In der Organisationswissenschaft gibt es verschiedene Modelle, welche das Werden, die Reife, das Vergehen und die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung von Organisationen beschreiben. Der finnisch-amerikanische Organisationsforscher Martin F. Saarinen hat in den 1980er Jahren ein Konzept vorgelegt, in welchem er den Prozess der Organisationsentwicklung zum evolutionär-biologischen Lebenszyklus in Bezug setzt (Saarinen, 1986): The life cycle of a congregation.
Saarinen war christlicher Ordensmensch und beobachtete den Lebenszyklus in der eigenen Organisation. Es gibt christliche Gemeinschaften, die mit der Zeit untergegangen sind, aber auch Gemeinschaften, denen selbst nach größten Krisen – wie Phönix aus der Asche – eine Transformation gelungen ist.
Das Konzept des Lebenszyklus von Organisationen ist für das Coaching deswegen interessant, weil sich der Beratungsimpuls durch intuitives Beobachten seitens der Klienten sowie leichte Besprechbarkeit in der Beratung erschließen lässt. Saarinens Konzept ist dabei weder esoterisch noch naturalistisch, es ist (unausgesprochen) autopoietisch-konstruktivistisch: Menschen entdecken und lernen, wenn es einen Anschluss an Vorhandenes gibt. Sie verstehen und entwickeln sich sogar nur dann. Die Grundlagen des Konzepts von Saarinen seien zunächst in drei Schritten vorgestellt.
Der Blick auf Entwicklung ist (in der europäischen Kultur) davon geprägt, zu meinen, Entwicklung wäre eine Linie – idealerweise eine gerade Linie. Der Blick in die Natur und ihre biochemischen Prozesse, denen auch der Mensch als Lebensform unterliegt, zeigt aber: Leben ist ein Kreislauf.
Leben beginnt jedoch nicht mit dem Punkt einer Geburt, sondern ist beeinflusst aus kulturellen und sozialen Mustern, die different Einfluss nehmen. Auch die „Materie“, aus der Menschen bestehen und in deren Substanz ihre geistig-seelischen Prozesse stattfinden, ist „recycelter Sternenstaub“, um es poetisch zu sagen. Am Ende des Lebens werden Menschen die Dinge, die sie und ihr Leben ausgemacht haben, weitergegeben haben: Die Kohlenstoffverbindungen des Leibes kehren „zum Staub zurück“, möglicherweise wurden die Gene des Erbguts weitergegeben, ebenso wie das andere Menschen inspirierende Wissen oder hinterlassene Gegenstände.
Zum Kreis wird dieser Prozess von Werden und Vergehen, weil nicht einfach etwas weitergegeben wird, wie bei einem Staffellauf, sondern weil sich die gleichen Prozesse stets wiederholen: Wie die Szene in diesem Werbespot, in dem ein Großvater seinem Enkel ein Bonbon mit den Worten überreicht: „Das hat mir schon mein Großvater gegeben.“ Die Werbung spielt mit der Zirkularität des Lebens: Das Kind wird zum Greis, der wiederum seinem Enkel ein Bonbon schenken wird …
In diesem Kreislauf ereignet sich Entwicklung, indem Unterschiede gemacht werden. Der zirkuläre, selbstreferentielle Prozess erhält einen evolutionären Steigungswinkel. Der Prozess schreitet wie auf einer Wendeltreppe in Kreisen voran, kommt auf einer in Raum gedachten XY-Achse immer wieder an die gleiche Stelle, aber womöglich auf der Z-Achse etwas „verschoben“. So gibt der Großvater aus der Hand, welchen Unterschied sein Enkel machen wird. Sein Enkel könnte seinem eigenen Enkel später von diesem merkwürdigen Bonbon-Großvater erzählen oder statt des Bonbons ein Kaugummi weiterreichen. Der unterscheidende Punkt für eine Veränderung auf der Kreislaufbahn ist der „Sprung“ vom Großvater zum Enkel, der Sprung von einem gelebten Leben zu einem noch nicht gelebten Leben mit vielen Möglichkeiten. Entwicklung findet im „Springen“ statt.
