„Der SWR ist keine Schraubenfabrik!“ Dieses Zitat stammt von Peter Boudgoust, dem Intendanten des SWR und er hat damit in vielerlei Hinsicht Recht. Sein Wort zielte auf die gemeinsame Verantwortung aller Mitarbeiter für das Programm. Auf die Frage von Coaching- und Seminarteilnehmern, was denn etwa den öffentlich-rechtlichen Sender von Wirtschaftsunternehmen unterscheide, antworten wir als Coaches und Trainer regelmäßig: „In der Wirtschaft wird Geld verdient – der Sender gibt Geld aus.“ Darüber müssen viele Teilnehmer zunächst lachen, obwohl sie es eigentlich wissen. Strategie, Struktur und Kultur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk weisen einige Besonderheiten auf, die sie von anderen Unternehmen dieser Größenordnung wesentlich unterscheiden.
So ist die strategische Zielsetzung nicht Gewinnmaximierung, sondern die bestmögliche Erfüllung eines öffentlichen Auftrags. Öffentlich-rechtliche Rundfunkunternehmen verkaufen keine Schrauben oder Autos – sie haben den Auftrag, Meinungsbildung zu ermöglichen. Dabei genießen sie das Privileg, über Gebühren weitgehend unabhängig von kommerziellen Interessen zu sein.
Ob dem Auftrag entsprochen wurde, entscheiden auch die Gremien mit Vertretern aus Parteien, Verbänden, Gewerkschaften und Kirche. Das Ansehen der Gremien hat in den letzten Jahren gelitten. Sie stehen in dem Ruf, Beute von Parteipolitik geworden zu sein. Die Art und Weise mit der der damalige Ministerpräsident Roland Koch die Ablösung von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender durchsetzte, hatte daran keinen unbedeutenden Anteil. Brender hatte sich geweigert, inoffizielle Einflussnahme von Gremienmitgliedern auf das Programm zu akzeptieren. Denn von Spitzen-Führungskräften in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wird bislang auch erwartet, auf Parteiinteressen Rücksicht zu nehmen und selbst politisch zu agieren. Es geht um die Deutungshoheit, wann und wie der Auftrag erfüllt ist, und darum, immer wieder die gesellschaftliche Legitimation bei den Gremien dafür zu gewinnen. Dass das nötig ist, macht die ständige Diskussion über die Höhe der Gebühren deutlich. Der Programmdirektor der ARD, Volker Herres, ist überzeugt: Wenn es der ARD nicht gelingt, sich in der Zuschauergunst dauerhaft unter den vordersten drei Plätzen zu behaupten, wird die politische Diskussion über die Legitimität der ARD als System nicht aufzuhalten sein.“
Daraus ergibt sich eine besondere Gemengelage für die Spitzen-Führungskräfte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sie müssen in zweierlei Hinsicht agieren:
Denkt man beide Prinzipien konsequent zu Ende, wird klar, dass sie und damit auch beide Rollen nur nebeneinander – reflektiert und bewusst differenziert – gelebt werden können. Sicherlich ein Grund dafür, warum die Führungskultur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks öfters von den eigenen Mitarbeitern als „unentschlossen“ und „schwammig“ wahrgenommen wird.
Chefredaktion und Redaktionsleitung sind damit beschäftigt, gegenüber den Gremien (also stellvertretend gegenüber dem Gebührenzahler) zu legitimieren und zu verhandeln, warum diese im Schichtdienst produzierten Sendungen mit welchen Mitarbeiterzahlen zu erhalten sind. Die Verhandlungen ziehen sich über Monate und Jahre, der genaue Stand ist den Mitarbeitern nicht exakt mitteilbar, changiert im Ergebnis. Der Redaktionsleiter erlebt einen Rollenkonflikt,
In der Zwischenzeit leidet das Kooperationsvermögen. Unter den 60 Mitarbeitern herrscht „ein Klima von Intrigantentum“, und „Mobbing“ erfahren wir Coaches vor der Intervention anonym aus der Redaktion. Die zwei Kollegen, die unter dem Redaktionsleiter qua Funktion führen sollen, trauen sich nicht, wollen nur für Produkte, aber nicht für das Miteinander verantwortlich sein.
Hieraus resultieren bestimmte kulturelle Merkmale. An erster Stelle steht das – sprachliche und auch häufig kreative – Produkt und eine ausgeprägte Identifikation damit. Dabei sind in der Wahrnehmung der Beteiligten mehr Hierarchie und Reglementierung eher hinderlich. Außerhalb klarer hierarchischer Rollen „in die Führung zu gehen“, ist eine wenig ausgeprägte Verhaltensweise.
