Coaching-Tools

Die entscheidende dritte Frage

Ein Coaching-Tool von Gerburgis A. Niehaus

10 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2011 am 10.05.2011

Kurzbeschreibung

Das Tool hilft dem Klienten dabei, den eigenen Anteil an und die Verantwortung für eine(r) konfliktreiche Beziehung zu Mitarbeitern, Vorgesetzten oder Kollegen zu erkennen. Dies versetzt ihn in die Lage, den Konflikt für sich persönlich aufzulösen (intrapersonal) und einen konstruktiven Kontakt zu seinen Konfliktpartnern (interpersonal) neu aufzubauen. Darüber hinaus kann die Methode eingesetzt werden, um zukünftige konfliktreiche Situationen und Beziehungen frühzeitig zu erkennen und so zu einer konstruktiven Beziehungsführung mit anderen zu gelangen.

Anwendungsbereiche

Das Tool eignet sich für die Change-Phase im Coaching-Prozess und bietet sich an, wenn der Klient auf der Stelle tritt. Unabhängig von der Hierarchiestufe kann der Klient seine inneren Konflikte und Beziehungen zu anderen Menschen klären und sich auf schwierige Gespräche und Situationen vorbereiten. 

Der Klient lernt, seine Verhaltensmuster aus der Perspektive seines Konfliktpartners zu betrachten. Dadurch wird seine Selbstverantwortung gestärkt und der eigene Anteil an der Beziehung oder dem Konflikt deutlich. Dies macht wiederum einen konstruktiven Umgang mit der Situation und eine Konfliktlösung möglich und ist ein Unterstützungsmittel zur eigenen Persönlichkeitsentwicklung.

Ausführliche Beschreibung

Die Art und Weise, wie Menschen sich gegenseitig Schwierigkeiten bereiten, die Ursache oder Schuld dafür jedoch beim jeweils Anderen suchen, weist viele Varianten auf. Doch der Andere ist auch nur ein Mensch. Und solange man Schuld oder Verantwortung einzig beim Anderen sucht, macht man sich selbst ohnmächtig und gibt zugleich dem anderen die Macht über sich. Die Beschäftigung mit dem eigenen Anteil an einer Beziehung eröffnet eine neue Perspektive: die des Handelnden. Wenn man weiß, welchen Anteil man selbst an einem Konflikt hat, liegt es in der eigenen Macht, etwas daran zu ändern.

Drei Fragen

Der Ursprung der „dritten Frage“ liegt im Buddhismus und wurde im Sinne einer „Innenschau“ (Naikan, Nai = innen, kan =Schau) vom dem japanischen Geschäftsmann Ishin Yoshimoto in den 1940er-Jahren entwickelt. Das Tool arbeitet mit Elementen der Bilanzrechnung übertragen auf soziale Interaktionen. Dabei geht es um Soll und Haben, um Investitionen in Beziehungen zum Konflikt- oder Beziehungspartner, die anhand von drei Fragen überprüft werden. Diese drei Fragen werden, bezogen auf einen vorher definierten Zeitraum (z. B. drei Monate, Wochen, Tage), bearbeitet:

  1. Was habe ich von diesem Menschen bekommen?
  2. Was habe ich diesem Menschen gegeben?
  3. Welche Schwierigkeiten habe ich diesem Menschen bereitet?

Drei einfache Fragen, die oftmals gar nicht so leicht zu beantworten sind. Sehr wichtig ist es, dass der Coach darauf achtet, dass die potenziell sogenannte vierte Frage „Was hat der andere mir angetan?“ nicht gestellt und bearbeitet wird. Diese Frage verschiebt den Fokus von der Selbst- auf die Fremdverantwortung. Damit werden wieder die alten Verhaltensmuster aktiviert, die den Klienten ja offensichtlich in eine Sackgasse geführt haben. Der Einbezug der vierten Frage hebelt das Tool aus.

Bei der Bearbeitung von Klientenanliegen mit diesem Tool ist die Einhaltung der Reihenfolge der soeben genannten drei Fragen entscheidend. Zuerst werden Antworten zur ersten Frage „Was hat dieser Mensch für mich getan?“ gesammelt. Wenn der Coach merkt, dass der Klient sich intensiv mit der Frage beschäftigt und Antworten gefunden hat, wird die zweite Frage „Was habe ich für diesen Menschen getan?“ bearbeitet. Ist das auch soweit abgeschlossen, wird die dritte Frage „Welche Schwierigkeiten habe ich diesem Menschen bereitet?“ gestellt und bearbeitet.

