Dieser Beitrag gibt Antworten auf folgende Fragen:
Folgende Situation kennen wohl auch Sie: Ich will pünktlich mit einem Team-Coaching beginnen. Fünf Mitglieder sind da, zwei fehlen. In meiner Anfangszeit habe ich die Anwesenden gefragt: "Sollen wir starten?" Es hat sich meistens jemand gefunden, der glaubt, Rücksichtnahme auf die noch fehlenden Personen einfordern zu müssen: Man wolle doch niemanden ausschließen, sie würden etwas Wichtiges verpassen, es könne ja jedem einmal passieren ... also lieber noch warten. Indirekt wurde dadurch in den Raum gestellt, dass ein pünktlicher Beginn eine "Rücksichtslosigkeit" darstellt. Und obwohl die bereits Anwesenden nun kostbare Zeit verloren, wagte es in der Regel niemand, dagegen laut zu protestieren. Denn wer eine anerkannte soziale oder moralische Spielregel bricht – in diesem Fall: "Man muss rücksichtsvoll sein" – riskiert Schuldzuweisung und soziale Verurteilung.
Was tun Sie in so einem Fall? Falls Sie trotzdem pünktlich loslegen, dann könnten Sie plötzlich selbst als die oder der "Rücksichtslose" gelten. Das ist keine gute Startposition für einen Coaching-Prozess, der schließlich ein gewisses Maß an Vertrauen erfordert. Beginnen Sie jedoch nicht zur vereinbarten Zeit, sind mit Sicherheit einige der Pünktlichen verärgert.
Irgendwann erkannte ich den Stellenwert von Schuldgefühlen in diesem Dilemma. Denn wie gesagt: eine Schuld bekommt zugewiesen, wer ein anerkanntes Gesetz (sei es juristisch, sozial oder moralisch) bricht. Doch nur, wenn wir ein Gesetz auch persönlich als gültig verinnerlicht haben, bekommen wir ein unangenehmes Schuldgefühl, sobald wir es missachten. Das zu vermeiden, indem wir unserem inneren "Kodex" folgen, ist deshalb eine mächtige Motivation hinter vielen Verhaltensweisen, sowohl beruflich als auch privat.
Zurück zum Beispiel: Durch ihre "Rücksichtnahme" und das Zuwarten können die Teammitglieder erfolgreich das Entstehen von Schuldgefühlen vermeiden und nehmen dafür vielleicht sogar ein gewisses Maß an Ärger über die Verspätung in Kauf. Dieser wird sich allerdings oft gegen mich als Coach, gegen Teammitglieder oder gegen die eigene Person richten: "Wieso war ich nur so dumm und habe mich vorhin so gestresst? Ich hätte mir doch denken können, dass wir verspätet beginnen."
Die Psycho-Logik der Schuldgefühle zu verstehen, hat mir folgende Lösung möglich gemacht: "Liebes Team, es fehlen noch zwei. Doch wenn ICH zu einem Termin zu spät komme, dann würde ich auf keinen Fall wollen, dass alle anderen auf mich warten müssen. Da kriege ich nämlich richtig Stress. Also lassen Sie uns starten." Ich habe nun mit diesen wenigen Sätzen die Situation völlig neu bewertet, ohne die (auch für mich gültige!) moralische Leitlinie "Ich will rücksichtsvoll sein" in Frage zu stellen: Plötzlich fühlt sich das Team nicht mehr schuldig, wenn wir loslegen. Ganz im Gegenteil: Wir alle handeln rücksichtsvoll, genau weil wir mit einem pünktlichen Start den Zuspätkommenden die unangenehme Situation, alle anderen aufgehalten zu haben, ersparen.
Die meisten (nicht alle!) Schuldgefühle zeigen uns deutlich, dass wir gegen eine konkrete verinnerlichte Regel, gegen ein moralisches Gebot verstoßen haben. Um dieses unangenehme Gefühl zu vermeiden, sind wir motiviert, uns daran zu halten, Ungerechtigkeit zu vermeiden oder für eine Balance im Geben und Nehmen sorgen zu wollen. Und falls es trotzdem dazu kommt, dass wir uns schuldig fühlen, sind wir in hohem Maße bereit, aktiv zu werden, damit das Gefühl so bald wie möglich wieder verschwindet: Wir entschuldigen uns, leisten Wiedergutmachung, nehmen Strafe auf uns, lernen aus dem Regelverstoß oder wählen einen anderen von insgesamt etwa einem Dutzend Wegen, um es guten Gewissens ablegen zu können. Doch dazu später mehr.
