Ethik

Coaching in disruptiven Veränderungsprozessen. Teil 1

Neuorientierung in Transformationsprozessen

9 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 01 | 2019

Es geht ein Raunen durch die Businesswelt: Disruption! Wahlweise in Zusammensetzungen wie persönliche Disruption oder disruptive Geschäftsmodelle. Auf den ersten Blick nichts Neues für Coaches, geht es doch offenbar schon immer um Perspektivenwechsel und Neuorientierung. Im folgenden Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass Coaching sich deutlich weiterentwickeln sollte. Es werden Chancen aufgezeigt, die sich mit der Neuorientierung eröffnen können.

Transformationsprozesse in Unternehmen stehen angesichts des exponentiellen Wandels im Zeitalter der Digitalisierung selbst in Veränderung: Aufgrund der technologischen Entwicklung können neue Wettbewerber, auch ohne eine umfangreiche Infrastruktur aufzubauen, in scheinbar etablierte Märkte eindringen. Fintechs, die etablierte Banken durchrütteln, oder Dienstleister, die komplette Mobilitätskonzepte liefern, sind Beispiele für disruptive Geschäftsmodelle. Unter Disruption versteht man, dass ein innovativer, durchaus branchenfremder, Anbieter eine bisher nicht erkannte Nachfrage befriedigt und von dieser „Underdog“-Position in den Mainstream-Markt eindringt. Disruption ist also kein großer Knall, sondern ein Prozess. Dieser Prozess kann heute aber sehr schnell ablaufen, weil die Markteintrittskosten durch Digitalisierung deutlich gesunken sind.

Wie können Unternehmen frühzeitig eine Antwortfähigkeit auf Disruption ihres Geschäftsmodells entwickeln und welche Auswirkungen auf Coaching-Konzepte sind zu berücksichtigen? Und umgekehrt: Welche Coaching-Anliegen können sich bei einem innovativen Disruptor ergeben? Der erste Teil dieses Beitrags konzentriert sich auf Perspektiven im Coaching für diejenigen, die von Disruption betroffen sind. Im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf die Angreifer etablierter Geschäftsmodelle.

VUKA als Kontext im Business-Coaching

Die Transformationsprozesse, die in Gesellschaft und Unternehmen stattfinden, weisen vier Dimensionen auf: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität. Für jede der vier VUKA-Dimensionen, die üblicherweise alle gleichzeitig vorliegen, sind unterschiedliche Bewältigungsstrategien möglich (Lenz, 2019). Deshalb verfolgen Organisationen in sich gegensätzliche Veränderungsprozesse, die aber parallel ablaufen (Doppler et al., 2017). Beispielsweise werden agile Netzwerke etabliert; gleichzeitig gibt es Effizienzsteigerungsprogramme in der bestehenden Strukturorganisation.

Im Kontext von VUKA und der Digitalisierung sind organisationsintern wie -extern hohe Unsicherheiten, jederzeitige Bedrohung durch disruptive Entwicklungen bei mehrdeutigen und widersprüchlichen Zielen zu erwarten. Solche multiplen Transformationen mit der damit einhergehenden Unsicherheit und Ambiguität führen dazu, dass Individuen die notwendige Orientierung und Stabilität vermissen.

Bewusst oder auch unbewusst greift die Erkenntnis, dass erfahrungsgeleitete Assimilation als Reaktion auf disruptive Veränderungen nicht mehr ausreicht. Stattdessen ist Akkommodation notwendig, die Entwicklung einer neuen Sichtweise über das Funktionieren der Welt (Sulz et al., 2013). Geringere Stabilität, Orientierungsverlust und die Erkenntnis, vergangene Erfolgsmuster verändern zu müssen, führen zu einem erhöhten psychischen Stressempfinden (Starker & Peschke, 2017).

Möglicherweise sind wir hier auf einen Unterschied zu bisherigen Veränderungsprozessen gestoßen. Komplexe Veränderungen sind schon immer nichtlinear und vielschichtig. Zur Lösung neuartiger Probleme konnte im Change-Management häufig auf Neukombination persönlicher Erfahrungen aufgebaut werden. Individuelles Führungsverhalten musste dabei schon immer an neue Situationen adaptiert werden, und die Veränderungsprozesse gingen in der Regel mit einem erhöhten Stresspegel einher. Letztlich handelte es sich bei diesen Entwicklungen fast immer um Assimilation.

