Den beiden Begriffen Macht und Missbrauch haftet eine Assoziation von Herrschaft und Dominanz auf der einen und Opfererfahrung auf der anderen Seite an. Verbindet man diese beiden Begriffe zu einer Einheit, dem Begriff des Machtmissbrauchs und stellt dieses Phänomen dann in den Kontext Coaching, entsteht leicht die Phantasie von einem groben Fehlverhalten eines Coachs zulasten einer Opfererfahrung auf Seiten des Klienten. Ein in ethischen Fragen reflektierter Coach geht ganz selbstverständlich davon aus, dass er selbst nicht zu derartigem Fehlverhalten neigt und dass die eigenen Klienten nicht der Gefahr der Opfererfahrung ausgesetzt sind. Sich in Sicherheit wiegend – einer Sicherheit, die durch die regelmäßig in Anspruch genommene Supervision untermauert wird – ist man als Coach geneigt, die proaktive Suche nach möglichem Missbrauchsverhalten im Coaching zu unterlassen. Und da auch Fortbildungen rar gesät sind, die dazu auffordern, sich in seiner Funktion als Coach in Bezug zu diesem Themenfeld zu setzen, gibt es für einen Coach wenig Konfrontation mit diesem Thema.
Auch wenn der Begriff „Machtmissbrauch“ die Assoziation von grobem Fehlverhalten auslöst, handelt es sich in der Regel eher um einen sehr subtilen Vorgang, dessen Folgen sich nicht unmittelbar zeigen, sondern in der Regel zeitversetzt auftreten – wenn der Klient, mit etwas Abstand im Anschluss an den Coaching-Prozess bereit ist, zu erkennen, dass er im Coaching eine Opfererfahrung gemacht hat. Geht der Klient dann nicht auf den Coach zu, um diese Erfahrung mit ihm persönlich zu komplettieren, bleibt dem Coach sowohl der Vorgang selbst, als auch seine eigene „Täterschaft“ darin verborgen.
Und so bedarf es einer aktiven Suche nach möglichen „Missbrauchsfallen“ in der eigenen Coaching-Praxis, will man sicher gehen, gemäß den eigenen Werten und ethischen Standards zu intervenieren.
Die eigene Selbstreflexion zum Thema Umgang mit der vom Klienten erteilten Befugnis, auf der Suche nach möglichen ethischen Lecks, ist immer auch eine Reise durch die Schatten der eigenen Persönlichkeit. Eine Reise, die nicht immer angenehm ist, sich aber lohnt, denn an ihrem Ausgang wartet die Erlösung von unbewussten Schattenmustern und damit ein Zugewinn an Freude und Leichtigkeit im Umgang mit den Klienten.
Man kann wohl davon ausgehen, dass jeder professionelle Coach in seiner Arbeit von dem vordergründigen Motiv geleitet ist, durch sein im Coaching eingebrachtes Engagement einen befähigenden Beitrag zur Aktivierung der Selbsthilfe des Klienten leisten zu wollen. Doch wie ist es um das Motiv hinter dem Motiv bestellt? Was verleitet den Coach dazu, sein Leben dafür zu verwenden, anderen ein befähigender Dialogpartner zu sein, dafür die Mühsal einer aufwendigen Ausbildung auf sich zu nehmen, sein Leben nach den Terminplänen anderer auszurichten und sich tagein tagaus Geschichten über die Innenwelten anderer anzuhören? Das Motiv hinter dem Motiv ist ein wichtiger, meist unbewusster Produktionsfaktor für fehlende Wachsamkeit, die zu einem missbräuchlichen Umgang mit der vom Klienten erteilten Befugnis führen kann.
Seriös arbeitende Coaches sind durch ihre Ausbildung, ihre Erfahrung im Umgang mit Menschen oder ihre regelmäßige Supervision für das Thema Macht und den integren Umgang damit sensibilisiert. Und doch kommen auch sie in der Praxis in Situationen, in denen sie die Grenzen der vom Klienten erteilten Befugnis überschreiten und ihn in eine Opfererfahrung führen. Einfach weil sie sich nicht im Klaren darüber sind, aus welchem unbewussten Motiv heraus sie mit welcher Wirkung agieren.
Solche unbewussten Motive können z.B. der Versuch sein, eine eigene Unwertsvermutung zu kompensieren. Man geht davon aus, dass die eigene Daseinsberechtigung sich vor allem daraus ableiten ließe, dass man für andere Menschen da sei. Dementsprechend tut man einiges dafür, von anderen Menschen gebraucht zu werden. Ist man sich als Coach dieses Hintergrundmotivs nicht bewusst, oder ist die Wachsamkeit in Bezug auf die mit dieser Disposition einherkommende Abhängigkeit vom Klienten geschwächt, kann es dazu kommen, dass man eine Coaching-Beziehung über das nötige Maß hinaus ausdehnt, Themenfelder aufmacht, in denen der Klient sich als hilfsbedürftig erlebt, oder gar auf eine Weise zu intervenieren, die den Klienten in gefühlte Hilflosigkeit hinein manipuliert, um dann derjenige zu sein, der den Klienten wieder daraus erlöst. So generiert man sich ein Arbeitsumfeld, das der vermeintlich zu erarbeitenden Daseinsberechtigung zuarbeitet, während man gleichzeitig die vom Klienten erteilte Befugnis zu befähigenden Interventionen überschreitet.
