Methoden

Psychodynamisches Coaching ist mehr als eine individualpsychologische Interventionsmethode

Ein Kommentar zum Beitrag „Psychodynamisches Coaching in Deutschland“

5 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2017 am 22.02.2017

Prof. Dr. Kretschmar schreibt in seinem Artikel, man habe psychodynamische Themen in Deutschland verdrängt. Ein ähnliches Bild ergebe sich bei den Ausbildungsinstituten und Publikationen auf dem Gebiet der psychodynamischen Arbeit in Organisationen. Hier finde man in Deutschland „allenfalls ein paar Einzelkämpfer“. Der Studiengang Organisational Studies an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) sei ein „erstes zartes Pflänzchen“ in diesem Feld.

Verankerung psychodynamischen Coachings in Deutschland

In Deutschland, so etwa im Deutschen Bundesverband Coaching e.V. (DBVC), in dem auch Prof. Dr. Kretschmar Mitglied ist, gibt es viele Weiterbildungsanbieter, die psychodynamische Prozesse kennen und mit ihnen arbeiten, selbst wenn sie dies nicht unmittelbar im Namen des Instituts zum Ausdruck bringen. Beispiele wären hier Weiterbildungskonzepte mit transaktionsanalytischer oder auch gestaltpsychologischer Fundierung. Darüber hinaus sind das „Institut für Psychodynamische Organisationsberatung München“ (IPOM) und das Institut „Psychodynamische Organisationsentwicklung + Personalmanagement Düsseldorf“ (POP, in Kooperation mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) hervorzuheben. Beide Institute bieten psychodynamisch orientierte Coaching-Weiterbildungen seit 1998 an. Das POP ist seit 2009 vom DBVC anerkannt. Publikationen im Bereich Psychodynamisches Führungskräfte-Coaching sind zahlreich vorhanden. 2003 hat das POP ein umfassendes Konzept psychodynamischen Coachings in seiner Bedeutung für den Arbeitsalltag von Führungskräften vorgestellt.

Als eine Art Novum weist Prof. Dr. Kretschmar darauf hin, dass sich die Inhalte des OPD-Manuals auf Coaching übertragen ließen. Die Anwendung der OPD-basierten Diagnostik im Coaching wurde 2013 von Benecke und Möller vorgestellt.

Die Arbeit mit Assoziation, Übertragung und Unbewusstem sei u.a. in den USA besonders verbreitet, so Prof. Dr. Kretschmar. Diesbezüglich sind Informationen über zwei Pioniere psychoanalytischer Organisationspsychologie zu ergänzen. Es war Prof. Dr. Tobias Brocher, einer der Gründer des POP, der von 1970 bis 1982 das Center for Applied Behavioral Sciences an der Menninger Foundation in Topeka (Kansas, USA) leitete. Während dieser Zeit gingen von ihm wichtige Impulse für die psychoanalytische Weiterbildung und Beratung von Führungskräften in den USA aus. Leider sind diese Impulse heute häufig nicht nur deutlich verwässert, sondern rutschen gelegentlich ins Esoterische ab.

Im europäischen Kontext sollte Prof. Dr. Manfred Kets de Vries erwähnt werden, der als Psychoanalytiker in Harvard studiert hat, schließlich an das Europäische Institut für Unternehmensführung (INSEAD) wechselte, und nicht nur durch seine zahlreichen Publikationen zum Umgang mit „neurotischen Organisationen“ bekannt wurde, sondern auch als Kollege in der Beratung deutscher DAX-notierter Unternehmen gefragt ist.

Keine einfachen Zusammenhänge

Dennoch hat Prof. Dr. Kretschmar natürlich recht: In der Praxis des Business- oder Executive-Coachings ist das explizit psychodynamische Verfahren deutlich unterrepräsentiert. Beim Lesen stellte sich zunächst die Befürchtung ein, der Beitrag reduziere psychodynamisches Coaching auf zwei Interventionsmethoden, den Farbassoziationstest und den Einsatz imaginativer Assoziation. Im gleichen Heft (Coaching-Magazin 3/2016) erläutert Klaus Eidenschink in seiner „Skizze einer Metatheorie der Psychodynamik“, dass Veränderung im Coaching nicht durch bloße Fokussierung auf bestimmte Tools und Interventionstechniken erzielt werden kann. Durch die von Prof. Dr. Kretschmar vorgenommene Einbeziehung des Phänomens der Übertragung und Gegenübertragung (heute präziser: das Phänomen der Intersubjektivität) und des Phänomens der Reinszenierung lebensgeschichtlich verankerter Prägungen (die Autorin würde die relevanten Prägungen nicht auf die Kindheit begrenzen) weitet sich jedoch der Fokus. Das psychoanalytische Menschenbild mit der Vorstellung eines dynamischen und individuell geprägten Unbewussten bekommt Kontur. (Zwischen-)Menschliches Verhalten und Handeln wird als vielfach determiniert verstehbar; es gibt keine einfachen Ursachen-Wirkungszusammenhänge (West-Leuer, 2009).