In der Entwicklung von Organisationen sind ebenso wiederkehrende Dinge – Konflikte, Fortbildungen, Qualitätssicherungsmaßnahmen etc. – beobachtbar und werden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerne süffisant kommentiert: „Das hatten wir alles schon mal.“ Beratungsprozesse haben den Anspruch, in solches Organisationsleben genug „Unterschiede“ zum bisherigen Ablauf hineinzubringen. Nicht wenige Coachings beschäftigen sich dann mit solchen Fragen: Wann ist der beste Zeitpunkt für den „Sprung“ – den Absprung aus dem Unternehmen, den Aufsprung eines Teams auf eine Entwicklung, die Sprungaufforderung einer Führungskraft an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Der Zeitpunkt scheint nicht beliebig zu sein.
Warum hat der Großvater nicht seinem eigenen Kind das Bonbon weitergegeben, sondern seinem Enkel? Nun, mit dem eigenen Kind hat der Vater eine eigene Geschichte, ein eigenes – anderes – Verhältnis. Großeltern prägen den Nachwuchs anders als Eltern. Das hat etwas mit der Dynamik zu tun, welche die verschiedenen Lebensphasen ausmachen, und damit, wie diese aufeinandertreffen.
Die Lebensdynamik verläuft wie eine parabelförmige „Lebenstreppe“, die in ihrer Dynamik erst hinauf, aber dann hinab führt. Kinder sind voller Leben, Ideen und Fantasie. Jugendliche probieren sich explorativ aus, treffen mit der Zeit aber Festlegungen zu Identität, Partnerschaft, Freundeskreis, Beruf, Lebensort usw. Als „erwachsen“ gilt, wer auf Basis gemachter Erfahrungen sowie getroffener Entscheidungen ein selbstständiges und selbstbewusstes Leben führt – auf dem Höhepunkt der Kraft. Diese Phase endet mit den ersten körperlichen Einschränkungen, weil der Körper sein evolutionäres Sicherungsprogramm zur Weiterexistenz der Lebensform abgespult hat, und dem Verlust der Begeisterungsfähigkeit, weil alles irgendwie schon mal da war oder probiert wurde. Danach geht es „nur noch bergab“, wie man so sagt. Man schöpft Kraft vor allem aus der Erinnerung an frühere (bessere) Zeiten und feiert Jubiläen. Irgendwann geben Körper und Geist auf.
An diesem Verständnis von Lebenszyklus, Entwicklung in Sprüngen und den Phasen der Lebensdynamik setzt Saarinen (1986) an, wenn er acht Lebensphasen von Organisationen beschreibt – Vision, Gemeinschaft, Programm, Administration, Reife, Aristokratie, Bürokratie, Tod (siehe Abb.) – und entlang dieser Phasen einen Zeichencode einführt, der auf idealtypische, aber modellhaft exzellente Weise die parabelförmige Entwicklungsdynamik in Organisationen beschreibt (ebd.):
Saarinen (ebd.) bricht also mit der Vorstellung, dass Organisationen sich wie auf einer Leiter stetig nach oben entwickeln. Er zeichnet die Entwicklung einer Organisation als Parabel mit einem Anfangs-, einem Scheitel- und einem Endpunkt.
Wie im biologischen Leben ist auch für Organisationen irgendwann der Zeitpunkt des „Richtungswechsels“ gekommen. Aber mit Blick auf die zyklische Evolution von Leben: Wie das Ende eines Lebensbogens nicht das Ende von Leben ist, so ist das Bogenende in der Organisationsdynamik nicht zwangsläufig das Ende einer Organisation.
Allein die als Parabel gezeichnete Dynamik von Organisationsentwicklung lohnt der näheren Beschäftigung im Coaching und der Organisationsberatung. Klienten können mit Blick auf die eigene Organisation reflektieren, wo diese in der eigenen Wahrnehmung steht. Insbesondere für Mitglieder „alt“ gewordener Organisationen kann es entlastend wirken, darüber sprechen zu können und zu dürfen. Im Coaching sollte das Modell dabei zur leichteren Rezeption visualisiert sein. Idealerweise ist der Raum groß genug, dass man ein Bodenbild legen kann. In dieses hinein können sich die Klienten stellen, um eine körperliche Empfindung in die Reflexion einzubeziehen (vgl. Fritzsche, 2019).
