Visual Profiling ist ein Werkzeug für Coaches zur Reflexion und Nutzung aller kommunikativen Einflüsse auf ein Coaching. Insbesondere dient es der Erkennung und Analyse aller Signale der Klienten (Verhalten, Körpersprache, Gestik, Mimik, Stimme). Es sensibilisiert für die Wahrnehmung aller Außeneinflüsse im Gesamtsetting (Raum, Geräusche, Personen) und hilft dem Coach, die eigenen Kommunikationsmuster und Verhaltensweisen zu hinterfragen. Zweck ist es, ein Gesamtprofil der Situation und aller beteiligten Persönlichkeiten zu erstellen und für den Coaching-Prozess nutzbar zu machen.
Das Tool kann im Einzel- und Gruppen-Coaching sowie in allen Auftaktgesprächen mit Vorgesetzten und der Personalabteilung eingesetzt werden. Es ist in allen Phasen eines Coaching-Prozesses hilfreich, um Zusammenhänge zu verstehen und professionell zu agieren. Eine wertvolle Unterstützung bietet es vor allem in den ersten Begegnungen, um die Gesamtsituation, alle Beteiligten, ihre Einstellungen, Absichten und Ziele einschätzen zu können.
Visual Profiling beinhaltet (1) die Wahrnehmung der gegebenen Umfeldbedingungen (Ort, Raum, Firma, Hotel) und deren mögliche Einflüsse und Bedeutungen im und für den Gesamtprozess; (2) das Beobachten und die Analyse der Gesamtkommunikation, d. h. aller sprachlichen Kommunikationsmuster, der Gestik und Mimik sowie des äußeren Erscheinungsbildes der Beteiligten in einem Coaching (Klient, Auftraggeber, Personaler, Chef, andere); (3) die optimale Entwicklung der eigenen Beobachtungsgabe und Reflexionsfähigkeit seitens des Coachs:
Hintergrund: Die Arbeit eines Coachs fokussiert sich auf vier entscheidende Ebenen der Lebensrealität und Persönlichkeit seines Klienten: (1) seine kognitive Realität (Was glaubt er? Welche Überzeugungen treiben ihn an? Was erkennt er, was nicht?); (2) seine Emotionalität (Was bewegt ihn, wann und wie? Was nicht? Was liebt er, was fürchtet er?); (3) seine Verhaltensweisen (Wie geht er vor? Was zieht ihn an, was stößt ihn ab, was vermeidet er?); (4) die in seinem Körper manifestierten kognitiven und emotionalen (Lebens-)Haltungen, Erfahrungen und Gewohnheiten (siehe 1–3). Sie zeigen sich oft in seiner Physiognomie (Gesichtszüge, Körperhaltung, Verspannungen), in Form von Hautveränderungen (Farbe, Struktur, Zustand), spezifischen Bewegungsabläufen (stockend, schnell, langsam, hinkend, fließend) sowie in Gestik, Mimik und Art seiner Sprache.
Absicht: Mit Visual Profiling lernt der Coach, systematisch-konzeptuell zu beobachten, um so die gesamte Persönlichkeit und Lebensrealität seines Klienten zu verstehen. Er erfasst möglichst viele Kommunikationsebenen und -kanäle (die kommunikative Gesamtwirkung) einer Coaching-Sitzung und beschränkt sich nicht nur oberflächlich auf Sprache und Worte. Ziele sind das Verifizieren von Inhalten der verbalen Kommunikation sowie das Erkennen von unbewussten Signalen, Inkongruenzen und Divergenzen, ungenutzten Ressourcen, schädlichen Denk- und Verhaltensmustern, verdeckten Wünschen, Ängsten, Überzeugungen und Vermeidungsstrategien. Visual Profiling ermöglicht es dem Coach, Showmaker, Dramaqueens, Narzissten, Psycho- und Soziopathen zu entlarven sowie generell Hinweise auf krankheitswertes Verhalten zu erkennen.
Benefit: Der Coach stellt sich als Profi optimal auf, entwickelt für sich und seine Klienten wertvolle Analysefähigkeiten und ist stets auf kommunikativer Ballhöhe – manchmal sogar einen Schritt voraus. Er versetzt sich in die Situation, mehr Informationen zur Verfügung zu haben, um die sich entwickelnde Lage besser beurteilen und angemessene Schritte initiieren zu können. Seine Beobachtungsfähigkeit ermöglicht ihm, Zusammenhänge zu verstehen, verdeckte Absichten – „Hidden Agendas“ – der beteiligten Bereiche zu erkennen und ein Gespräch oder einen Auftrag rechtzeitig in andere Bahnen zu lenken – oder sogar abzubrechen oder abzulehnen.
Visual Profiling lebt von der intensiven Präsenz des Coachs und seiner Fähigkeit, die Situation und alle beteiligten Menschen – einschließlich sich selbst – gut zu beobachten und einzuschätzen. Das Tool beinhaltet vier Phasen, sich optimal auf eine Situation vorzubereiten, in sie hineinzufinden und die bestmöglichen Wahrnehmungsergebnisse zu erzielen.