Im Coaching ist das Wissen um die Logik und Dynamik dieses Gefühls ungemein wertvoll. Denn das Vermeiden von Schuldgefühlen oder die Angst davor kann maßgeblich Entscheidungen beeinflussen wie zum Beispiel: "Ich fühle mich krank. Gehe ich trotzdem zur Arbeit?", "Soll ich die Beförderung annehmen? Aber was ist, wenn ich Entscheidungen treffe, die der Firma schaden? Und wird meine Familie darunter leiden?" oder "Darf ich neue Wege gehen, obwohl dort das Risiko für Fehler höher ist?"
Als ersten Schritt im Coaching empfiehlt es sich – ganz im Sinn einer Förderung der Weiterentwicklung von Persönlichkeiten oder Teams –, gemeinsam zu erforschen, welches innere Gesetz sich durch ein bestehendes Schuldgefühl oder durch die Angst vorm schlechten Gewissen offenbart: "Mir scheint, Sie folgen inneren Leitlinien, so wie jeder anständige Mensch. Könnte es sein, dass eine dieser inneren Regel besagt, dass Sie nicht krank werden dürfen? Was genau steckt dahinter, was also fällt Ihnen zum Satz ein: ‚Ich darf nicht krank werden, weil ... ?‘" Oft sind innere Gesetzestexte gar nicht bewusst, obwohl Menschen sich tagaus tagein davon leiten lassen. Erst das (befürchtete) Schuldgefühl und folgende Frage im Coaching machen darauf aufmerksam: "Da gibt es wohl ein wichtiges Gebot. Seit wann glauben Sie, es befolgen zu müssen? Wann ist erstmals ein Schuldgefühl aufgetaucht, weil Sie nicht danach gelebt haben?"
Beim Krankenstand-Beispiel kann es natürlich auch sein, dass die Vorstellung, sich krankzumelden, primär keine Schuldgefühl auslöst, sondern Angst. Dann gilt in dieser Firma vielleicht das ungeschriebene Gesetz: "Niemand darf das tun." Negative Konsequenzen zu fürchten, wenn man die firmeninterne Regel bricht, wäre eine vollkommen logische Konsequenz. Auch in diesem Fall ist es nützlich, in einem ersten Schritt diese verheimlichte (weil offiziell natürlich unrechte) informelle Regel in einem Betrieb klar zu erkennen. "Wieso denken Sie, dass dort diese Regel gilt? Was genau haben Sie erlebt oder beobachtet? Welche Wege gibt es nun, darauf zu reagieren?"
Frauen haben im Durchschnitt mehr Schuldgefühle als Männer, so die eindeutige Studienlage dazu (Übersicht z.B. bei Junker, 2011). Eine mögliche Erklärung dafür: Frauen haben häufig mehr und strengere innere Gesetze verinnerlicht. Vielleicht ist das einer der Gründe, wieso sie nicht so oft in Führungspositionen zu finden sind. Denn je mehr Entscheidungsmacht jemand hat, umso höher natürlich die Wahrscheinlichkeit für Fehler oder ungute Konsequenzen. Wer also nach inneren Vorgaben lebt wie zum Beispiel "Ich darf niemandem schaden", "Ich darf keinen Fehler machen" oder "Ich muss perfekt sein", der würde in einer Leitungsfunktion ständig von Schuldgefühlen überflutet werden. Zu viele davon können uns regelrecht quälen, in Dauerstress versetzen und daher sowohl seelisch als auch körperlich krank machen.
Doch im Prinzip haben Schuldgefühle viele gute Seiten: Sie dienen der (Selbst-)Motivation, weil wir sie instinktiv vermeiden wollen. Sie bieten Richtlinien für alltägliche Entscheidungen, denn sie unterstützen ein Leben nach Werten und Moralvorstellungen. Sie motivieren uns, sozialen Spielregeln zu folgen und auf Gerechtigkeit innerhalb von privaten und beruflichen Beziehungen zu achten. Eine psychologische Studie (Levine, 2018) beweist: Wenn Menschen beobachten, dass jemand anderer zu Schuldgefühlen neigt, dann wird er gleich als deutlich vertrauenswürdiger eingeschätzt. Denn seine Schuldgefühle beweisen, dass er nach inneren Regeln leben will. Ist das zum Beispiel "Ich will niemandem schaden", dann weiß ich, wie er sich zukünftig in kritischen Situationen entscheiden wird.