Bei Entscheidungsdilemmata aufgrund widersprüchlicher, für sich genommen aber richtiger Ziele, bei gleichzeitiger hoher Unsicherheit aufgrund jederzeit möglicher Disruption sowie der Notwendigkeit zur schnellen Anpassung tritt die häufig bittere Erkenntnis ins Leben, dass die bisherigen Erfolgsmuster am Ende sind. Neue Handlungsstrategien sind noch nicht erschlossen. Akkommodation erfordert aber, rational und emotional Abschied zu nehmen von bisherigen Bewältigungsstrategien.

Fünf Entwicklungsrichtungen für Coaching in disruptiven Veränderungsprozessen sind denkbar. Sie werden hier in Hypothesenform zur Diskussion gestellt.

Agiles Coaching kann ein Irrweg sein

Hofert (2018) ist zuzustimmen, dass agiles Coaching mitunter seitens der Auftraggeber als wohlfeile Begründung verwendet wird, um das bisherige Effektivitätsparadigma unbeirrt weiterzuverfolgen. Agiles Coaching ist eben noch kein in sich geschlossenes Theoriekonstrukt. Dies kann man an der Frage reflektieren, was eigentlich das Gegenteil von agilem Coaching ist. Kann man das Gegenteil eines Begriffes nicht einvernehmlich bezeichnen, ist der Begriff an sich ebenfalls unklar. Es besteht das Risiko, dass dysfunktionale Bewältigungsstrategien sogar noch stabilisiert werden, wobei das Gegenteil der eigentlich angestrebten „Agilisierung“ erreicht wird.

Sich als „agiler Coach“ im Markt zu positionieren, kann vordergründig erfolgreich sein. Man befriedigt die Nachfrage nach schnell wirksamen Tools, möglicherweise ohne die Grundannahmen zu hinterfragen, die die persönliche und organisatorische Starrheit aufrechterhalten. Reifung von Person und Organisation bei der Bewältigung von Disruption werden nachhaltig verhindert. Ein derart unprofessionell agierender Coach verschärft das Problem des Klienten, anstatt es lösen zu helfen. Die Positionierung als agiler Coach erfordert gerade wegen der Unschärfe des Begriffs eine eindeutig geklärte Haltung, die klar kommuniziert werden sollte.

„Schulen-übergreifende“ integrative Arbeit wird wichtiger

Wie in der Psychotherapie bereits seit Jahren vollzogen, sollte sich auch das Coaching von einer einzelnen theoretischen „Schule“ wegbewegen und zu integrativen Konzepten gelangen. Kriz (2018) zeigt am Beispiel des Personenzentrierten Ansatzes von Rogers eindrucksvoll, dass für die Anwendung der Personenzentrierten Gesprächstherapie auch systemische Elemente wie z.B. Interpunktion oder Triangulation hilfreich bzw. notwendig sind. Diese Gedanken gelten für Coaching generell, da – beispielsweise – durch systemisches Coaching alleine keine nachhaltige Bearbeitung komplexer Anliegen, insbesondere auf der intrapersonalen Ebene, zu erwarten ist.

Umso mehr scheint in dem skizzierten VUKA-Kontext die Herausforderung darin zu liegen, unterschiedliche Coaching-Konzepte in geeigneter Form zu kombinieren. Dabei können Ansätze der Gestalttherapie für die Weiterentwicklung von Coaching hilfreich sein. In sogenannten Experimenten werden Verhaltensweisen im Hier und Jetzt ausprobiert, die zur Reifung einer Figur vor ihrem Hintergrund führen (Perls et al., 2016). Der individuelle Umgang mit Brüchen und Disruption kann in solchen Experimenten in einer sicheren Umgebung durchgespielt werden.

Diese sicherlich unvollständigen Facetten integrativen, schulen-übergreifenden Coachings bedeuten erhebliche Anforderungen an Coaches und auch an Coaching-Weiterbildungen. Dazu zählt die Bereitschaft der Ausbildungsinstitute, von der – mitunter fast dogmatischen – Überzeugung der „Richtigkeit“ der eigenen Konzepte wegzugehen und sich stärker mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Wirksamkeitsforschung im Coaching zu befassen.

Coaching muss mehrere Ebenen wirksam verbinden

Die Disruption eines Geschäftsmodells durch externe Umstände oder neue, überraschende Wettbewerber betrifft naturgemäß die gesamte Organisation. Das Konstrukt „Organisation“ kann aber in sich keine Antwortfähigkeit auf einen äußeren disruptiven Impuls geben. Das kann nur durch Repräsentanten der Organisation, also Personen und Teams, geleistet werden. Interventionen und deren Begleitung durch Coaching müssen also an mehreren Ebenen ansetzen und sind in ein Gesamtkonzept zu integrieren.