Das Erspüren der jetzigen „Phase“ der eigenen Organisation ist intuitives Wissen der Klienten, also in einem systemischen Sinne wahr. Vertreter datenbezogener Organisationsanalyse mögen den deskriptiven Ansatz des Modells von Saarinen dabei kritisch sehen. Das eine schließt das andere aber nicht aus. Für das Coaching – bzw. in der Arbeit mit psychosozialen Kommunikationen und Interaktionen – eröffnet die intuitive Herangehensweise einen Zugang zu den Codierungen von Wahrheit der Klienten und damit zu den Manifestationen von Meinungen und Verhalten, die dann zielorientiert überprüft sowie kritisch hinterfragt werden können.
Unterschiedliche Wahrnehmungen lassen sich i.d.R. auf unterschiedliche Situationen verschiedener Abteilungen, Geschäftsfelder etc. in einer Organisation zurückführen. Wertvoll sind unterschiedliche Einschätzungen z.B. innerhalb des Kollegiums einer Abteilungsleiterkonferenz. Wenn einige die Organisation bei „vgP.“ verorten, andere bei „..pa“, ist es gut, um diese Unterschiede zu wissen. So haben sich schon Teamkonflikte aufhellen lassen. Saarinens Modell gibt an dieser Stelle bereits einige Hinweise zum Prozess der Organisationsentwicklung (vgl. Saarinen, 1986):
Das Modell ist mit solchen Hinweisen nicht allein. Aber Saarinens Modell ist eine bildgebende Methode sowie aktivierende Intervention und damit ein gut geeignetes Kommunikationsereignis in Coaching und Beratung. Interessanterweise wird zugleich der Punkt verhindert, an dem es nicht weitergeht. Denn der Rückgriff auf die Beobachtung allgemeiner oder auch eigener Lebenserfahrung erzeugt Lösungsorientierung.
Einen starken Impuls löst das Modell von Saarinen aus, wenn es um den Vorschlag geht, mit der sich der evolutionär-biologische Entwicklungssprung auf Organisationen übertragen lässt. Der Blick richtet sich dazu vermeintlich auf das Ende des Bogens: Wenn es zu Ende ist, muss ein neuer Anfang her. Doch: Wenn etwas vorbei ist, ist es vorbei. Wenn der Beginn einer Organisation nicht in Programm und Administration, sondern in der geteilten Vision liegt, dann verweist Saarinens Modell darauf, dass diese am Ende der Organisation gar nicht mehr greifbar ist. Weitergegeben wird erkaltete Erfahrung, an die für „Jüngere“ in keiner Weise lebendige Anschlussfähigkeit besteht.
Klienten lassen sich mit Blick auf den Zeichencode des Modells leicht zu der Erkenntnis führen: Wenn Vision, Gemeinschaft, Programm und Administration den „erwachsenen“ Reifepunkt einer Organisation ausmachen, dann ist die Strecke kurz nach dem Scheitelpunkt die richtige Phase für die Initiierung des „Sprungs“. Dieser initiiert dann eine nächste Entwicklungskurve, die also zwar wieder eine eigene Visions-, Gemeinschafts- und Programmdynamik durchläuft, aber dabei an die Erfahrungen des früheren Bogens anschließt (siehe Abb.).
Die Schlussfolgerung für gelingende Organisationsentwicklung sei nochmals mit dem Bonbon-Werbespot verdeutlicht: Wenn der Enkel das Bonbon in einer Schachtel am Tag der Beerdigung des Großvaters findet, ist das etwas anderes, als ob dieser ihm das Bonbon selbst gegeben hat, mit erklärenden Worten und strahlenden Augen. Und wann bekommen Lebewesen ihren Nachwuchs? Genau! Wenn sie selbst schon groß, aber noch kräftig genug sind, das jüngere Leben zu begleiten, bis dieses seinerseits selbstständig genug ist. Die Zeit der Reife ist der Punkt, an dem Veränderung ansetzen muss – nicht zu früh, nicht zu spät. Wie Obst, das man pflückt, wenn es voller Vitamine ist, aber noch nicht „überreif“.
