Der Anruf kommt aus heiterem Himmel: Es meldet sich das parteiintern auserkorene zukünftige Oberhaupt der Stadtregierung. Derzeit noch Führungskraft eines Unternehmens und bekannt als sachorientierter Experte seines Metiers ist er wohl schon seit Studienzeiten einschlägig sozialisiert, aber in der richtigen Parteipolitik doch ungelenk. Auch fehlt ihm die Erfahrung mit der für ihn in dieser Dimension völlig neuen Präsenz in der Öffentlichkeit und den möglichen Querschüssen aus den eigenen Reihen oder vonseiten der politischen Kontrahenten. Gerade die ersten 100 Tage im Amt sollen gut gelingen – deshalb auch der Ruf nach dem Coach.
Mit diesem Kontakt beginnt eine Zusammenarbeit, die sehr typisch ist für Coaching von Einzelpersonen im politischen Kontext: unverhoffter Auftakt, überaus intensive Zusammenarbeit auf eine Handvoll Monate komprimiert, dann nur mehr punktuell und mit längeren zeitlichen Abständen.
Wir definieren drei Ziele schon am Telefon:
Der Klient entscheidet sich für eine geblockte Vorgehensweise: Fünf Coaching-Tage sollen es sein mit genauem Zeitplan und Agenda und dazwischen natürlich Abstimmungstelefonate.
Die ersten beiden Tage sollen so rasch wie möglich stattfinden und dienen primär der Erarbeitung der eigenen Positionierung und dem Formulieren der ersten Kernbotschaften. Dazu gehören auch deren Umsetzung in den unterschiedlichen Situationen sowie erste Überlegungen zum zukünftigen Büro-Team und in Angriff zu nehmender Lobbying-Kontakte.
Tag Drei ist den Spielregeln in der Politik sowie der Abgrenzung zwischen Politik und Privatleben gewidmet und wird auf sechs Wochen vor der Vereidigung terminiert. Tag Vier setzen wir eine gute Woche vor Amtsantritt fest – er beinhaltet die Abnahme der Generalproben für die Antrittspressekonferenz und die damit verbundenen Fernseh- und Radiointerviews sowie die Antrittsrede vor der versammelten Belegschaft des Ressorts. Zu diesem Zeitpunkt wird – das ist schon absehbar – der Klient nicht mehr während der Woche einen ganzen Tag zur Verfügung stehen können, wir fixieren daher wohlweislich den Termin am Samstag.
Der fünfte und letzte Tag unseres Pakets ist als Workshop mit den engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konzipiert und soll im dritten Monat seiner neuen Tätigkeit, also jedenfalls noch vor Ablauf der 100 Tage, über die Bühne gehen. Das zum Teil neu zusammengesetzte Team soll auf die Schwerpunkte des neuen Chefs eingeschworen werden sowie Maßnahmen zur Gestaltung der internen Kommunikation und Organisation entwickeln.
Das professionelle Standing in der Politik hängt elementar von der persönlichen inhaltlichen Positionierung und der Fähigkeit, diese in medientaugliche Worte zu kleiden ab. Methodisch arbeite ich an dieser Stelle stark mit Bildern. Der Klient visualisiert sein Bild der Zukunft und seine Rolle im tatsächlichen Sinn und erarbeitet anschließend eine konzise verbale Antwort auf die Frage: Welche Spuren will ich kraft meines politischen Wirkens hinterlassen?
Er begibt sich also gedanklich nicht in sein Idealbild der Zukunft, sondern geht darüber hinaus gleich in die Zukunft der Zukunft, aus der er den besten Blick zurück auf die erwünschte Wirkung seiner politischen Tätigkeit hat. Dazu gehört auch die Reflexion über seine drei wichtigsten Werte, anhand derer seine politische Handschrift nach innen wie außen erkennbar werden soll, sowie die drei wichtigsten politischen Themen, die prioritär auf die Agenda zu setzen sind. Gemeinsam mit den ersten Schritten, die der Politiker in spe setzen will, haben wir so innerhalb eines halben Tags alle Elemente für die rhetorische Visitenkarte jedes Politikers zusammen: die sogenannte Elevator Speech, das einminütige Statement, das für sämtliche Gelegenheiten in dieser Anfangsphase passt.
