Coaching-Tools

Niemand ist eine Insel

Ein Coaching-Tool von Anja Mumm

10 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2013 am 15.05.2013

Kurzbeschreibung

Das im Folgenden vorgestellte Coaching-Tool „Niemand ist eine Insel“ ist eine sehr hilfreiche, systemische Analysemethode zur persönlichen Standortbestimmung des Klienten. Es kann hierbei in Bezug auf die unterschiedlichsten Lebenskontexte eingesetzt werden. Lebenskontexte können dabei z. B. sein: Privatleben, Berufsleben, soziales Engagement, Gesundheit u.a.m. Dieses Tool stellt den Klienten in den Mittelpunkt sowohl seiner Betrachtung als auch ins Zentrum der Betrachtung des Coachs. „Niemand ist eine Insel“ – sondern jeder Mensch steht im Kontext mit seinem gesamten physischen und auch psychischen Umfeld. Konkret bedeutet dies, dass jeder Mensch sowohl von seinem Umfeld beeinflusst wird als auch Einfluss auf sein Umfeld hat. Ändert er also etwas bei sich oder für sich, dann wird sich diese Veränderung auch in seinem Umfeld widerspiegeln.

Mit diesem Coaching-Tool kann in sehr kurzer Zeit ein Überblick über die wichtigsten Beziehungen und Rollen im Leben des Klienten geschaffen werden. Auch die Motivatoren sowie Ressourcen bzw. die Fähigkeiten und Stärken des Klienten werden schnell aufgezeigt. Dies geschieht einerseits durch Fragen, die eine vertiefte Reflexion ermöglichen und andererseits durch die Möglichkeit, dieses System visuell darzustellen.

Anwendungsbereiche 

In der Coaching-Praxis des Coachs kann dieses Tool als systemisches Einstiegsinterview eingesetzt werden. Als solches gibt es dem Coach und dem Klienten einen guten Überblick über die im Leben des Klienten relevanten Rollen und Beziehungen. Ebenso hilfreich ist dieses Tool als Analyseinstrument für Anliegen beziehungsweise Probleme im Leben des Klienten. In diesem Fall wird rasch ein Bild entworfen in dem sichtbar wird, wer oder was am Problem des Klienten beteiligt ist. Die Art des Anliegens ist dabei sekundär – es handelt sich hierbei also um eine für fast alle denkbaren Anliegen geeignete Interventionsmöglichkeit.

Zielsetzung und Effekte

Dieses Tool dient der Bestandsaufnahme der beruflichen, privaten und inneren Lebenssituation des Klienten unter Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte. Der Klient erkennt Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Zielsetzungen, Problemstellungen, Wünschen und Lebensvisionen. Gleichzeitig wird für den Klienten und den Coach deutlich, in welchen Bereichen sich ungenutzte Ressourcen (Möglichkeiten, Fähigkeiten, Talente, unterstützende Personen etc.) befinden, die eventuell zur Zielerreichung beitragen können.

Ausführliche Beschreibung

Das Modell ist einfach in der Anwendung und kann sowohl als strukturiertes Interview als auch mit Hilfe von Visualisierungstechniken (Metaplankarten, Flipchart etc. durchgeführt werden.

Für die meisten Klienten hat es sich als hilfreich erwiesen, mit Hilfe von Metaplankarten das System auch sichtbar zu machen.

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Abb.: Grafische Darstellung des Lebensumfeldes des Klienten

1. Schritt

Der Coach bittet den Klienten zuerst einmal alle seine Rollen in seinem Leben zu benennen die ihm spontan einfallen (Vorgesetzter, Kollege, Mitarbeiter, Vater, Mutter, Freund, Lebenspartner etc.). Die genannten Rollen werden vom Coach schriftlich festgehalten. Aufgabe des Coachs ist es hier, den Klienten durch Fragen zu unterstützen, um zu einer vollständigen Auflistung aller Rollen des Klienten zu kommen.

Sobald auf Nachfrage keine weiteren Rollen mehr genannt werden, wiederholt der Coach alle genannten Rollen und bittet den Klienten, sich daraus die drei Rollen auszuwählen mit denen er a) am stärksten identifiziert ist und b) die für das momentane Anliegen des Klienten am wichtigsten erscheinen.

Hat der Klient dabei Schwierigkeiten, kann der Coach unterstützen, indem er die einzelnen Rollen zusammen mit dem Klienten gegeneinander abwägt.

Hilfreiche Fragen an den Klienten hierzu können sein:

  • Stellen Sie sich bitte einmal Ihre einzelnen Lebensbereiche vor und hierzu die Rollen, die Sie jeweils innehaben. Mit welchem Lebensbereich (beruflich/privat) möchten Sie gerne beginnen?
  • Wenn Sie diese Lebensbereiche noch einmal unterteilen sollten, wie könnten diese Unterkategorien benannt werden?
  • Welche Rollen haben Sie jeweils in diesen Unterkategorien? Welche davon sind für Sie zentral und besonders wichtig?
  • Abwägen: Wenn Sie auf die Rolle A oder die Rolle B in Ihrem Leben verzichten müssten – Sie könnten wirklich nur eine davon behalten –, welche würden Sie wählen?