Der Klient arbeitet für sich, beschäftigt sich mit den Fragen und reflektiert für sich die Antworten. Der Coach beobachtet in dieser Zeit den Klienten, hält sich jedoch im Hintergrund. Es kann etwas dauern, bis dem Klienten Antworten einfallen. Dies ist besonders dann möglich, wenn es um eine konfliktreiche Beziehung geht und es Widerstand beim Klienten gibt, sich diesen Fragen zu stellen. Insgesamt kann es hilfreich sein, wenn der Coach immer mal wieder darauf hinweist, dass es unter Umständen Kleinigkeiten sein können, die füreinander getan worden sind. Das hilft insbesondere beim Einstieg in die Arbeit mit dem Tool. Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, die Fragen dem Klienten nicht im Vorfeld zu nennen, sondern schrittweise aufzudecken. Damit richtet sich die volle Konzentration des Klienten auf die jeweils gestellte Frage.

Um dem inneren Prozess beim Klienten genug Zeit und Raum zu geben, ist eine zurückhaltende Haltung des Coachs wichtig. Allerdings sollte er nach Bedarf die Bearbeitung wertschätzend unterstützen. Das ist besonders bei der dritten Frage wichtig, die beim Klienten erfahrungsgemäß starke Widerstände auslösen kann. Hier ist es von Bedeutung, dass der Coach den Klienten konsequent auf die dritte Frage fokussiert und ein mögliches Abschweifen auf die vierte Frage verhindert.

Die Bilanzierung – was habe ich bekommen, was habe ich gegeben – kann sehr gut visuell unterstützt werden. Dazu ist es sinnvoll, pro Frage ein Flipchartblatt zu nutzen. So wird eine (Un-) Ausgewogenheit der betrachteten Beziehungsaspekte visuell offenbar. Die Erfahrung zeigt, dass nach den ersten Widerständen die Antworten für die dritte Frage deutlich mehr Raum beanspruchen, als diejenigen für die ersten beiden Fragen.

Nach Abschluss der Bearbeitung der drei Fragen durch den Klienten reflektiert der Coach mit dem Klienten,

  • wie es ihm in diesem Prozess ergangen ist,
  • welche Lernerfahrungen er für sich gemacht hat und
  • wie er die Erfahrungen für seinen Alltag nutzen wird.

Die Arbeit mit diesen drei Fragen ist eine tief gehende und zugleich pragmatische Methode und kann ergänzend zu anderen Methoden eingesetzt werden. Außerdem kann der Klient sie immer wieder in seinem Arbeitsalltag einsetzen. Die Methode dient der Wahrnehmungsschulung, Verfeinerung und dem Ausgleich zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung von anderen.

Es sind „lediglich“ drei einfache Fragen. Doch beleuchten sie die Balance in der Beziehung zu einem anderen Menschen, lassen diese und die eigene Rolle in der Beziehung zu einem anderen Menschen plötzlich ganz anders aussehen, als man – oft jahrelang – geglaubt hat. Die drei einfachen Fragen decken alte Muster und Verhaltensweisen auf, die mancher möglicherweise nicht gerne anschaut.

Insofern erfordert das Tool Mut, sich mit der eigenen Rolle im Leben und vor allem mit der Verantwortung für das eigene Handeln intensiv auseinanderzusetzen. Das geht oft mit teilweise starken Emotionen einher. Scham wird beispielsweise erlebt. Aber es entsteht auch Freude und Dankbarkeit für die vielen guten Dinge, die passiert sind und die man längst vergessen hatte. Vergessen unter all den gegenseitigen Schuldzuweisungen, die Menschen täglich produzieren. Oft entsteht eine große, neue Gelassenheit, das Leben mit neuer Selbstverantwortung zu meistern und Aussöhnung wird möglich.

Anwendungsbeispiel

Ein Abteilungsleiter hat seit einigen Monaten ein neues Team übernommen. Seine Aufgabe ist es, die Prozesse zu optimieren, Aufgaben neu und sinnvoll zu strukturieren und für den Abbau von Überstunden und vorjährigem Urlaub zu sorgen. Das war im Vorhinein auch ausdrücklich der Wunsch der Mitarbeiter an die neue Abteilungsleitung. Diese Zielvorgaben hat der Abteilungsleiter konsequent verfolgt und umgesetzt.

Nach einem Dreivierteljahr, kurz bevor die Beurteilungen und Jahresgespräche mit den Mitarbeitern stattfinden, geht eine Abordnung von Mitarbeitern aus dem Team zum Vorgesetzten des Abteilungsleiters, um sich über die Zusammenarbeit zu beschweren. Ein gemeinsames Gespräch mit dem Abteilungsleiter, seinem Vorgesetzten und dem gesamten Team wird vereinbart. Zur Vorbereitung dieses gemeinsamen Gesprächs berichtet der Abteilungsleiter dem Coach die beschriebene Ausgangssituation.