Nachmittags geht es dann an die praktische Umsetzung, der Wechsel zum Videotraining, das bei Politikerinnen und Politikern generell schon sehr früh eingesetzt werden kann – die mediale Dimension ist im Politik-Coaching ein wichtiger Aspekt. Zwei Durchläufe vor der Kamera inklusive anschließender Detailanalysen machen den Klienten im Laufe des Nachmittags sicher, seine Basis-Bausteine gefunden zu haben. Ein Thema wird nur andiskutiert: die Suche nach einem passenden Pressesprecher.
Wir haben unser erstes Problem: In der Rückschau auf die letzte Sitzung tritt zutage, dass die Partei schon einen Wunschkandidaten für den Pressesprecher in petto hat. Es ist jedoch jemand, zu dem der Klient keinen Zugang findet. Wir reflektieren diese erste interne Machtprobe: Muss der Partei schon hier, zu diesem frühen Zeitpunkt und bei diesem neuralgischen Vertrauensposten, gehorcht werden? Eine Liste der Argumente dafür und dagegen schafft Klarheit. Gibt es eine Lösung, die alle Seiten das Gesicht wahren lässt? Wir finden eine.
Nächster Punkt ist die Evaluierung der Elevator Speech: Würden die bisher entwickelten Kernbotschaften den Praxistest bestehen? Großteils ja, berichtet der Klient, kleine Korrekturen sprechen wir durch. Dann die nächste Probe aufs Exempel: Ist der neue Bürgermeister auch im Dialog – also im Vieraugengespräch, im Interview, in der Podiumsdiskussion – sattelfest und klar genug, seine Anliegen zu transportieren?
Wir trainieren nach demselben Modus bis tief in den Nachmittag hinein – Was muss gemacht werden, was darf nicht getan werden in den verschiedenen konkreten Situationen? – mit Rollenspiel und anschließender Videoanalyse. Das ist anstrengend, aber nötig. Zum Schluss erstellt der Klient eine To-do-Liste für die nächsten vier Wochen.
Sechs Wochen vor Amtsantritt schlägt „das Imperium“ schon zurück: Die Fraktion und der Fraktionsvorsitzende machen meinen Klienten – jetzt, wo es ernst wird – mit den Einschränkungen des Jobs vertraut. Nein, es wäre nicht nötig, sich auf einzelne Termine exakt vorzubereiten. Nein, es wäre nicht üblich, gemeinsam mit dem Pressesprecher alle öffentlichen Auftritte wahrzunehmen. Nein, es ist viel besser, auf Journalistenfragen nicht zu antworten, sondern einfach die vorbereitenden Sätze wiederzugeben. Nein, Neuerungen in den Prozessen innerhalb der Partei wolle wirklich niemand et cetera, et cetera.
Mein Klient sucht emotionale Unterstützung. Gemeinsam sortieren wir aus:
Er will versuchen, die Gratwanderung zwischen Anpassung an bestehende Usancen und seiner eigenen Überzeugung, wie Politik gemacht werden muss, zu probieren. Wir legen als zusätzlichen externen Maßstab die Definition von Political Leadership aus der einschlägigen Literatur an und diskutieren, was realiter machbar, was noch Illusion ist. Wesentliche Elemente dieses Diskurses dienen gleichzeitig der inhaltlichen Vorbereitung für den Team-Workshop.
An diesem Tag oszilliert die Rolle des Coachs besonders: von der wachsamen Zuhörerin zur Sparringspartnerin, von der Expertin mit Einblick in verschiedene Fraktionskulturen zur Kraftspenderin und Mutmacherin und schließlich zur strategischen höchstpersönlichen Beraterin. Der Klient entschließt sich bewusst, seine neue Aufgabe als „proaktive von Expertise getragene Charmeoffensive“ anzulegen.
Obwohl am Wochenende angesetzt, kann aus dem ganzen Tag nur ein halber Tag werden. Zu eng sind einfach mittlerweile die Termine gesetzt. Antrittspressekonferenz und Antrittsrede vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erhalten den letzten Schliff. Outfit, Frisur und Accessoires für die ersten Termine werden besprochen.
Das Ergebnis spricht für sich: Die Medienberichterstattung ist durchgehend positiv, die Botschaften wurden 1: 1 genauso zitiert, wie sie gesagt wurden, die Opposition zeigt sich freundlich und selbst schwierige Charaktere innerhalb der Gemeinde sind fürs Erste zurückhaltend.
