Selbstgemalte Bilder sind schon seit längerem in Coaching-Prozessen oft anzutreffen: Sie sind beispielsweise potentielle Medien für Analyseprozesse von Organisationen, für biografische Selbstreflexion und auch für Rollenanalysen an der Schnittstelle zwischen Person und Organisation. Gerade bei letzterem Punkt kann das Malen von Bildern besonders hilfreich sein, um komplexe Prozesse und auch Verwicklungen zu verstehen bzw. zu erkennen. Denn oftmals haben gemalte Bilder eine viel größere Ausdruckskraft und Verstehensebene als das gesprochene Wort, und so lässt sich auch ein deutlicher Zusammenhang erkennen zwischen den inneren Bildern und den gemalten „äußerlichen“ Bildern.
Dieser positive Effekt von gemalten Bildern lässt sich auch übertragen auf den Einsatz von Fotografien im Coaching-Prozess. Gerade die Alltagsfotografie mit ihren vielfältigen scheinbar alltäglichen Situationen übt eine besondere Faszination aus, da so das Alltagsgeschehen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet bzw. fotografiert werden kann, was beim Betrachter selbst zur Reflexion des Gesehenen in verschiedenen Kontexten sowie häufig auch zu einer Perspektiverweiterung und zu einem Perspektivwechsel führt.
Daneben können Fotos auch zur Visualisierung von eigenen Wünschen und Zukunftsperspektiven eingesetzt werden, sowie als Bildsprache von eigenen Zielen und Wertvorstellungen.
Durch die Methode des Fototellings* wird die fotografische Übersetzung als Reflexionsinstrument für ausgewählte Fragestellungen im Coaching-Prozess genutzt und die Wahrnehmung des Klienten für seine Arbeitsumgebung, aber auch für persönliche Fragestellungen durch den Einsatz eigener Fotografien sensibilisiert.
So werden oftmals auch „Geschichten hinter den Bildern“ vermittelt, die für den Coaching-Prozess hilfreich sind – die „Realität in Bildern“ ist eine gute Ergänzung zur sprachlichen Darstellung (z.B. der Führungsrolle). Letztlich ist es eine besondere Form der (teilnehmenden) Beobachtung mit Hilfe von Fotografien – weniger die Deutung von Fotografien als vielmehr das Fotografieren selbst kann als Prozess des Erkenntnisgewinnes gesehen werden.
Prinzipiell gilt auch für Coaching-Prozesse im Rahmen von Fototelling, dass es sich um einen personenzentrierten interaktiven Beratungs- und Begleitungsprozess handelt, der berufliche aber auch persönliche Themen umfassen kann. Das Coaching-Angebot ist auch hier ein prozesshaftes Angebot, d.h., es werden keine Lösungsvorschläge angeboten und vor allem auch keine Interpretationen der Fotografien gemacht, sondern der Klient wird in seinem Entwicklungsprozess begleitet und dabei unterstützt, eine eigene, für ihn passende Lösung zu entwickeln.
Durch das Coaching im Kontext von Fototelling werden Reflexionsprozesse angestoßen, die in Abhängigkeit von den biografischen Voraussetzungen in unterschiedlicher Intensität erfolgen können. Selbstreflexivität ist eine Kompetenz, die durch einen Coaching-Prozess angeregt werden kann und somit neue Handlungsoptionen ermöglicht.
Generell gilt, dass im Coaching-Prozess Wirkungen, Wirksamkeiten und Wirkfaktoren noch nicht umfassend erforscht sind, sie aber insgesamt als sehr positiv betrachtet werden. Mögliche allgemeine Wirkfaktoren sind z.B. die Selbstreflexion, die Zielklärung und die Ressourcenaktivierung. D.h., erfolgreiche Coaching-Ergebnisse sind abhängig von der beobachtbaren Wertschätzung im Sinne einer wertschätzenden Beziehungsgestaltung und emotionalen Unterstützung sowie Ressourcenaktivierung als Hilfe zur Selbsthilfe und Begleitung in Prozessen der Umsetzung.
Durch Fototelling sollen vor allem folgende Wirkungen im Coaching-Prozess gefördert und unterstützt werden:
Ferner wurden bisher die im Folgenden aufgezählten Einsatzmöglichkeiten des Fototellings erprobt. Hier wurden positive Wirkungen wahrgenommen und evaluiert. Gerade bei Klienten aus dem Gesundheits-, Bildungs- und Hochschulbereich wurde diese Methode als sehr anschlussfähig erlebt.