Es ist hochinteressant, diese Aussage über den „Sprungpunkt“ z.B. im Coaching der Weiterentwicklung von Geschäftsführungsprozessen oder der Produktentwicklung zu thematisieren. Für das Lernen in Organisationen ist es auch erhellend, zu fragen, wer die „Großeltern“ und wer die „Enkel“ sind und wie gelingende Kommunikation zwischen ihnen aussehen müsste. Was sind die lebendigen „Bonbon-Momente“ zwischen der zu Ende gehenden und der weitergehenden Lebendigkeit in einer Organisation?
Organisationen entwickeln sich für Saarinen in einer Folge von Entwicklungsbögen, bei dem ein nächster Bogen an einer bestimmten Stelle an einen früheren, für sich weiterlaufenden Bogen anschließt. So wird aus dem zyklischen Bild der Spirale mit Steigungswinkel ein im Rahmen einer „Zeitkonstruktion“ gestaltbarer Prozess, der nicht der Hybris verfällt, dass es linear aufwärts gehen kann.
Im Coaching erwirkt das Modell konkrete Interventionen, z.B. wenn marktgesättigte Unternehmen gerne die Energie von Start-ups für sich nutzen möchten. Üblicherweise gründen oder kaufen sie dafür welche. Saarinens Modell plausibilisiert die regelmäßige Erfahrung solcher Vorhaben: Man kann nicht zwischen den Phasen springen. Man kann junge Organisationen gründen, aber der Transfer zwischen Mutterkonzern und Start-up ist wie der Transfer zwischen Mutter und Kind: Spätestens in der Pubertät wird es schwierig.
Ein anderes Beispiel: Wenn der Lebenszyklus einer Organisation in einer bestimmten Ausdrucksform von Vision, Gemeinschaft, Programm und Administration unweigerlich zu Ende geht, muss die Führung, damit es mit der Organisation weitergeht, früh genug die eigenen Nachfolger kennen. Das ist während der „vgpA“-Phase eine anspruchsvolle Leistung. Sie impliziert, inmitten eigener Kraft zurückzustecken – ganz in Analogie zur Elternschaft.
Das Verständnis des Lebenszyklus von Organisationen ist ein Moment des Selbstlernens in Organisationen und Coaching ein guter Ort dafür. Coaching unter Rückgriff auf Saarinens Modell hilft, zu verlangsamen (nicht zu verwechseln mit abbremsen) und die Verantwortlichen für Organisationsentwicklung auf organische (!) – weder unterbotene noch überschätzte – Lösungen zu fokussieren. Die Steuerbarkeit von Organisationsentwicklung wird durch die Gestaltbarkeit von Organisationsentwicklung abgelöst. Auch ohne den Einsatz des Modells in der Arbeit mit Klienten kann der Coach seine Wahrnehmung vom Entwicklungspunkt der den Klienten umgebenden Organisation für die eigene Hypothesenbildung nutzen.
A: Einer leitenden Führungskraft in einem mittelständischen Unternehmen hilft die Arbeit mit Saarinens Lebenszyklus, in einer Reifephasenvergewisserung die Abläufe in der eigenen Organisation zu reflektieren, ihr eigenes Handeln darauf abzustimmen und Erkenntnisse in die Geschäftsleitung einzubringen.
B: Das Leitungsteam einer Einrichtung der Wohlfahrtsfürsorge stellt auf der Jahresklausur fest, dass es momentan eine hohe Zufriedenheit und Produktivität gibt. Genau das nehmen sie zum Anlass, die Arbeit an einer Sprung-Vereinbarung aufzunehmen, welche die Hinweise des Lebenszyklus-Modells berücksichtigt. Differenziert wird beschrieben, wodurch der „neue Bogen“ entstehen soll. Beginnend bei den Mitgliedern des Leitungsteams entscheidet jede und jeder für sich, ob man mit dem bisherigen Bogen weitergeht oder in die neue „V…“-Phase „mitspringt“.
C: Ein langjähriger, hochakzeptierter Unternehmenschef lässt sich in der Abschiedsphase aus dem Unternehmen durch ein Coaching begleiten. Er formuliert ein Visions-Testament, in dem er seine zukünftigen Pläne für das Unternehmen aufschreibt, ohne Aufträge damit zu verbinden. Er übergibt dies in einem Abschiedsritual vor der Belegschaft dem von ihm vorgesehenen Nachfolger. Außerdem: ein Bonbon.