Aus Sicht der Autoren ist die Situation zu entlasten, indem bewusst – im Sinne kollegialer Führung – mehr Führungsverantwortung nach unten delegiert wird. Im Sinne des operativen, managementorientierten Führungsgeschäfts: An die Mitarbeiter aus Programm und Produktion, die tagtäglich darüber entscheiden, welche Produkte wie auf Sendung kommen.
Führungskräfte niedrigerer Hierarchieebenen können diese Rolle klarer leben, weil sie nicht oder weniger in das politische Moment der Führung involviert sind. Durch eine ausdrückliche Autorisierung, kann man diese Kollegen in die Führungsrolle bringen und ihre Führungsleistung bewertbar machen. Dazu gibt es bislang in einigen Sendern Tendenzen: Kollegen müssen zunehmend mehr Verantwortung und Entscheidungen vor Ort übernehmen. Häufig sind Teams aufgesplittet über mehrere Standorte, häufig erfordert die Aktualität eine selbstständige Vorgehensweise.
Bislang gibt es hier zwar viele Funktionen, die Führung implizieren sollen, wie zum Beispiel den „Chef vom Dienst“ oder den „Redakteur vom Dienst“ im Programm oder den „Ersten Kameramann“ oder „Regisseur“ im Studio. Diese Funktionen sind aber mit wenig institutionalisierter Macht ausgestattet, den wenigsten Mitarbeitern ist darüber hinaus klar, dass sie hier nicht nur „irgendwie führen sollen“, sondern führen „dürfen“ – und „müssen“. Viele haben den Führungsimpuls, leben ihn aber nicht konsequent. Viele schauen „nach oben“, missdeuten das „politische Führen“ als nicht „wahrgenommene Führung“, finden dort kein Vorbild für eigenes Führen – und verfallen in Passivität.
Die Resonanz auf das Coaching- und Seminarthema „Kollegen führen Kollegen“ der ARD.ZDF-medienakademie in Nürnberg zeigt, dass es einen großen Bedarf gibt, Kompetenzen in diesem Bereich zu erwerben. Zum Teil wird das Angebot inhouse von den Sendern für mehrere Gruppen einer Abteilung gebucht. Neben ganz praktischen Werkzeugen zu den Themen Arbeitsabsprachen, Kontrolle und Feedback, die hier vermittelt werden, wird jedes Mal ein großer Diskussionsbedarf deutlich, der sich um die „Haltung“ und die „Rolle“ des führenden Kollegen dreht. Fragestellungen von Seminarteilnehmern wie Klienten lauten entsprechend häufig:
Sämtliche Interventionen orientieren sich entsprechend an dem Ziel, Rollen klar zu definieren und zu leben und in die Verantwortung zu gehen. Da für diese Anforderungen ein Standard-Seminardesign wenig geeignet erscheint, haben wir klassische Seminarinhalte mit einem (Gruppen-) Coaching-Ansatz kombiniert: Neben Inputs zu situativer Führung, Umgang mit Konflikten, Felder der Führung, Kommunikationsmustern und Teamdynamiken setzen sich Teilnehmer vor allem mit ihren spezifischen Rollen auseinander. Das heißt: Die Teilnehmer reflektieren gemeinsam ihre Fragestellungen und erarbeiten, unterstützt durch kollegiale Beratung und individuelles Coaching, mögliche Lösungsansätze.
Viele Teilnehmer nehmen nicht freiwillig an der Maßnahme teil, sondern werden von ihren eigenen Vorgesetzten dafür „disponiert“ und erfahren davon durch ihren Dienstplan. Sie sind anfangs sehr skeptisch und ängstlich und haben viele Vorurteile gegenüber dem „Psychokram“. Sie sitzen bei der Erwartungsabfrage zum Teil mit demonstrativ verschränkten Armen da und „…wissen auch nicht, was wir hier sollen“. Für die meisten ist es das erste Mal, dass sie ein Seminar mit selbstreflexiven Elementen besuchen.
Die Branche führt erst seit etwa zehn Jahren regelmäßig Führungskräfte-Entwicklungen durch. In vielen Sendern ist diese nach wie vor freiwillig. Das heißt an dieser Stelle entwickelt sich erst sehr langsam eine Vorbildfunktion. Hinzu kommt ein Professionsverständnis, das sich vor allem mit Analyse und Berichterstattung über andere beschäftigt. Diese Fertigkeiten werden zum Teil auch auf das eigene Umfeld angewendet. In der intuitiv gelebten Rolle ist jedoch kaum ein Impuls dafür vorhanden, aus zum Beispiel so analysierten zwischenmenschlichen Missständen eigene Handlung abzuleiten und in Verantwortung zu gehen. Vielleicht eine Art „deformation professionelle“?