Diese Auflistung zeigt nur exemplarisch, wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten sein können. Die Vorteile sind nicht zuletzt durch den unkomplizierten Umgang mit Digitalkameras oder Smartphones gegeben. Ebenfalls sind der Kreativität im Einsatz von Fotografien keine Grenzen gesetzt.
Storytelling ist unter anderem eine Erzählmethode, mit der auch implizites Wissen durch Zuhören aufgenommen wird. Analog dazu wird auch bei der Methode des Fototellings Implizites und scheinbar Belangloses über das Foto aufgenommen.
Der Unterschied liegt dabei lediglich im genutzten Medium, mit dem die Metapher ausgedrückt wird: Dort die erzählte Geschichte, hier die Fotografie. Entsprechend kann die Fotoserie, das heißt die erzählte Fotogeschichte, über die ausgewählten Fotografien im Coaching-Prozess begleitet und bearbeitet werden.
Grundsätzlich bekommen im Fototelling die aktuellen im Coaching-Prozess zu bearbeitenden Themen des Klienten dadurch eine neue Aufmerksamkeit und ggf. auch eine größere Lebendigkeit über die Art und Weise, wie die Fotogeschichte erzählt wird und auch wie sie entstanden ist.
Dabei ist es wichtig, dass das Fotografieren selbst sehr spontan erfolgt, sozusagen all das aufgenommen wird, was dem Klienten eher zufällig vor die Linse kommt. Auch bei der Vorstellung im Coaching-Prozess kann die spontan gewählte Reihenfolge eine besondere Bedeutung für den Klienten haben, die im Coaching-Prozess vom Coach thematisiert werden kann.
Die Fokussierung des Klienten als Fotografen bzw. Erzähler über das Medium der Fotografie kann einerseits das Gesamte, d.h. den Kern, betreffen oder, was viel häufiger vorkommt, die Konzentration auf scheinbar banale Einzelphänomene. Oft wirken die fotografierten Themen weiter oder gehen in einen Reifeprozess über, der in ganz unterschiedlichen Phasen im Coaching-Prozess wieder aufgegriffen werden kann.
Der Klient fotografiert selbst. Die „Fotografen-Rolle“ des Klienten ist das elementare Herzstück des Konzepts. In der Regel wird der Klient von dem Coach angeregt, ausgewählte Fragestellungen aus dem Coaching-Prozess fotografisch umzusetzen bzw. die aktuelle Situation in ein fotografisches Bild oder in eine Fotoserie zu gießen.
Diese Fotos bringt der Klient dann in die nächste Sitzung mit – die Anzahl der Fotos schwankt erfahrungsgemäß in der Regel zwischen zehn und 30 Fotos. In der Coaching-Sitzung stellt der Klient dem Coach seine ausgewählten Fotos, seine Fotoserie, Fotostrecke oder sein Fotothema (in der Regel digital, aber auch Fotoabzüge sind denkbar) vor und gemeinsam wird diese Fotoauswahl im Kontext des Coaching-Anlasses bearbeitet und reflektiert.
Bestandteil des Reflexionsprozesses ist unter anderem, aus welcher Perspektive bzw. von welchem Standort aus die Fotos gemacht wurden: Die Suche nach dem geeigneten Standort ist häufig verbunden mit dem Offensein für Neues und ggf. auch für Überraschungen.
Eine gute Empfehlung ist, sich beim Fotografieren „treiben zu lassen“, es ohne konkrete Fragestellung zu tun und sich von dem, was kommt, überraschen zu lassen. Wer selbst fotografiert, kann sich in der Regel leichter an den Moment des Fotografierens erinnern und kann somit sehr schnell die damit verbundene Emotion wachrufen.
Da das Methodensetting des „Klienten als Fotograf “ insbesondere in eher sprachdominierten Coaching-Prozessen überraschend für den Klienten wirken kann, gilt es hier mögliche Irritationen und Vorbehalte offen anzusprechen oder ggf. eine andere Methode zu wählen.
Die Methode des Fototellings eignet sich prinzipiell für alle Klienten. Aber es ist zu empfehlen, diese Methode dann einzusetzen, wenn die Klienten eine Präferenz zu analogen Methoden haben und einen Zugang zum Fotografieren.