Zur Relevanz für das Anliegen des Klienten: Welche der genannten Rollen ist/sind im Bezug auf Ihr Anliegen besonders relevant? Welche der Rollen werden von Ihrem Anliegen berührt?

2. Schritt

Aus den einzelnen Rollen ergibt sich beinahe natürlich zumeist die nächste Frage:

  • Welche Menschen spielen im Leben des Klienten die wichtigste Rolle?

Es geht hier nicht darum, ausschließlich die beruflich relevanten Beziehungen aufzuzeigen – viele berufliche Ressourcen finden sich in den privaten Umfeldern des Klienten!

Auch diese hält der Coach schriftlich fest, um nach Beendigung der Aufzählung dem Klienten die Namen der genannten Menschen zurückzumelden. Daraus sucht sich der Klient dann wiederum die drei Menschen heraus, die ihm a) am nächsten stehen und b) ihm für das Anliegen am wichtigsten erscheinen.

Hilfreiche Fragen an den Klienten hierzu können sein:

  • Wenn Sie nun die drei soeben definierten wichtigsten Rollen betrachten: Welche Menschen gehören jeweils zu diesen Rollen?
  • Welche dieser Menschen sind Ihnen hier besonders wichtig?
  • Auf einer Skala von 0–10 wobei 0 keinerlei Relevanz bedeutet und 10 die höchste Wichtigkeit: Wie wichtig ist Ihnen dieser Mensch in Ihrem Leben?

Nachdem alle zu den Rollen gehörenden Beziehungen benannt wurden: Welche dieser Menschen stehen Ihnen persönlich am nächsten und sind für Ihr Anliegen wichtig? Bitte reduzieren Sie die Liste auf drei Personen.

3. Schritt

Mit der nächsten Frage bezieht sich der Coach dann auf mögliche Ressourcen, Fähigkeiten oder Ausgleichsmöglichkeiten des Klienten selbst. Es gilt herauszufinden, was den Klienten motiviert, was ihm Freude bereitet. Ziel dieses Schrittes ist einmal herauszufinden, welche Motivatoren den Klienten antreiben. Oft ist es von hier nur noch ein kleiner Schritt zu der Frage nach dem Sinn des Lebens. „Das Leben ist wie eine Rolle im Theater. Es kommt nicht darauf an, dass lange, sondern dass gut gespielt wird.“ Das erkannte bereits der Philosoph Seneca – allerdings wird das in unserer modernen Zeit viel zu selten beherzigt. Es geht zumeist um Gewinnmaximierung, Globalisierung, Produktivität und Effizienz. Persönliche Entwicklung und Sinnsuche des einzelnen Menschen scheinen hier keinen Platz zu haben. Allerdings: erkennt der Mensch, was ihn motiviert und ihm Sinn verleiht und setzt er dies in seinem Leben um, so führt dies zu einer höheren Lebensqualität inklusive nachhaltiger Zufriedenheit. Dieser Schritt berücksichtigt diesen Lebensaspekt.

Hilfreiche Fragen an den Klienten hierzu sind:

  • Womit beschäftigen Sie sich am liebsten?
  • Welche Bereiche Ihrer Tätigkeit sind die, die Ihnen am meisten Freude bereiten?
  • Was sind Ihre Lieblingsbeschäftigungen und was daran ist es jeweils genau, das Ihnen Freude bereitet?
  • Bei welchen Tätigkeiten merken Sie nicht, wie schnell die Zeit vergeht?
  • Was gibt Ihnen Energie, was entzieht Ihnen Energie?
  • Was waren Ihre größten Erfolge in den letzten 5 Jahren, in Ihrem Leben bisher?

Auch hier geht es wieder darum, aus den genannten Beschäftigungen drei herauszufiltern, die für das Anliegen relevant sind und/oder für den Klienten besonders wertvoll erscheinen.

4. Schritt

Im Folgenden geht es dann im Sinne der systemischen Frage „Habe ich etwas übersehen oder vergessen Sie zu fragen?“ oder „Gibt es etwas, dass Sie hierzu noch mitteilen möchten?“ darum, dem Klienten Gelegenheit zu geben, das zu ergänzen, was sonst noch wichtig ist.

Hilfreiche Fragen in diesem Schritt:

  • Was gibt es sonst noch im Leben des Klienten, das bisher noch nicht genannt wurde, jedoch eine wichtige Rolle in dessen Leben spielt?
  • Und was noch? .... und was noch?