Mit seinem Konzept der Personenorientierten Systemtheorie legt Kriz (2017) einen Vorschlag für ein solches integratives Konzept vor. Er unterscheidet vier Ebenen: Organismus, Psyche, interpersonelle Ebene, gesellschaftlich-kulturelle Ebene. Organismus und Psyche sind die Ansatzpunkte des Einzel-Coachings, Teams und Organisationen lassen sich mit interpersonellem Coaching, also z.B. Team-Coaching, abbilden. Die kulturelle Ebene steht für den Kontext, mit dem das System interagiert. Um neue Muster zur wachstumsfördernden Bewältigung einer Disruption zu entwickeln, sind Interventionen auf allen Ebenen gleichzeitig notwendig. Coaches sind gefordert, das Setting des Einzel-Coachings um Team- und Organisations-Coaching zu erweitern. Hier zeigt sich die Notwendigkeit für integrierte Coaching-Programme, worauf weiter unten noch eingegangen wird.

Team-Coaching ist ein wesentliches Entwicklungsfeld für Coaching

Agilität von Systemen kann verstanden werden als Antwortfähigkeit auf externe Disruption. Zur Steigerung der Agilität setzt man im Organisationsdesign u.a. auf sich selbst organisierende Teams. Enger Kundenkontakt, kurze Entscheidungszyklen und die Gesamtverantwortung für die Befriedigung der Kundenbedürfnisse sind einige Faktoren für nachhaltige Entwicklung von Systemen in der VUKA-Welt. Deshalb ist die Begleitung von Teams ein wichtiges Entwicklungsfeld für die Professionalisierung von Coaching in disruptiven Zeiten. Korrespondierend zur Gesamtverantwortung von Teams benötigt der Coach ein breites Kompetenzspektrum, vom Umgang mit Emotionalität, über Kompetenzen zur Gruppendynamik bis hin zum agilen Projektmanagement. Um den Scrum Master beim Bearbeiten von Hindernissen zu beraten, sind zusätzliche organisationspsychologische Kenntnisse auf Seiten des Coachs notwendig.

Coaching bietet hohe Chancen für die Gestaltung disruptiven Wandels

Coaching zur Bewältigung von Disruption kann neue Ressourcen für eine aktiv gestaltete Reifung erschließen, auf der persönlichen Ebene, genauso wie auf Team- und Organisationsebene. Dabei kann Disruption als Notsituation im gestalttherapeutischen Sinn verstanden werden, die die Chance eines Reifungsprozesses eröffnet.

Auf Klienten-Ebene kann die Bewusstheit gewonnen werden, wie man es geschafft hat, externe Bedürfnisse als die eigenen zu übernehmen. Tritt die Erkenntnis der mühsam gelernten Selbstblockade ins Leben, können Klienten Zugang zu ihren Wachstums-Bedürfnissen gewinnen. In dem hier skizzierten integrativen Ansatz lernt der Klient, auf Team- ebenso wie auf Organisationsebene wirkungsvoll in Übereinstimmung mit den eigenen Bedürfnissen zu agieren. Disruptive Ereignisse lassen sich in diesem Verständnis als Hintergrund verstehen, vor dem das Subjekt mit neu gewonnener Elastizität agiert. Somit kann Disruption zu einem erfüllenden Selbstreifungsprozess werden.

Teams haben die Chance, mittels Coaching ihre Interaktionsprozesse und Rollen so zu schärfen, dass sie schnell auf neue Bedrohungen reagieren können. Voraussetzung ist, dass der Coach eine hohe psychologische Sicherheit im Team herstellen und aufrechterhalten kann. Eine Kultur der Selbststeuerung von Teams unter dem Dach einer verbindenden Vision lässt sich aber nur dann erreichen, wenn nicht nur ein einzelnes Team in den „Genuss“ eines Coachings kommt. Stattdessen ist ein Team-Coaching-Programm zu etablieren, das zwei Entwicklungsstränge hat: Erstens, Coaching sowohl der Innovations-Teams als auch der Teams, die sich mit Effizienzverbesserungen befassen, und zweitens: Systemisches Coaching für die Gestaltung der Interaktionsbeziehungen der Teams untereinander. Mit Hilfe eines solchen Programms besteht die Chance, die Antwortfähigkeit auf Disruption in der gesamten Organisation zu steigern.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Erschließung dieser Chancen ein nicht unerhebliches Zeit- und Investitionsbudget benötigt. Die Akkommodation mit Hilfe der Aktualisierung tief sitzender Annahmen, Riten und Verhaltensroutinen auf personaler Ebene, Teamebene und in der Organisation insgesamt ist nicht im Schnellverfahren zu erreichen.

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