Wir Trainer und Coaches fangen hier viele Ängste und Widerstände auf, indem wir absolut konsequent und kompromisslos Themen setzen, sehr klar in die Führung gehen und Führung vorleben.
Eines der zentralen Elemente ist also die persönliche Rollenklarheit. Über ein Selbstportfolio werden ein persönliches Profil und mögliche Handlungsfelder erarbeitet. Zentrale Fragestellungen dabei sind:
Viele meinen, nach fünf Minuten fertig zu sein und haben das erste „AHA-Erlebnis“ in der Auswertungsrunde, wenn Ihnen mit uns gemeinsam auffällt, dass sie gar keine Führungsaufgaben genannt haben. Weil sie kein Vokabular dafür haben oder aber, weil es Ihnen nicht bewusst ist, dass es eigene Aufgaben sind. Für viele hier neu: Das Differenzieren zwischen fachlichen Aufgaben und Führungsaufgaben; und dass eine weitere „Aufgabe“ aktiv wahrgenommen werden muss, nämlich die des „Rollenmanagements“: Wie gehe ich mit einer Rolle um, die ich auch wieder ablegen will oder zwischenzeitlich muss?
Nun geht es darum, die Rolle für sich persönlich mit Leben zu füllen. Dazu diskutieren wir mit den Teilnehmern die Themen Selbstverantwortung und Selbstführung: „Welcher Machtquellen kann man sich in der kollegialen Führung bedienen?“ „An welchen Stellen ist der verantwortliche Einsatz dieser Macht erforderlich?“
„Ich will gar keine Macht ausüben, das ist ja ekelhaft“, hören wir oft von Teilnehmern, nun können wir mit ihnen ein differenzierteres Verständnis von Macht entwickeln. „Schöpferisch“ in die Macht zu gehen ist für viele neu, viele schließen sich dem geradezu erleichtert auf, hierzu bieten wir im Verlauf des Coachings viele Kommunikations-Tools an. „Verantwortung in der kollegialen Führung muss gewollt gelebt werden“, ist das Fazit aus dieser Einheit. Ein weiteres Thema ist die Loyalität zum Sender und dem nächst höheren Vorgesetzten, die sich unmittelbar aus der Rolle ableitet. Hier entspinnen sich regelmäßig hitzige Diskussionen. Viele Teilnehmer haben hier zum ersten Mal die Erkenntnis, dass sie mit Gejammer und Gemecker über das System als solches nicht nur ihrer Rolle nicht gerecht werden, sondern das System systematisch destabilisieren
„Ich weiß gar nicht, warum ich in dieser Maßnahme sitze“, beschweren sich manche der disponierten Teilnehmer, „mein Vorgesetzter sollte hier sein, der ist es doch, der nicht führen kann! Warum soll ich jetzt seinen Job machen?“
„Wissen Sie“, sagen wir darauf, „letztens in einem großen Sender treffen wir im Foyer den Besucherführer, der fragt, was wir hier machen. ‚Selbstführung für Abteilungsleiter‘ antworten wir. Woraufhin er sagt: ‚Ach, Du Sch … ande nee. Wie gut, denn die haben es wirklich nötig, wir werden hier ja von den größten Nieten geführt‘“.
Daraufhin lachen viele Teilnehmer beifällig und glauben, die Geschichte sei zu Ende. Dann erzählen wir weiter und sagen: „Natürlich haben wir den Abteilungsleitern davon erzählt und raten Sie mal, wie die daraufhin reagiert haben? – Genauso wie Sie jetzt, sie haben gelacht, obwohl sie selbst gemeint waren und haben den Ernst dieser Situation, genauso wie Sie hier, völlig verkannt.“
Nun werden viele Teilnehmer unwillig und wollen von uns Coaches das Zugeständnis, dass es ja „wohl mal erlaubt sei“, auf die nächst höhere Führungsebene zu schimpfen. „Vollpfosten muss man auch mal beim Namen nennen!“ Doch dieses Commitment bekommen die Teilnehmer nie von uns. Und aus den teils zornigen Reaktionen gehen sehr stille, nachdenkliche Mienen hervor.
