Coaching-Tools

„Den anderen kommen lassen“ – Spiel mit der Zeit

Ein Coaching-Tool von Olaf Nollmeyer

8 Min.

Coaching-Magazin Online, 01.02.2014

Kurzbeschreibung

Ein bewusstes Steuern des Interaktionsrhythmus – hier vor allem die Verlangsamung – ermöglicht sowohl dem Klienten als auch dem Coach „tiefere“ oder schlicht zuvor vernachlässigte Aspekte eines Coaching-Abschnittes zu bemerken und zu artikulieren. Eine Veränderung des Interaktionsrhythmus (Sprechrhythmus, Übungsabfolge etc.) verändert auch die Rollenverteilung Coach-Klient und bringt unproduktive Rollenfestlegungen in die Schwebe.

Hintergrund

Gespräche und Handlungen in alltäglichem Tempo werden vom Gehirn automatisch erledigt. Der Automatismus ist praktisch, weil er hohe Geschwindigkeit, Flüssigkeit und parallele Aufmerksamkeit ermöglicht. Veränderung aber heisst, aus einem Automatismus aussteigen. Das erreicht man zum Beispiel durch Verlangsamung der in Frage stehenden Handlung. Die körper- und bewegungsorientierte Feldenkrais-Methode bietet dafür Beispiele zuhauf. „Den anderen kommen lassen“ ist eine Anwendung des Prinzips auf der Gesprächsebene.

Anwendungsbereiche

Dieses Tool kann in allen Phasen des Prozesses verwendet werden. Es ist besonders bei 

  • Klienten sinnvoll, welche die Anforderungen im „zu gut bedienen“, die also zwar gut „mitgehen“, zugleich aber vermitteln, dass irgendetwas wichtiges noch nicht berührt wurde. Es kann sich dabei um Unerfahrene handeln oder um begeisterte Konsumenten.
  • oder als Mittel der Provokation, wenn die Ergebnisse anderer Kommunikationsformen vage bzw. emotional oberflächlich bleiben.

Beispiele hierfür sind:

  • wenn sich zwischen Klient und Coach eine Rollen- bzw. Aufgabenverteilung stabilisiert hat, der Klient, der Coach in der Rolle des Impulsgebers, der Klient in der Rolle des bloßen Fragebogenausfülles;
  • oder im paradoxen Fall: in der Rolle des guten Schülers, der eilfertig immer schon Antworten parat hat (Zwei Arten der Vermeidungsstrategie).

Das Tool kann subtil und unmerklich eingesetzt werden oder provokativ.

Zielsetzung & Effekte

„Den anderen kommen lassen“ zielt auf eine Verkehrung der Verhältnisse bzw. darauf, das Beziehungs- und Arbeitsverhältnis in die Schwebe zu bringen.

Das Tool hat, je nach Ausgangslage, verschiedene Effekte. Allgemein gesprochen gehören dazu aber immer mindestens einer von diesen:

  • erhöhte Aktivität seitens des Klienten,
  • höhere emotionale Beteiligung,
  • Vertiefung der Zielsetzung und Motivation.

Dies zeigt sich in persönlicherer Wortwahl, dem Äußern eines neuen oder veränderten bzw. konkretisierten Ziels, spontane Einbettung eines technisch/spezifischen/oberflächlichen Ziels in ein größeres/wichtigeres/persönlicheres Thema.

Wo der Coach vorher zu viele, aber zu wenige substantielle Antworten erhielt, erhält er nun eine mit Gewicht. Wenn er zuvor für viel Input wenig zurückbekam (den Klienten „bediente“), hält er sich jetzt zurück und bekommt dadurch das, was er wollte.

Ausführliche Beschreibung

Interaktionen haben bestimmte rhythmische Qualitäten. Begrüßungsrituale sind allen Teilnehmern bekannt, hier geht es dynamisch zu, Namen werden ausgestaucht, Bemerkungen übers Wetter, die Anfahrt etc. Auch die Handlungen sind dynamisch: Türen öffnen und schließen, einen Stuhl hervorziehen, Kaffe anbieten, Zuckertüten öffnen etc.

Bliebe es bei diesem Tempo, Veränderung wäre unmöglich, denn dieses Tempo verlangt
nach automatisierten Handlungsabläufen.

Ziel eines Coachings ist jedoch Veränderung. Verlangsamung kommt natürlicherweise in sehr
persönlichen Gesprächen (z.B.: zwischen Eheleuten) vor. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Zeit und Raum für das Nachspüren des Gesagten nicht nur erlauben, sondern geradezu danach verlangen.

Stellen Sie sich eine Liebesszene vor:
Sie (langsam, schmachtend): „Ich liebe dich.“
Er (sachlich, fix): „Ja ich dich auch.“

Beispiele zeigen am besten, wie vielseitig das Tool einsetzbar ist:


1. Beispiel Zielvereinbarung
In der Zielvereinbarung kann es nützlich sein, das Tempo zu verlangsamen, Pausen zwischen Sätzen einzulegen, den Gesprächsfluß zu verlangsamen oder auch einmal ganz auszusetzen, um dem Klienten zu ermöglichen, das Gesagte innerlich wirken zu lassen. Leicht sagt man in gewöhnlichem Sprechtempo ja oder nein zu Dingen, die einem eigentlich nicht behagen, oder die nicht alle Wünsche berücksichtigen.