Es lassen sich sieben Kriterien für "echte" Schuld und für somit gerechtfertigte Schuldgefühle definieren (Kernstock-Redl, 2020). Das wichtigste: Ist das (innere) Gesetz tatsächlich eines, das man heute als richtig und allgemein gültig betrachten kann? Viele davon stammen nämlich noch aus Kindertagen, sie wurden uns eingeredet oder vorgelebt. Die Palette reicht von: "Ich muss brav sein und alle Erwartungen erfüllen" bis zu "Ich darf nie tun, was andere sagen, sonst bin ich ein Schwächling". Solche Gesetze kann und soll man unbedingt enttarnen und gegebenenfalls verändern.
Ein weiteres Kriterium ist die echte Wahlmöglichkeit, die laut unserer europäischen Gesetzeslage eine Voraussetzung für schuldhaftes Handeln ist. Wer keine Wahl hat, wie es zum Beispiel bei unglücklichen Zufällen, während einer lebensbedrohlichen Notlage oder grundsätzlich im Kindesalter der Fall ist, bekommt keine Schuld.
Falls ein Coach bemerkt, dass sich sein Klient sehr leicht Schuldgefühle einreden lässt, dann steckt manchmal eine globale innere Leitlinie dahinter: "In meiner Gegenwart müssen sich alle wohlfühlen." Oder: "Ich muss tun, was andere erwarten." Manchmal fehlt es an Selbstwert und inneren Rechten ("Erlaubnissen"), die wie natürliche Schutzschilder gegen Pflichten wirken: "Ich will rücksichtsvoll sein, außer, jemand will mir schaden. Dann habe ich nämlich das Recht, in erster Linie an mich zu denken."
Teams bilden während ihres Bestehens meistens ganz spezielle Teamregelungen, die von Zeit zu Zeit einer kritischen Revision bedürfen. In Vereinen ist das besonders gut zu beobachten: In der ersten Phase gilt meist: "Einer für alle, alle für einen." Erfolgreiche Vereine wachsen, stellen Mitarbeitende ein, die anderen inneren Regeln folgen, Strukturen verändern sich. Oft gibt es daneben noch Menschen aus der Gründerzeit, die weiterhin die alte Richtlinie hochhalten und dies auch von anderen erwarten. Konflikte sind vorprogrammiert, solange das scheinbar so "selbstverständliche" Regelwerk nicht auf die bewusste Ebene geholt und dort ausgehandelt wird.
In Konflikten kann es grundsätzlich helfen, die (oft unbewussten) persönlichen Gebote sichtbar zu machen, zu überprüfen und gegebenenfalls Kompromisse zu suchen, anstatt sie wütend zu verteidigen. Denn während ein Schuldgefühl uns spüren lässt, dass wir eine eigene innere Regel missachtet haben, so entstehen in uns Gefühle von Empörung, Ungerechtigkeit und Ärger, wenn andere Menschen nicht unsere Regeln befolgen, sondern ganz anders ticken. Spontane Aussagen dazu im Coaching: "Das ist doch normal. Das macht man doch so. Wenn der andere es nicht so sieht oder anders macht, dann stimmt doch etwas mit dem nicht." Lieber also zunächst wertfrei erkunden, was die individuellen "Zehn Gebote" der Beteiligten sind, wo es Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt. Coaching—Tools, die die Arbeit mit Werten ermöglichen, zeigen das Prinzip, wie es dann weitergehen kann.
Schuldgefühle aktiv zu erzeugen, kann immens nützlich sein, falls Konflikte die sachliche Ebene einer "Diskussion mit Gefühl" verlassen. Dadurch lassen sich die typischen Schlammschlachten, angetrieben von Schuldabwehr und gegenseitigen Schuldzuweisungen, manchmal unterbrechen. Dabei kann ein bereits erwähntes Kriterium für echte Schuld zum Einsatz kommen: "Wer die Wahl hat, kriegt die (Teil-)Schuld."
Praktisch umgesetzt bedeutet es, durch zwei besondere Fragen die eigenen Handlungsalternativen und Lernmöglichkeiten bewusst zu machen. Hier ein Beispiel eines eskalierten Konfliktes zwischen Herrn M. und Frau B. Zuerst ebnet die folgende Einladung den Weg und fordert zugleich auf, Beschwerden als Wünsche zu formulieren. "Herr M., wenn Sie sich so zurückerinnern an die ersten unguten Aktionen in diesem Konflikt: Was hätte denn Frau B. anders tun sollen? Welches Verhalten hätten Sie sich von ihr erwartet oder gewünscht?" Jedem Menschen, der das gefragt wird, fällt unter Garantie vieles ein, was die andere Person besser machen hätte können.