(Vielleicht hat der Klient es genannt, jedoch vorher aussortiert, da ja jeweils nur 3 Bereiche übrig bleiben sollten):

  • Sie erwähnten vorhin, dass Sie gerne ...
  • Spielt das hier eine Rolle? Möchten Sie diesen Punkt noch hinzufügen?

Und die oben bereits erwähnten Fragen:

  • Habe ich etwas übersehen oder vergessen, Sie zu fragen?
  • Gibt es etwas, dass Sie hierzu noch mitteilen möchten?

Hier benötigt der Coach viel Fingerspitzengefühl – vielleicht ist es notwendig, vorher gemachte Reaktionen und Beobachtungen wiederzugeben. Zum Beispiel wurde vorher etwas erwähnt, das der Coach über ein Kompliment (im Sinne einer wertschätzenden Beobachtung) zurück ins Gedächtnis bringen kann. Eventuell ist dem Coach in einem der vorherigen Schritte eine Inkongruenz aufgefallen oder er hat das Gefühl, der Klient hat an einer Stelle (da er sich ja auf jeweils drei Rollen/Menschen/Beschäftigungen/Werte reduzieren musste) vermeintlich etwas für ihn Wesentliches dadurch getilgt. Der Coach muss hier sehr vorsichtig mit seinen Hypothesen sein, denn es besteht die Gefahr, in die eigene Wirklichkeitskonstruktion abzurutschen.

Durch die beiden systemischen Abschlussfragen am Ende hat der Klient hier die Möglichkeit, alles was ihm relevant erscheint zu nennen. Diese beiden Fragen haben sich in der Erfahrung und Praxis der Autorin als die mitunter nützlichsten Fragen überhaupt erwiesen (Systemische Abschlussfrage nach Steve de Shazer, 2012). Entweder kommt noch eine Information, die wirklich wichtig ist oder es kommt nichts mehr und macht dann den großen Unterschied, dass nicht der Coach definiert, jetzt etwas anderes zu machen, sondern Coach und Klient über das Fortschreiten der Coaching-Sitzung in einer kooperativen Entscheidung bestimmen.

Und auch hier sollten am Ende möglichst nicht mehr als drei Komponenten übrig bleiben.

5. Schritt

Im Anschluss bittet der Coach den Klienten, die Erkenntnisse zusammenzufassen.

Es konnte die Erfahrung gemacht werden, dass hier häufig entweder bereits die Lösungsmöglichkeiten erkannt werden oder/und das Wesen des Problems deutlich wird. In jedem Fall gewinnen sowohl der Klient als auch der Coach vertiefte Einsichten in das Lebensumfeld des Klienten.

Voraussetzungen und Kenntnisse

Dieses Tool erfordert etwas Erfahrung im Umgang mit systemischen Fragen und die Fähigkeit des aufmerksamen Beobachtens. Alle systemischen Fragetechniken (zirkuläres Fragen, Skalierungsfragen, Ausnahmefragen, ressourcenorientierte Fragen, Wunderfrage, hypothetische Fragen) haben das Ziel, Informationen über das System zu gewinnen und zu verdeutlichen, dass bestimmte Situationen und Lebensumstände von den einzelnen Mitgliedern des Systems unterschiedlich erfahren werden. Die systemischen Fragetechniken dienen einmal dem Informationsgewinn, stellen aber gleichzeitig auch Interventionen dar.

Persönlicher Hinweis

Dieses Coaching-Tool ist sowohl für den Klienten als auch für den Coach leicht nachzuvollziehen und umzusetzen. Es ist daher gut geeignet, um komplexere Zusammenhänge in kurzer Zeit fassbar zu machen. Es ist besonders dann eine einfache und geeignete Methode, wenn der Klient momentan keinen Zugang zu seinen Lösungskompetenzen hat.

Natürlich gibt es verschiedene Interventionstechniken und Modelle, die einen ähnlichen Zweck erfüllen. Der Vorteil von „Niemand ist eine Insel“ ist, dass eine Sitzung gut dafür ausreicht und dass das Tool auch individuell angepasst werden kann.

Technische Hinweise

Die Durchführung des Coaching-Tools „Niemand ist eine Insel“ dauert zwischen 30 und 45 Minuten. Es ist daher auch sehr gut für eine erste Coaching-Sitzung geeignet. Es hat sich als hilfreich erwiesen, die vom Klienten genannten Begriffe auf Metaplankarten zu schreiben und diese sichtbar auf dem Boden auszulegen. Eine Alternative hierzu ist, den Klienten auch noch ein Bild von seinem System zeichnen zu lassen.

Literatur

  • Kindl-Beilfuß, Carmen (2008). Fragen können wie Küsse schmecken. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.
  • Schlippe, Arist von & Schweitzer, Jochen (2010). Systemische Interventionen. Stuttgart: UTB.
  • Shazer, Steve de (2012). Worte waren ursprünglich Zauber. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

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