Der Coach schlägt die Arbeit mit dem Tool vor, ohne die Fragen zu benennen. Zuerst beantwortet der Klient die erste Frage: „Was hat das Team in den letzten Monaten für mich getan?“. Das bereitet ihm etwas Unbehagen, da er der Meinung ist, alles für seine Abteilung getan zu haben – und nicht umgekehrt. Die Leistungen, die seine Mitarbeiter bringen, schätzt er nicht, tut sie als selbstverständlich ab. Eine Rolle spielt dabei auch sein Groll, dass seine Mitarbeiter nicht zu ihm direkt gekommen sind, sondern sich an seinen Vorgesetzten gewandt haben. Der Coach ermutigt ihn, sich der ersten Frage zu stellen. Nach und nach bemerkt der Klient, dass es doch einiges ist, was seine Mitarbeiter in den vergangenen Monaten für ihn getan haben, und wie sie ihn in der Einarbeitung unterstützt haben.

Bei der zweiten Frage, „Was habe ich in den letzten Monaten für das Team getan?“, wird ihm deutlich, dass es außer vielen Unannehmlichkeiten und Veränderungen nicht besonders viel ist. Das macht ihn nachdenklich, da er bisher eine ganz andere Wahrnehmung hatte.

Als es dann an die Beantwortung der dritten Frage, „Welche Schwierigkeiten habe ich dem Team in den letzten Monaten bereitet?“ geht, wird ihm klar, dass er mit seiner Haltung seinen Mitarbeitern gegenüber einen großen Anteil an der nicht funktionierenden Teamarbeit hat. Seine Liste wird länger und länger und ihm fällt nach anfänglichem Zögern immer mehr ein, was er seinem Team an Schwierigkeiten bereitet hat. Mit der Vervollständigung der Liste wird ihm klar, welche Umstellung es für seine Mitarbeiter bedeutet, unter seiner Führung zu arbeiten. Er sieht die Notwendigkeit, dass es richtig ist, wie er gehandelt hat, kann jedoch vor allem durch die dritte Frage seine Perspektive erweitern und Verständnis für das Handeln seiner Mitarbeiter aufbringen.

Durch die Sammlung der Schwierigkeiten, die er seinem Team bereitet hat, kann es für ihn in dem geplanten Gespräch kaum noch Überraschungen geben. Er fühlt sich gut vorbereitet und kann mit einer wertschätzenden Haltung gelassen und souverän in das Gespräch gehen. Dieses gute Gefühl festigt der Coach mit dem Klienten.

In der nächsten Sitzung berichtet der Klient dem Coach von dem erfolgreich verlaufenen gemeinsamen Gespräch zu dem er anschließend sowohl von seinem Vorgesetzten als auch von einigen Mitarbeitern eine sehr positive Rückmeldung seiner Souveränität erhalten hat.

Voraussetzungen/Kenntnisse

Geeignet ist das Tool für Coachs, die Erfahrung mit „Naikan“ oder aber Übung darin haben, eigene Konflikte und Beziehungen zu betrachten. Dafür reicht es in der Regel aus, dass der Coach Erfahrung darin hat, das Tool für eigene Konflikte oder Beziehungen selbst anzuwenden. Das hilft ihm, die inneren Prozesse des Klienten zu verstehen und adäquat zu begleiten. Darüber hinaus sollte der Coach über ein hohes Maß an Selbstreflexion und Offenheit für neue und ungewöhnliche Perspektiven verfügen.

Persönlicher Kommentar

Das Tool kann auch für Fragestellungen außerhalb von Beziehungen angewandt werden. Ein Beispiel wäre die persönliche finanzielle Situation oder ein Gehaltsgespräch:

  1. Was tut mein Geld für mich?
  2. Was tue ich, um mein Geld zu mehren? 
  3. Welche Schwierigkeiten bereite ich meinem finanziellen Erfolg?

Technische Hinweise

Zur Visualisierung der drei Fragen ist ausreichend Flipchart-Papier notwendig. Die Arbeit mit dem Tool kann zwischen einer und zweieinhalb Stunden dauern.

Literatur

  • Bölter, D. (2004). Drei Fragen, die die Welt verändern: Die Naikan-Methode im Kontext von Spiritualität und Psychotherapie. Bielefeld: Kamphausen.
  • Krech, G. (2007). Die Kraft der Dankbarkeit. Das Praxisbuch für innere Zufriedenheit. Berlin: Theseus.
  • Steinke, G. & Müller-Ebeling, C. (2003). Naikan. Versöhnung mit sich selbst. Bielefeld: Kamphausen.
  • Steinke, G. (Hg.) (2004). Naikan-Praxisbuch 1. Beruf -Schule -Familie -Seelsorge -Strafvollzug. Bielefeld: Kamphausen. 
  • Müller-Ebeling, C. (2009). Innenschau mit Naikan – Mit drei Fragen zur tiefen Selbsterkenntnis. Buddhismus aktuell, 1/09, S. 22-23.

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