Das eigenständige Fotografieren des Klienten kann unterstützen, den eigenen „Blick“ zu finden, sich ein „Bild“ zu machen und somit insbesondere die Selbst-Reflexion unterstützen. Ebenfalls kann der Prozess des Fotografierens dazu beitragen, direkt bei dem Fotografieren bereits erste Lösungsideen zu entfalten, indem sich über die eigene Fotoserie eine Geschichte entwickelt.
Darüber hinaus kann der Klient über das Fotografieren seine eigene „Bildsprache“ finden – gerade bei Klienten, die eher Mühe mit sprachlich selbstreflexiven Prozessen haben, ist das Medium der Fotografie sehr hilfreich und unterstützend.
Die Methode des Fototellings eignet sich prinzipiell für alle Coaching-Prozesse bzw. Coaching-Anlässe. Es ist aber auch hier zu empfehlen, diese Methode dann einzusetzen, wenn der Coach eine Präferenz zu analogen Methoden und auch eigene Erfahrungen mit dem Medium der Fotografie im Coaching-Prozess hat, sowie eine Sensibilität im Umgang mit Fotografien.
Die Grenzen der Methode liegen, wie jene anderer Methoden, die sehr stark die emotionale Seite berühren können, im Grenzbereich zur Therapie und müssen daher mit besonderer Sorgfalt eingesetzt bzw. angeleitet und begleitet werden.
Gleichermaßen ist ein sensibler Umgang mit den Fotos wichtig, vor allem dann, wenn Personen darauf abgelichtet sind oder wenn Fotos in der Arbeitsumgebung aufgenommen wurden. Hier gilt es, die Prämissen von Vertrauensschutz und Diskretion einzuhalten bzw. mögliche Fotografieverbote zu respektieren oder sich die Erlaubnis zum Fotografieren einzuholen.
Im Kontext von Fototelling sind im weiteren Sinne noch die im Folgenden beschriebenen Varianten denkbar.
Ein Beispiel aus der Coaching-Praxis sei hier exemplarisch vorgestellt: Eine Klientin, die als Projektleiterin ein großes öffentlichkeitswirksames Event organisiert hatte, inklusive eines professionellen Fotografen für die Dokumentation der Veranstaltung, hat bei der Analyse jener Fotos des Profifotografen festgestellt, dass sie selbst immer nur verdeckt von Führungskräften oder im Hintergrund verschwommen zu sehen und nur auf einem einzigen Foto deutlich sichtbar ist.
Auf diesem Foto, so die Klientin in ihrer Beschreibung, sehe sie aus – weil gerade durch den Regen nass geworden – wie „ein begossener Pudel“. Darüber hinaus sei sie für den Außenstehenden irrtümlicherweise deutlich als Servicekraft, die gerade Sektgläser serviert, wahrnehmbar.
Dies entsprach natürlich nicht ihrer Rolle, aber in diesem Moment ist sie tatsächlich für eine ausgefallene Servicekraft kurz eingesprungen. Diese Reflexion hat ihr die Augen geöffnet und sie hat erkannt, dass sie in diesem Unternehmen offenbar im Hintergrund und unsichtbar bleibt und darüber hinaus in der Außenwirkung auch noch Tätigkeiten übernimmt, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen.
Für den „normal belasteten“ Menschen kann die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie als das Verstehen aktueller Handlungen vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte gesehen werden. Sich wiederholende Verhaltens- und Beziehungsmuster und das Annehmen und Versöhnen mit der eigenen Geschichte können eine Möglichkeit zur Identitätsfindung darstellen.
Methoden und Medien der biografischen Selbstreflexion sind neben dem Malen von Bildern auch das Visualisieren über Fotos wie z.B. Kinderbilder oder Familienfotos, die einen Zugang zu vergessenen Erinnerungen und Gefühlen ermöglichen.
Gerade private Fotos in Ergänzung von Quellen, aus denen sich nicht nur das eigene Leben rekonstruieren lässt, sondern auch die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen des Aufwachsens und möglicherweise auch Einflüsse auf die familiale und schulische Sozialisation, bieten sich als Reflexionsrahmen besonders an. Mögliche Reflexionsfragen können sein: „Wie sieht der Klient sich im Rückblick als Kind, als Jugendlicher, als Student und wie ist seine Position auf den Fotos, wie ist die häusliche oder ggf. schulische oder hochschulische Umgebung auf diesen Fotos?“
Neben der biografischen Reflexion können die vorhandenen Fotos wie Kinderbilder, Bilder aus der Schule oder aus Ausbildung und Studium auch nachfotografiert werden und somit kreativ nachgestellt werden.