Interdisziplinäre Ausrichtung notwendig

Doch Business- und Management-Coaching sind keine Felder, in denen Coaches mit ausschließlich individual-psychoanalytischen Interventionen die Beratungsanliegen ihrer Klienten begleiten. Es bedarf wesentlicher Ergänzungen. Hierzu gehören organisationstheoretische Konzepte genauso wie Theorien über Gruppen und Erfahrungen mit ihren Anwendungen. Hier kann noch einmal auf Tobias Brocher und auf sein Buch über Gruppendynamik (1967) hingewiesen werden, das eine bahnbrechende Diskussion zum Problem der Entwicklung von Konformismus oder Autonomie in Arbeitsgruppen angestoßen hat; auch heute ein sehr aktuelles Thema.

Führungskräfte bewegen sich heute in einem Umfeld, in dem es zwar noch eine Aufbaustruktur gibt, die tatsächlichen Entscheidungen aber letztlich nach nicht vorhersehbaren Mustern getroffen werden. Verständnis hierfür stellt die Organisationslehre bereit, die von einem „anarchischen“ Entscheidungsverhalten innerhalb einer festgelegten Struktur spricht. Von allen Seiten treffen Ideen und Impulse bei den Führungskräften ein. Ihre Aufgabe ist es, Vorschläge zu sortieren, zu bewerten und abzuwägen, wie die Hierarchie der Ideen sein soll. Sie vergleichen diese dann mit größeren Einheiten in Betrieb und Markt und lassen die von ihnen so geordneten Impulse in Zielvorstellungen für ihr Unternehmen einmünden. Sicherheit gibt es dabei nicht. Gleichzeitig sind sie, gleich auf welcher Hierarchieebene, immer häufiger auch Druck „von oben“ ausgesetzt – und sei es, weil der Shareholder eines mittelständischen Dortmunder Unternehmens eine amerikanische Venture-Capital-Gesellschaft ist, deren Vertreter sich dominant in das Tagesgeschäft einmischen (Lewkowicz & West-Leuer, 2016).

All dies erzeugt Spannungsfelder zwischen Anpassungsstrebungen und Autonomiewünschen, in den Führungskräften genauso wie in ihren Teams und in der gesamten Organisation. Es mag eine gesellschaftlich unausgesprochene, vielleicht sogar tabuisierte Hoffnung sein, dass Führungskräfte Unvereinbarkeiten zwischen Organisationsstruktur, Teamstruktur und psychischer Struktur in sich, d.h. intrapsychisch ausgleichen und so unbewusst, aber effizient das Gleichgewicht des globalen Wirtschaftens sichern (West-Leuer, 2003). Das ist eine Überforderung. Denn beispielsweise die Unzufriedenheit eines Mitarbeitenden kann ein Unternehmen jederzeit und innerhalb kürzester Zeit in Misskredit bringen, zu Recht oder zu Unrecht.

Organisationen sind gesellschaftlich eingebettet und je nach Größe und Komplexität unterschiedlich strukturiert. Dies stellt für Führungskräfte eine latente Bedrohung dar und löst entsprechende Unsicherheiten aus, die es zu ertragen gilt. Dieser Aufgabe werden wir im psychodynamischen Coaching nicht allein intrapsychisch, sondern interdisziplinär begegnen und damit zur Weiterentwicklung demokratisch-emanzipativer Führungsprozesse beitragen müssen.

Literatur

  • Benecke, Cord & Möller, Heidi (2013). OPD-basierte Diagnostik im Coaching. In Heidi Möller & Silja Kotte (Hrsg.). Diagnostik im Coaching. Berlin, Heidelberg: Springer. S. 183–199.
  • Lewkowicz, Eva-Maria & West-Leuer, Beate (2016). Management-Coaching im Zeichen des Wandels. In AGORA, 22, S. 35–41.
  • Vasella, Daniel V. (2016). Emotionale Herausforderungen und Chancen der Unternehmensführung. In Eva-Maria Lewkowicz & Beate West-Leuer (Hrsg.). Führung und Gefühl. Berlin, Heidelberg: Springer. S. 33–52.
  • West-Leuer, Beate (2003). Von Ist-Zustand zu Ist-Zustand. In dies. & Claudia Sies (Hrsg.). Coaching – Ein Kursbuch für die Psychodynamische Beratung. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 95–125.
  • West-Leuer, Beate (2009). Psychodynamisches Coaching. In Psychosozial, 2/2009, S. 65–78.

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