Das nächste Projekt ist der Start-Workshop für die direkten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bei diesem Workshop gibt es ein paar Fixpunkte im Ablauf: Allen voran die einleitende Rede des neuen Bürgermeisters selbst – eine etwas überarbeitete Version der Elevator Speech – eine Kurzvorstellung des Büroleiters sowie eine Präsentation des Kommunikationskonzeptes der nächsten zwölf Monate aus der Werkstatt der Pressestelle.
Alle drei Reden jeweils gefolgt von Diskussionsrunden sowie einer Kennenlernübung für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Damit gelingt es, einerseits Orientierung zu geben, andererseits aber auch den nötigen Freiraum für Fragen, Kommentare und Ergänzungen zu schaffen – kurz einander näher zu kommen.
Am Nachmittag muss der Sack nun zugemacht werden. Drei Arbeitsgruppen greifen die vorgegebenen inhaltlichen Schwerpunkte auf, erarbeiten und präsentieren Vorschläge für reibungslose interne Abläufe dazu. Vertiefung in Kleingruppen und anschließender Austausch von Ideen funktioniert auch in der politischen Umgebung gut.
Wesentlich für den Erfolg sind hier meine vertraulichen Telefonate mit allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor dem Workshop. Auf diese Wiese konnte ich die jeweiligen Befindlichkeiten sowie Anregungen vorab kennenzulernen. Gerade in der Politik, wo jegliche Form der persönlichen Ansprache und Steuerung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingeschränkt ist oder fehlt, sind derartige Ventile, sich äußern zu können, besonders hilfreich. Sie stabilisieren von vornherein das Vertrauen in die Veranstaltung und letztlich auch in mich als Coach und Moderatorin.
Denn mir gegenüber als Coach des neuen Vorgesetzten liegt der Verdacht nahe, ich könnte grundsätzlich voreingenommen sein – ein Verdacht, der sich so auflösen lässt.
Mit diesem Workshop ist das Projekt Coaching für meinen Klienten vorläufig beendet. Jetzt gilt es, die Erfolge der ersten 100 Tage in Balance zu halten, das erste gute Standing auszubauen und greifbar zu machen. In einigen Monaten wird er sich wieder melden. Und wir werden evaluieren und analysieren, was aus seinen Zielen und Ansprüchen, was aus seiner proaktiven, von Expertise getragenen Charmeoffensive inzwischen geworden ist.
In der Arbeit mit Politikerinnen und Politikern ist jeder Coach gleichzeitig auch „Kundschaft“, weil potenzieller Wähler. Da ist zu Beginn die Verlockung, in die Arbeit mit Politikerinnen und Politikern eigene persönliche politische Ideen oder Ziele einfließen zu lassen, groß. Gleichzeitig hat meine nunmehr zwölfjährige Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern aus vier verschiedenen Fraktionen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene eben jenen staatsbürgerlichen Zugang zu dieser Gruppe stark relativiert: Ich habe erkannt, welchen großen verschiedenartigen Belastungen diese Leute ausgesetzt sind, denen sie fast schon systembedingt kaum gewachsen sein können.
Und zum anderen weil mir in einer Deutlichkeit, wie nie zuvor klar wurde, wie unfassbar schütter die Politik strukturell mit Themen wie professionelle Führungsfähigkeiten, strategische Personalentwicklung oder aktuellem Wissen in Bezug auf Change Management umgeht.
Führung im Interesse des Gemeinwohls ist ein Geschäft, das – anders als in Wirtschaft, Sport, Kultur oder der öffentlichen Verwaltung – quer durch die Fraktionen nicht in dem nötigen und bekannten Ausmaß, proaktiv und systematisch für mehr Exzellenz ihrer Repräsentanten sorgt. Hier hat die Politik meiner Meinung nach einen hohen Aufholbedarf.
Deshalb hat Coaching – und das ist die gute Botschaft – im klassischen Sinn wie im Fach-Coaching-Bereich – im Umfeld der Politik besonders gute Chancen. Allerdings muss man sich als Coach in der Szene darauf einstellen, dass der Auftrag fast immer kurzfristig und mit voller Wucht daher kommt.