Der Coach bereitet sich intensiv auf die Sitzung vor. Er stellt sich inhaltlich und mental auf die zu erwartende Situation ein und geht in Gedanken die bisherigen Geschehnisse sowie die anstehenden Themen durch. Der Coach ist mit sich selbst im Reinen, er ist fokussiert und hat sich bestmöglich auf die beteiligten Personen vorbereitet. Er weiß, welche Rolle er im Gesamtprozess innehat und welche er in der kommenden Sitzung vertritt. Er hat in den Vorgesprächen geklärt, was von ihm erwartet wird.
In einigen Situationen ist es sehr hilfreich, wenn sich der Coach im Vorfeld einer Sitzung mit Worst-Case-Szenarien beschäftigt, die eintreten könnten. Beispiele: Der Klient oder andere Beteiligte sind plötzlich auffällig aggressiv oder unerwartet inaktiv, es werden versteckte Absichten und Manipulationsversuche erkennbar, der Klient will trotz hervorragender Schritte und Entwicklungen alles hinschmeißen, die Personalabteilung oder der Vorgesetzte bricht aus finanziellen oder anderen Gründen den Coaching-Prozess ab, der Coach bekommt die „Schuld“ für bestimmte Entwicklungen in die Schuhe geschoben u.v.m.
Der Coach bereitet sich mental auf die Sitzung vor und stellt sich auf hundertprozentige Präsenz und Fokussierung ein. Ziel: Ausstrahlung von Gelassenheit und Souveränität.
Der Coach konzentriert sich auf die Sitzung und vergewissert sich in den Momenten vor der Sitzung, inwieweit er sich an diesem Tag im Stande sieht, in seiner Wahrnehmung zu zirkulieren. Zu den Fähigkeiten und Aufgaben eines Coachs gehört es, jenseits der inhaltlichen Aspekte in drei immer wiederkehrenden Intervallen alle wichtigen Perspektiven und Ebenen einer Sitzung zu erfassen. Hierfür führt er eine permanente Wahrnehmungszirkulation durch.
Sequenz 1
Der Coach beobachtet sich selbst. Er nimmt seine körperliche Befindlichkeit und seine somatischen Marker sowie seine emotionale Situation bewusst wahr. Indem er ergründet, wie es ihm selbst geht, kalibriert er die Referenzgröße seiner aktuellen Wahrnehmungsfähigkeit und Empathie. Von dieser Grundjustierung wird es im Weiteren abhängen, ob und wie der Coach die folgenden Situationen erkennen, werten und deuten wird.
Sequenz 2
Seine Aufmerksamkeit und Wahrnehmung verschiebt sich in Richtung seiner Klienten und der weiteren Anwesenden. Er stellt sich auf alle Personen ein, beobachtet sie intensiv und ergründet – wie zuvor bei sich selbst – über die Wahrnehmung aller bewussten und unbewussten kommunikativen Signale wie Aussprache, Klang der Stimme, inhaltliche Plausibilität, Geräusche, Mimik, Bewegungen (Körpersprache) und anhand des Gesamteindrucks deren körperlichen, mentalen und seelischen Zustand.
Sequenz 3
Den Abschluss der Wahrnehmungstrilogie bildet die dritte Perspektive, die Metabetrachtung. Der Coach begibt sich in Gedanken in die Rolle des Beobachters des Gesamtsettings und ergründet, wie es allen Beteiligten – einschließlich seiner eigenen Person – miteinander und unter den Einflüssen des gesamten Rahmens geht. Diese Beobachtung erfordert die Abstraktion und Reflexion aus der Sicht einer außerhalb des Settings befindlichen Person mit Blick auf das Gesamtgeschehnis. Die Einnahme dieser Wahrnehmungsperspektive erfordert einige Zeit der Übung. Sie dient dazu, herauszufinden, wie die Beteiligten in der Gesamtkonstellation miteinander umgehen (Abtasten, Taktieren, Sympathie, Aversionen, Unsicherheiten, verdecktes Verhalten), ob es Faktoren von außerhalb gibt, die offen oder subtil Einfluss nehmen (Geräusche, Musik, Vibrationen, Gerüche, Temperatur, Lichtveränderungen, weitere Ablenkungen) und inwieweit das Gesamtsetting hilfreich oder hinderlich für die Kommunikation und die Kommunikationskultur der Beteiligten und deren Ziele ist.
Der Coach zieht seine Schlüsse aus den Wahrnehmungen und nimmt gegebenenfalls Veränderungen am Gesamtsetting vor, fällt seine Entscheidungen in Bezug auf sein eigenes Vorgehen neu oder sieht sie bestätigt. Nach Sequenz 3 beginnt der Coach wieder bei Sequenz 1 und erneuert seine Eindrücke. Er rotiert somit laufend zu den verschiedenen Ebenen, beobachtet, beurteilt zeitnah neu und passt sein Vorgehen ständig an.