Bei den verdeckten Motiven, die das eigene Verhalten im Coaching prägen, kann es sich aber auch um Motive handeln, die als typische Begleiterscheinung einer psychischen Störung anzusehen sind. In diesem Zusammenhang sei die narzisstische Störung erwähnt, mit ihrem kompromisslosen Bestreben der Selbstaufwertung, die eine Abwertung Dritter stets billigend in Kauf nimmt. Es ist die wohl am häufigsten anzutreffende psychische Fehldisposition, die bei Coaches anzutreffen ist. Kennen wir doch alle die Kollegen, die sich damit rühmen, ganz besondere Klienten zu betreuen, mit ganz außergewöhnlichen Coaching-Anforderungen, die nur sie zu erfüllen in der Lage sind.
Ein Coach, der aus Motiven geleitet ist, die seiner narzisstische Störung entspringen, wird sich im Coaching stets so verhalten, dass er sich ein gewisses Maß an Bewunderung durch seine Klienten organisiert. Er nimmt die Erfolge seiner Klienten persönlich und verbucht sie als Ergebnis seiner eigenen Besonderheit. Aber auch weniger tiefenpsychologische, unbewusste Motive können die Wachsamkeit bezogen auf das eigene Verhalten im Coaching beeinträchtigen, wie z.B. das Motiv, Umsatz über Coachings zu generieren, obwohl der Grad der eigenen Erschöpfung ein hochwertiges, professionelles Coaching gerade nicht zulässt. Im Zustand übermäßiger Erschöpfung ist der Coach geneigt, seine Beteiligung an der aufstrebenden Entwicklung seines Klienten als Energiequelle für sich persönlich zu nutzen. Ohne es zu bemerken, arbeitet der Klient dann in den Sitzungen mit seinem Coach daran, den Coach auf ein Energieniveau anzuheben, auf dem die gegenseitige Inspiration für einen befähigenden Coaching-Dialog erst möglich wird.
Die bisher angesprochenen Motive stellen nur eine kleine Auswahl möglicher Motive für ein Missbrauchsverhalten durch einen Coach dar. Sie entsprechen, wie viele andere Motive, der menschlichen Natur. Als Hintergrundmusik für einen Coaching-Dialog sind sie auch nicht per se als verwerflich anzusehen, auch wenn mit ihnen die Gefahr der Opfererfahrung auf Seiten des Klienten einherkommt. Denn gesunde Klienten – und nur für solche ist Coaching geeignet – bringen ein ausreichendes Maß an Selbstheilungskräften in den Coaching-Prozess ein, so dass sie unbeschadet auch aus einem Coaching hervorgehen, in dem der Coach eigene Defizite im Coaching auffüllt. Meist bleibt die Vorteilsentnahme auf Seiten des Coachs für sie sogar unbemerkt. Was sich daraus ergibt, ist zwar ein Missbrauch der Dialogbeziehung, deren Ausgleich ja so deklariert ist, dass der Coach neben dem vereinbarten Honorar keinen weiteren Vorteil aus der Beziehung entnimmt, stellt aber noch keinen Missbrauch von Macht dar.
Zum Machtmissbrauch wird diese Art der „Bereicherung“ aber dann, wenn der Coach ein mögliches Störempfinden seines Klienten damit eindämmt, dass er sich auf die Metho de Coaching beruft. Frei nach dem Motto: Im Coaching fühlt man sich nun mal nicht immer gut und die Missempfindung, die der Klient gerade erlebt, sei eine für Coaching typische, die für den Erfolg des Coaching-Prozesses unbedingt notwendig sei. In dieser Argumentation beruft sich der Coach auf die ihm erteilte Befugnis zur Einflussnahme, erhöht sich über seinen Klienten und dessen Feingefühl und fordert den Klienten zur Duldung auf. Er zwingt ihn geradezu, das eigene Störgefühl als eine notwendige Begleiterscheinung seines Entwicklungsprozesses hinzunehmen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, das Verhalten des Coachs und dessen Wirkung auf sich selbst hinterfragen zu können. Der Zwang zur Duldung ergibt sich aus der im Raum stehenden Drohung des Wegfalls der Erfolgsaussicht für den Klienten, die dieser natürlich von sich abwenden möchte. Und all dass geschieht in der Regel über eine eher indirekte Kommunikation, in der nicht ausdrücklich gesagt wird, was gemeint und erlebt wird.
Wer daran interessiert ist, seine eigenen Missbrauchsfallen zu belichten, kann dies einleiten, indem er die Frage nach verborgenen Motiven aufwirft, von denen er im Coaching geleitet sein könnte. Der Verstand, der ja bekanntlich damit befasst ist, unser gutes Dastehen zu sichern, wird schnell mit eher altruistischen Motiven aufwarten. Dann kann es hilfreich sein, sich danach zu befragen, welches Erleben über das Ausleben dieser altruistischen Motive vermieden werden soll. Und wenn man sich dann noch der Frage zuwendet, ob ein Klient einen Vertrag unterschreiben würde, in dem er sich verpflichtet, dieses Motiv seines Coachs zu bedienen, beginnt man einen ersten Lichtstrahl auf mögliche Missbrauchsfallen in der eigenen Coaching-Praxis zu werfen.