Der Unterschied dieser Variante zu den vorigen liegt darin, dass der Klient eine Fotoauswahl von gesammelten Bildern mitbringen kann, die zwar von ihm selbst nicht aufgenommen wurden oder aber auch nicht in einem persönlichen und beruflichen Kontext stehen, aber mit einem emotionalen Bezug bzw. mit einem Bezug zum aktuellen Coaching-Anlass ausgewählt wurden.
Aktuell gibt es in der Literatur nur sehr wenige Konzepte, die die Methode bzw. die Metapher der Fotografie im Kontext von Beratung und Coaching aufgreifen und einsetzen. Zwei Beispiele seien hier genannt.
Bei der Methode der „sozialen Photo-Matrix“ von Burkhard Sievers liegt die Annahme zugrunde, dass über die Arbeit mit den Fotos ein Zugang z.B. zu Arbeitsprozessen gefunden wird, der eher unbewusst ist. D.h., die Methode soll ein tieferes Verständnis dessen ermöglichen, was sich unter der Oberfläche der Arbeit verbirgt. Bei dieser Methode spielt der Fotograf keine Rolle bzw. bleibt im Hintergrund – von Interesse ist die Fotografie selbst als Medium für neue Gedanken.
Ein weiteres Konzept, „Photoprofiling“ von Karmen Kunc-Schultze, fokussiert sich vor allem auf den Einsatz von Fotografien bei der Potenzialentwicklung. Bei diesem Konzept scheint sich die Arbeit mit Fotografien stark auf die Person bzw. die Persönlichkeitsentwicklung zu konzentrieren.
In Ergänzung bzw. zum Teil auch in Abgrenzung zu den beiden genannten Konzepten fokussiert sich Fototelling vor allem auf ganz unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten, z.B. an der Schnittstelle zwischen Person und Organisation. Fotografie macht sichtbar, was ohne Fotos vielleicht nicht wahrgenommen werden könnte und der Klient ist Fotograf und Erzähler gleichermaßen.
Die Konzeption des Fototellings unterliegt einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess und so individuell wie die Coaching-Prozesse sind, so individuell sind auch die Zugänge der Klienten über das Medium des Fotografierens. Der häufig zitierte Satz, dass die meist verstandene Sprache auf der Welt die Bildersprache sei, lässt sich auch im Coaching-Kontext bestätigen, so waren und sind die meisten Coaching-Klienten offen für diese Methode.
Im Rahmen der regelmäßigen Evaluationsprozesse wurde deutlich, dass durch die Methode Fototelling scheinbar unbedeutenden Dingen Aufmerksamkeit geschenkt wird, die aber eine große Bedeutung für den Klienten haben können. Dies ist eine große Chance für den Coaching-Prozess, denn mit Hilfe fotografischer Perspektivveränderung und mit möglichen anderen „Lichtverhältnissen“ lassen sich neue Dinge sehen, neue Möglichkeiten wahrnehmen. Fotografieren kann somit zu einer besonderen Form der Beobachtung werden.
So wurde deutlich, mit welcher Motivation bestimmte Motive fotografiert wurden und dass es so etwas wie eigene Fotothemen oder Fotoserien gibt. Entsprechend hatte ein Klient in einer scheinbar ausweglosen beruflichen Situation Notausgänge in allen nur denkbaren Varianten fotografiert.
Ein anderer Klient hat besondere Stationen und Etappen seines Arbeitsweges fotografiert und zwar vom Aufstehen morgens bis zum Ankommen am Arbeitsplatz, um deutlich zu machen, wie wenig motiviert er sich auf den Weg macht.
Eine Klientin hat in einer Neuorientierungsphase Türen fotografiert. Dieses Motiv hat sie im Coaching-Prozess genutzt, um „hinter die Türen“ zu blicken. Dadurch hat sie Mut gefunden, um den Veränderungsprozess zu realisieren und offen zu sein für das, was sich hinter den Türen verbirgt. Ein Klient – eine langjährige Führungskraft in einem Unternehmen der Gesundheitsbranche – hat unterschiedliche Ausblicke aus seinem Bürofenster fotografiert. Diese Aufnahmen hat er im Coaching-Prozess als Wünsche nach beruflicher Veränderung und Weitblick sowie Neuorientierung interpretiert.
* Beim Namen „Fototelling®“ handelt es sich um einen geschützten Markenbegriff der Autorin.