Welche Führungsinstrumente können nun in der Praxis genutzt werden, um auf der Ebene schöpferischer Macht Verbindlichkeit zu entfalten? Durch das Fehlen klassischer Machtinsignien bleibt auf der Ebene kollegialer Führung anderer vor allem die Steuerung der Interaktionen durch klare, strukturierte und eindeutige Kommunikation. Im Praxisteil werden
anhand einfacher Modelle erläutert und ausgiebig erprobt. Viele Teilnehmer gehen davon aus, vieles sei selbstverständlich. „Der müsste doch wissen, dass seine Leistung nicht gut war. Das muss ich dem doch jetzt nicht extra sagen.“ „Feedback? – Bloß nicht am Freitag! – Das könnte den Kollegen ja noch am Wochenende beschäftigen“. Wir entwickeln, um im Duktus der Branche zu bleiben, beispielsweise kleine Drehbücher für Feedbackgespräche, an denen es aus unserer Sicht am meisten mangelt.
Teilnehmer profitieren dabei vom Perspektivenwechsel, wenn sie sich in der Rolle des geführten Mitarbeiters mit mal mehr, mal weniger gut gemachter Führungskommunikation konfrontiert sehen. „Was vermissen Sie bei ihren eigenen Vorgesetzten am meisten?“ „Klare Ansagen“. „Dann machen Sie selbst welche!“ Allein durch das Ausprobieren im geschützten Rahmen fühlen sich viele autorisiert, sich im Alltag nun anders zu verhalten.
Auch in der Teamentwicklung greift das Metakonzept der „kollegialen Führung“. In oben genannter Hörfunkredaktion (s. Kasten 1) wurden die Teilnehmer systematisch mit in die Führungsperspektive genommen. Das erreichen die Coaches mit dem Instrument der Teamdiagnose, in der sich die Teilnehmer auch mit Strategie und Zielen ihrer Redaktion auseinandersetzen müssen und in dem ein Szenario geschaffen wird, in der die Redaktionsmitglieder ihre sie führenden Kollegen und den Redaktionsleiter in Hinblick auf deren Aufgaben beraten.
„Wissen Sie eigentlich, wie besch … eiden es mir die ganze Zeit geht?“, erzählt der Redaktionsleiter. Ich stehe doch selbst nicht hinter diesen ganzen Sparmaßnahmen. Ich bin hier aus dem Kollegenkreis hervorgegangen und weiß genau, wie groß der Stress ist, der jetzt entsteht. Und jetzt machen sich die Leute auch noch gegenseitig Stress und niemand würdigt, dass ich hier die ganze Zeit damit beschäftigt bin, Verträge zu erhalten. Das ist doch auch ein politisches Signal, dass bis jetzt niemand gehen musste.“
In der kollegialen Beratungssequenz hört der Redaktionsleiter nun folgendes:
Die Mitarbeiter beraten ihn nun dahingehend, stärker zu seiner Rolle und zu den Interessen des Senders zu stehen, den er repräsentiert. Sie wünschen sich, er möge „ernsthafter“ mit ihnen umgehen und weniger Privates mitteilen. Sein Schlussfazit berührt: „Ich verstehe, dass ich ein Stück mehr Einsamkeit in Kauf nehmen muss, um meiner Rolle und Euch gerecht zu werden.“
Im Einzel-Coaching arbeiten wir weiter mit ihm zum Themenkomplex Selbstführung in „stürmischen Zeiten“ und bestärken ihn darin, seine beiden „kollegialen Führungskräfte“ stärker fürs Operative zu autorisieren. Mit den beiden entwickeln wir im Coaching ein gemeinsames Rollenverständnis.
Die hier dargestellten Rahmenbedingungen zeigen sich auch in anderen Organisationen des öffentlichen Sektors. Im universitären Kontext gibt es vergleichbare Gremienstrukturen und im öffentlichen Dienst Einflussnahme durch Parteipolitik. Damit verbunden sind ähnliche Phänomene von nicht gelebter Verantwortung und kollegialer Führung, weil „die da oben ja sowieso mit uns machen, was sie wollen“. Gleiches gilt auch für die Zusammenarbeit in Kliniken: zwischen Ärzteschaft, Pflegepersonal und den Verwaltungsdiensten. Rahmenbedingungen, die diese Situation fördern, ähneln sich in allen drei Kontexten:
An dieser Stelle gilt es, die Kompetenzen und Befugnisse des „Mittelbaus“ zu stärken, um das Niveau von Produkten und Dienstleistungen systematisch weiter zu entwickeln. Das ermöglicht den höheren Führungsebenen, sich auf ihre unternehmerischen und politischen Aufgaben zu fokussieren. Im Falle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollten gut gemachte/geführte Sendungen und Produktionen ihnen ihre Legitimierungsaufgabe gegenüber der Gesellschaft stark erleichtern!