Bereits in der Annäherungsphase (Gelände, Gebäude, Eingang, Empfang, Treppe, Aufzug, Stockwerk, Gang, Raum) nimmt der Coach das gesamte Umfeld und dessen Ausstrahlung wahr. Mit Beginn der Begegnung konzentriert er sich mit offenen Sinnen aufmerksam auf das Umfeld, die Gesamtsituation und seine Gesprächspartner, beobachtet genau und nimmt so viele Informationen und Hinweise auf die tatsächliche Motivation und die Absichten der Beteiligten wie möglich wahr. Folgende (komprimiert dargestellte) Beobachtungsperspektiven stehen ihm zur Verfügung.
Umfeld
Der Coach prüft, inwiefern äußere Faktoren wie die Lage, Helligkeit, Temperatur oder Gerüche Einfluss auf die Befindlichkeiten der Beteiligten, ihre Kommunikation und das Gesamtsetting nehmen bzw. Ausdruck der Haltungen der Gesprächspartner (z.B. Sitzkonstellation: Wer sitzt wo? Stammplätze oder freie Wahl? Geschützt oder herausfordernd offen, Sitzmöbel unterschiedlich?) sein könnten. Weitere relevante Aspekte sind u.a.:
Begegnung
In der Begegnung mit den Beteiligten fokussiert der Coach auf das (auch nonverbale) Kommunikationsverhalten sowie die Atmosphäre des Gesprächs (einladend, entspannt oder angespannt, erwartungsvoll, Druck?). Aus seinen Eindrücken leitet er z.B. Schlüsse bezüglich des emotionalen Befindens oder möglicher Machtstrategien der Beteiligten ab. Relevante Beobachtungen sind u.a.:
Körper
Wie einleitend dargelegt wurde, kommen Haltungen, Erfahrungen und Gewohnheiten einer Person häufig in physiognomischen Merkmalen zum Ausdruck. Der Coach achtet u.a. auf:
Stimme, Kopf und Gesicht
Im Gespräch mit den Beteiligten achtet der Coach auf Stimmfarbe, -vibration und Intonation. Fällt die Stimme eines Gesprächspartners hoch, tief, sonor, flach, zittrig, sicher, unsicher oder gepresst aus? Weitere (physiognomische etc.) Beobachtungpunkte sind u.a.:
Die ersten Wahrnehmungen sollten bereits während der Sitzung schriftlich festgehalten werden. Interessant sind alle wichtigen Sachinformationen, die subjektiven Eindrücke des Coachs, seine emotionalen Befindlichkeiten, seine Beobachtungen hinsichtlich der körperlichen und emotionalen Signale der Beteiligten und alle weiteren Auffälligkeiten. Unmittelbar nach jeder Sitzung sollten diese Aufzeichnungen vervollständigt und mit den spontan-subjektiven Eindrücken und Deutungen des Coachs angereichert werden. Es kommt vor allem auf das zeitnahe Festhalten der Erinnerungen und Emotionen aus dem Kurzzeitgedächtnis an. Am Folgetag werden viele wertvolle Informationen nicht mehr abrufbar sein.
Der Coach ordnet die Beobachtungen dem Coaching-Prozess, seinem Auftrag sowie den formulierten Zielen und den Vorhaben im Gesamtprozess und in dieser Sitzung zu und führt eine Plausibilitätsprüfung aus der Metaperspektive durch. Er stellt sich selbst ebenfalls auf den Prüfstand und reflektiert sein Vorgehen. Er strukturiert die erkennbaren zukünftigen Themen und Kommunikationsfelder, skaliert die Prioritäten, entwickelt eine Strategie und stellt einen Handlungsplan für die kommenden Begegnungen auf. Kurz vor der nächsten Sitzung bereitet er sich mit Hilfe seiner Aufzeichnungen erneut vor, verinnerlicht die seinerzeitigen emotionalen Eindrücke und überprüft seine bisherige Strategie. Falls erforderlich, bessert er nach, bezieht neue externe Informationen mit ein und ist somit bestmöglich vorbereitet.
Benötigt werden: Coaching-Ausbildung, Lebens- sowie intra- und interpersonale Erfahrung, gute Beobachtungsgabe, Konzentrations- und Fokussierfähigkeit, Bereitschaft und Fähigkeit zu intensiver Reflexion und Perspektivenwechsel, Souveränität im Umgang mit Klienten und der Gesamtsituation.
Menschen und Teams merken oft selbst nicht, in welcher emotionalen (Ausnahme-)Situation sie sich mitunter befinden und dass sie sich etwas vormachen oder zumindest unbewusst der Realität ausweichen. Dann und wann tischen sie ihrem Gegenüber – bewusst oder weniger bewusst – eine Lüge oder unvollständige Wahrheit auf, um ihre Position zu verbessern oder Absichten zu verschleiern. Es ist jedem Coach ans Herz zu legen, sich mit Visual Profiling intensiv zu beschäftigen, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die uns unsere Sinnesorgane und unsere Fähigkeit zur Beobachtung anbieten. Ein Mehrwert wird sehr schnell erkennbar, der Coach öffnet den Blick und versteht die Zusammenhänge.
Vorbereitete Notizmöglichkeiten (Block, Buch, Laptop, Tablet) und Übung mit systematisiertem Notieren und Skizzieren der eigenen Wahrnehmungen, Eindrücke und Emotionen sind hilfreich.