Besonders verbal gut aufgelegte Klienten können ein hohes Tempo halten – und bringen sich damit um den Erfolg. Sie haben auf alle Fragen rasche Antworten und wiederholen damit nur,
was sie ohnehin schon wissen. Man könnte dieses Verhalten als „Vorwegnahme“ bezeichnen:


2. Beispiel „Vorwegnahme“
Konflikte können durch Vorwegnahme entschärft werden – damit ist aber auch die Chance vertan, sich diesem Konflikt zu stellen und daraus zu lernen.

„Ja, ich weiß, das kann ich nicht so gut, aber ich werde daran arbeiten.“

Hier wird dem Konflikt der Wind verbal aus den Segeln genommen („Ich weiß bereits um diese Schwäche...“), der eigene Status erhalten („ich weiß was ich tun sollte“) und sogar für die Zukunft stabilisiert („werde daran arbeiten – aber nicht jetzt“). Der Satz zeichnet das Bild des guten Schülers, der Klient macht sich durch Vorwegnahme einiger Bestandteile (Statusanalyse, Zielbeschreibung, Selbstverpflichtung) „unangreifbar“.

Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten der Intervention. Viele benutzen dabei den Weg der weiteren verbalen Differenzierung „Wie genau werden Sie denn daran arbeiten? Wann fangen Sie an? Warum sollten wir nicht direkt hier und jetzt damit beginnen“ etc. Diese bedienen zunächst aber wieder die Ebene (das „Parkett“) auf der der Klient sich ohnehin schon gut bewegt.

Eine Alternative wäre hier, „den Anderen kommen zu lassen“. Diese Alternative verlagert das Gewicht vom verbalen Inhalt auf nonverbale und damit auch gefühlsmäßige Aspekte. Wird der Coach selbst subtil langsamer, wird die Eile oder gar das „Gehetzt-Sein“ des Klienten deutlich – und zwar fühlbar.

Hier das Beispiel eines drastischen Effektes, bei dem sich aus einem scheinbar bloß technischen Problem eine Lebensentscheidung herausschält:


3. Beispiel von der Stimmtechnik zur Lebensentscheidung
R. sieht sich im Rahmen einer Umstrukturierung plötzlich als Chef seiner Abteilung, in der er zuvor ein durch langjährige Zuverlässigkeit geschätzter Kollege war. R. ist konfliktarm, ruhig, scheinbar bescheiden und arbeitsam. Wo er zuvor nur mitzuschwimmen brauchte, muß er nun steuern, und das heisst: Grenzen setzen, Konflikte aushalten und lösen, ohne seine neue Position gegenüber den ehemaligen Kollegen aufzugeben.

Ziel dieses -Termins ist die Verbesserung seiner Sprechstimme, die er korrekt als leise einschätzt.

R., da begeisterter Theaterbesucher, lässt sich gerne auf verschiedene Stimm- und Körperübungen ein. Die jeweiligen Veränderungen sind konkret aber minimal. R. scheint unermüdlich. Sein Tempo ist eher langsam, aber stetig. Nach jeder Übung und der Auswertung wartet er geduldig auf die nächste Aufgabe.

Das Coaching wird von zwei Coaches durchgeführt. Coach 1 drückt gern aufs Tempo, R. aber
bleibt unbeirrt. Coach 2, für den Stimmteil zuständig, beschließt, das Tempo herauszunehmen.

Er beginnt, innerhalb einer Übung immer größere Pausen zwischen einzelnen Sätzen zu machen. Zum Abschluss der Übung stellt er diesmal nicht die obligatorischen Fragen, sondern schweigt, bleibt mit der Aufmerksamkeit aber bei R. R. scheint die eingetretene Ruhe nicht zu bemerken. Stille breitet sich aus. Coach 1 wird nervös.

Schließlich richtet sich R, der bisher immer ehr gebeugt da saß, gerade auf, lächelt und fragt rhetorisch:

„Was mache ich hier eigentlich? Ich bin 61 Jahre alt. Ich habe mein Haus, meine Verhältnisse sind geordnet. Warum tue ich mir das an? Nicht Sie, verstehen Sie mich nicht falsch, das ist hier ein sehr schöner Rahmen, aber eigentlich möchte ich gar nicht mehr kämpfen. Ich brauche es auch nicht. Die Arbeit war okay, aber ... Ich könnte mich auch trauen, aufzuhören. Ich dachte immer, ich könnte es nicht. Aber eigentlich, warum nicht? Klar könnte ich noch mehr verdienen, aber, wissen Sie, im Grunde reicht es mir.“

R.’s Stimme ist klar, deutlich und für seine Verhältnisse laut.

Persönlicher Hinweis

Das Tool kann subtil oder provokativ eingesetzt werden. In der subtilen Variante ermöglicht es Nähe, und für den Coach ist fraglich, ob bzw. in wie weit er dazu selbst bereit ist. Das Tool leitet aus ausgestampften Pfaden heraus, und nicht jeder möchte seine Schuhe dreckig machen, bzw. nicht jeder mag Überraschungen.

Provokativ eingesetzt wirkt es genau andersherum und eignet sich, für Coaches mit Erfahrung im Umgang mit konstruktiver Provokation.

Einordnung des Tools in die Struktur des Coaching-Prozesses nach dem COACH-Modell

Das Tool kann am sinnvollsten eingesetzt werden in

  • Teil 1: Kennenlern- und Kontaktphase
  • Teil 2: Gemeinsame inhaltliche Orientierung und Zielklärung
  • Teil 3: Analyse des Klienten
  • Teil 4: Es ist zudem auch eine Methode zur Veränderung

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