutung holen. Im (HR-)System wäre z.B. zu reflektieren, wie die Ergebnisse einer im Recruiting eingesetzten KI zustande gekommen sind und wie sie intuitiv auf ihre Stimmigkeit beurteilt werden können. Mit anderen Worten: Den Ergebnissen einer KI wird erst durch menschliche Interaktion Sinn verliehen. Unter „Sinn“ wird in diesem Zusammenhang das situationsgerechte Balancieren der oben beschriebenen Spannungsfelder verstanden, in der Art, dass durch die Balance eine sich selbst erneuernde Weiterentwicklung des Systems gefördert wird.
Im Coaching von Projektleitungen sollten die Pfeile in der Abbildung 2 bearbeitet werden. Als wissenschaftliches Modell, das dem Projektleitungs-Coaching zugrunde liegt, hat sich nach den Erfahrungen des Autors die Kombination aus gestalttherapeutisch- und systemtheoretischorientiertem Vorgehen bewährt. Folgender Rahmen für das Coaching wird vorgeschlagen, wobei die Phasen der Kontaktherstellung und der Klärung des Anliegens als bereits abgeschlossen angesehen werden.
Der Einstieg in den Coaching-Prozess erfolgt mit gestaltorientierten Fragestellungen, wie die Projektleiterin bzw. der Projektleiter die Komplexität des Digitalisierungsprojekts wahrnimmt und verarbeitet. Dazu gehört auch die Frage, wie sich die Projektleitung von den vielfältigen, oft widersprüchlichen Anforderungen des Umfelds abgrenzt, um eine Eigenstabilität zu erreichen, die für reflektierte Entscheidungsfindung notwendig ist. Damit nimmt sich die Projektleitung als sich selbst organisierender Organismus wahr. Der gestaltorientierte Einstieg in das Coaching schafft die Grundlage, sich nicht als Getriebene/r zu sehen, sondern die Interaktionsbeziehungen aktiv gestalten zu können und dadurch die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
In der nächsten Phase des Coaching-Prozesses schließt an das gestaltorientierte Vorgehen das systemische Arbeiten an. Die Analyse der Systembeziehungen, in die die Projektleiterin bzw. der Projektleiter eingebunden ist, kann mittels Flipchart oder idealerweise mittels einer Aufstellung auf dem Systembrett erfolgen. Die Untersuchung der Interaktionsbeziehungen zu den Teilprojekten bzw. Workstreams (WS) fällt in der Regel relativ leicht. Komplexer ist die Betrachtung der direkten Interaktion mit dem digitalen Subsystem (DS) und den indirekten Kopplungen vom DS mit den beiden Umfeldsystemen. Die Entscheidungen der Projektleitung (PL) beeinflussen diese in Abbildung 2 gepunktet dargestellten Linien, lassen sich aber nicht in allen Einzelheiten vom Projekt steuern. Beispielsweise wird durch das zum Einsatz kommende maschinelle Lernverfahren der KI (durchgezogene Linie von PL zu DS) die Interaktion mit den internen und externen Kunden (gestrichelte Linien) durch die KI autonom gestaltet. Die Projektleitung ist aber dem internen Kontrollsystem (IS) berichtspflichtig, ohne alle Interaktionsbeziehungen überblicken zu können. Im Coaching sollte diese inhärente Unsteuerbarkeit thematisiert werden, indem die Coping-Strategie der Projektleiterin bzw. des Projektleiters im Hinblick auf die Unsteuerbarkeit, ja sogar die Nicht-Nachvollziehbarkeit des Systemoutputs, reflektiert wird.
Die Klientin bzw. der Klient wird sich in der anschließenden Lösungsphase auf die Suche nach funktionalen Coping-Strategien für die erläuterten Spannungsfelder machen. Das Experimentieren mit neuen Vorgehensweisen – bis hin zu einer sinnvollen Abweichung von bestehenden Regeln (Lenz, 2019) – kann hilfreich sein. Eine Bewältigungsstrategie kann unterstützt werden durch frühzeitige, systematische Kommunikation mit den relevanten Umwelten des Projektsystems (Pfeile in Abbildung 2 zu den Grenzen der beiden Umwelten).
Als Coach gilt es, mindestens drei Perspektiven im Auge zu behalten und der Klientin bzw. dem Klienten in der Lösungsfindung ein dynamisches Oszillieren zwischen diesen Perspektiven zu ermöglichen:
Will man als Coach mit der Anwendung dieses Coaching-Konzepts experimentieren, ist eine inhaltliche Anschlussfähigkeit an das Thema Digitalisierung unabdingbar, ebenso fundierte Kenntnisse der Gestaltpsychologie und der Allgemeinen Systemtheorie. Die Begleitung von Klientinnen und Klienten bei der Umsetzung des Megatrends „Digitalisierung“ ist eine anspruchsvolle, aber äußerst inspirierende Coaching-Aufgabe.