Gleich danach kann jedoch die zweite, entscheidende Frage nach dem eigenen Anteil gestellt werden: "Und wie ist das bei Ihnen? Denn es ist immer nützlich, wenn man aus der Vergangenheit etwas lernen kann, damit sie sich nicht wiederholen muss. Wie also hätten Sie zu diesem frühen Zeitpunkt anders handeln können, was wären für Sie Alternativen gewesen?" Wer eine andere Möglichkeit für sich findet, übernimmt damit emotional eine gewisse Teilschuld. Denn erst dadurch wird bewusst, dass man damals durchaus eine Wahl gehabt hatte. Das kann spontan die Bereitschaft für eine Entschuldigung entstehen lassen. Herr M. könnte antworten: "Natürlich hätte ich nicht gleich zur Chefin laufen müssen. Ich hätte sie einfach unter vier Augen fragen können: ‚Was ist los, Frau B.? So kenne ich Sie gar nicht.‘"
Falls es in den Prozess passt, kann der Coach nun dazu einladen, diese Stimmung zur Deeskalation zu nutzen: "Mir scheint, Herr M., dieser eine Punkt tut Ihnen jetzt ein wenig leid. Denken Sie, es wäre angebracht, sich dafür (nur dafür!) bei Ihrer Kollegin zu entschuldigen?"
Manchmal reicht für einen Ausstieg aus dem Gefühl, zu erkennen, wie falsch oder veraltet die dafür zuständige Regel ist. Immerhin ist man jetzt kein Kind mehr und kann sich heute selbstbestimmt entscheiden, welchen Grundsätzen man folgen will. Auch die Erkenntnis, keine Wahl gehabt zu haben oder anhand der anderen Kriterien nicht schuldig zu sein, kann heraushelfen. Falls einzelne Erinnerungen starke Schuldgefühle machen oder man erkennt, dass damals eine bestimmte Regel verinnerlicht wurde, kann der Aufbau von Rechten helfen. Sie bilden ein natürliches Bollwerk gegen Schuldgefühle: "Ich darf in den Krankenstand gehen. Es ist mein verbrieftes Recht." Oder "Ich will es anderen Menschen recht machen – solange ich dabei mein eigenes Ziel oder meine Werte behalten kann."
Auch die klassischen Wege lassen das Gefühl verschwinden, besonders bei realer Schuld: Um Entschuldigung oder Verzeihung bitten, Wiedergutmachung leisten, daraus lernen und es nie wieder tun. Manche finden für sich symbolische Aktionen, die zur Entschuldung beitragen, auch wenn ein Fehler oder Schaden nie wieder gutgemacht werden kann: die Wiedergutmachung an anderen Personen oder das Ertragen von einem bestimmten Maß an Strafe oder Leid.
Allerdings kann unsere menschliche Psyche ziemlich erfinderisch sein, was die Produktion von Schuldgefühlen betrifft. Diese können nämlich auch aufgrund einer reinen Katastrophenvorstellung entstehen: "Ich fühle mich so schuldig, denn es hätte so viel Schlimmes passieren können." Natürlich gilt: Wenn man in Wahrheit keinerlei Schaden verursacht hat, kann man sich auch nicht entschuldigen und kann nichts wieder gutmachen. Doch auch für solche und ähnliche Fälle, wo Schuldgefühle hartnäckig bleiben, gibt es Auswege. Manchmal kann man die Macht der Vorstellung genau dafür nutzen. Auch symbolische Wiedergutmachung, die Entschuldigung bei einer höheren Instanz oder tätige Reue können Wege sein, um ein Schuldgefühl erfolgreich hinter sich zu lassen.
Schuldgefühle sind von ihrem biologischen Sinn her für sozialen Zusammenhalt, aber sicher nicht für die Ewigkeit gedacht. Irgendwann hat jeder genug gebüßt. Niemand soll sich davon unterdrückt oder zu schädlichen Verhaltensweisen gezwungen fühlen. Doch Menschen und Teams können sich von sinnvollen Schuldgefühlen, basierend auf bewusst gewählten inneren Regeln, erfolgreich leiten und motivieren lassen.
Ausführlich in: Kernstock-Redl, Helga (2020). Schuldgefühle. Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können. Berlin/Wien: Goldegg.