Methoden

Introvision als Coaching-Methode

Hintergründe und Wirkungsweisen von Introvision-Coaching

Angst ist kein guter Berater – so ein geläufiges Sprichwort. Denn Angst verstellt den Blick auf die eigenen Ressourcen und Potenziale und kann zu Handlungsunfähigkeit führen. Im Introvision-Coaching lernen Klienten, mit inneren Stressoren umzugehen und diese zu löschen. Dafür ist es wichtig, zu verstehen, was innere Alarme triggert und welche Mechanismen sich dabei im Gehirn abspielen. Der Beitrag blickt auf die Wirkungsweisen und Hintergründe von Introvision-Coaching.

16 Min.

Eine Frau sitzt am Schreibtisch und verdeckt gestresst ihr Gesicht mit ihren Händen.

Viele Fragestellungen und Anliegen, mit denen man im Coaching zu tun hat, können durch Reflexion mit den Klienten gelöst werden. Auch Problematiken, die dadurch entstanden sind, dass es den Klienten schlicht an guten Reaktionsmöglichkeiten und einem angemessenen Verhaltensrepertoire gemangelt hat, lassen sich auflösen, indem man z.B. durch Rollenspiele neue Verhaltensweisen aufbaut. Diese Coaching-Konzepte und -Methoden sind jedoch nicht immer zielführend und ausreichend, um nachhaltige Veränderungen herbeizuführen.

Insbesondere beim Stressphänomen, aber auch bei inneren Blockaden oder Ängsten – wie etwa in Vortrags- oder Präsentationssituationen –, kann der Einsatz von Introvision im Coaching sinnvoll sein. Selbst dann, wenn sich schon ein Burn-out anbahnen sollte, kann Klienten mit Introvision präventiv geholfen werden. Dabei ist es nicht erforderlich, tief in die Lebensgeschichte des Klienten einzudringen und vergangene Erlebnisse oder Erfahrungen zu bearbeiten. Introvision ist eine Methode, um im Coaching Schwierigkeiten zu bewältigen, die keinen „Krankheitswert“ besitzen, sodass eine Psychotherapie angeraten ist, die jedoch eindeutig auf einer persönlichen, sprich emotionalen, Ebene liegen.

Auf einen Blick

Symbol einer Lupe
  • Bei Stress, inneren Blockaden und Ängsten kann man mit Introvision-Coaching eine rasche, nachhaltige Wirkung bei Klienten erzielen.
  • Mit Hilfe der Introvision-Methode üben Klienten, unbewusste Reaktionen abzustellen und ihr inneres Alarmsystem auszuschalten.
  • Klienten stärken im Laufe des Coaching-Prozesses ihre Handlungsfähigkeit, innere Ruhe und Ausgeglichenheit.

Veränderung auf der emotionalen Ebene geschieht nicht per Entschluss. Wir können mehr oder weniger leicht etwas verändern, wenn es um rationale Erkenntnisse oder Einsichten geht. Probleme, die ihren Ursprung jedoch im emotionalen Bereich haben, lassen sich auf der rationalen Ebene selten lösen. Um auf die Ebene zu gelangen, auf der sich die tiefliegenden und immer wiederkehrenden Probleme befinden, muss ein anderer Weg beschritten werden, als rein auf Reflexion ausgelegte Bewältigungsstrategien im Coaching anbieten. Weshalb das so ist und welche Mechanismen sich dabei im Gehirn abspielen, soll im Folgenden dargelegt werden.

Veränderung ermöglichen

Bei der Introvision werden die inneren Anteile, die vom Klienten als problematisch angesehen werden, zwar aktiviert, allerdings gibt man ihnen Raum. Man will sie nicht weghaben, sondern lässt ihnen Zeit, sich zu äußern. Dabei beobachtet man, was mit einem selbst geschieht, ohne einzugreifen oder etwas verändern zu wollen. Alle Reaktionen auf mentaler, emotionaler und körperlicher Ebene werden einfach nur wahrgenommen. Es wird kein Impuls gegeben, dass sich irgendetwas verändern muss. Dies ebnet den Weg zur Veränderung.

Introvision ist ein ursprünglich an der Uni Hamburg im Fachbereich Pädagogische Psychologie unter Federführung von Prof. Dr. Angelika Wagner entwickeltes Verfahren, um den Stress bei Lehrern zu reduzieren. Diesem Ansatz wurde langjährige Forschung gewidmet, weshalb es wissenschaftliche Daten zur Wirksamkeit gibt. (Wagner, 2021; Iwers-Stelljes, 2008) Anzumerken ist, dass es sich dabei um ein recht komplexes Verfahren handelt, dass für die Anwendung im Coaching-Kontext vereinfacht wurde, um eine schnellere Anwendung zu ermöglichen (Dehner, 2023).

Stress und innere Alarme

Hoher Stress wird in aller Regel erlebt, weil innere Alarme anspringen, die durch tatsächliche oder vermeintliche äußere Einflüsse getriggert werden. Solche inneren Alarme gehen im Gehirn von der Amygdala aus. Die Amygdala fungiert als „Sicherheitszentrum“ und veranlasst das Ausschütten von Stresshormonen wie etwa Adrenalin, um den Menschen bei Gefahr in erhöhte Leistungsfähigkeit zu versetzen. Aus diesem Grund reagiert die Amygdala um ein Vielfaches schneller auf eine tatsächliche oder vermeintliche Gefahr als etwa das Großhirn, das für die Ratio, also unser Denken und unsere bewussten Entscheidungen, zuständig ist. (Vgl. Introvision Association, 2022)

Jeder Mensch hat wahrscheinlich schon die Erfahrung gemacht, dass man sich ganz fest vorgenommen hat, auf eine bestimmte Situation nicht ängstlich oder auf einen bestimmten Menschen nicht gereizt zu reagieren. Man denkt vernünftig darüber nach, überlegt genau, wie man reagieren will – und dann ereignet sich alles doch genauso, wie man es unbedingt vermeiden wollte. „Das darf doch nicht wahr sein!“, denkt man sich hinterher. „Wie konnte ich nur wieder so blöd sein?“ Doch man ist nicht „blöd“ – das ist der springende Punkt: Die getriggerten Gefühle sind nur sehr viel schneller als der vernünftige Verstand.

Da die Amygdala viel schneller ist als der in der Entwicklungsgeschichte jüngere Bereich des Cortex, in dem das rationale Denken stattfindet, jemals sein kann, „entscheidet“ sie im Bruchteil von Sekunden, ob eine Gefahr für den Menschen besteht oder nicht. Die Ratio hinkt immer hinterher, weshalb alle Erkenntnisse, die man in der Analyse des eigenen unangemessenen Verhaltens hinterher gewinnt, nichts nützen. Alle im Nachhinein getroffenen Entschlüsse, es beim nächsten Mal anders zu machen, verpuffen: Schrillen die Alarmglocken, setzen sofort die alten Gefühle mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen ein und schon folgt man dem altbekannten Handlungsmuster. Nur bei weniger schwerwiegenden Alarmen kann es gelegentlich gelingen, rechtzeitig „Stopp!“ zu sagen.

Das Prinzip der Introvision

Die Introvision ist ein Verfahren, das diese Alarme löschen kann. In der Praxis des Introvision-Coachings hat es sich als hilfreich erwiesen, Elemente der Transaktionsanalyse sowie Achtsamkeitstechniken aus dem Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) Programm nach Jon Kabat-Zinn einfließen zu lassen. So lassen sich erfahrungsgemäß in kurzer Zeit dauerhafte Veränderungen erzielen, die Klienten Handlungsfähigkeit, innere Ruhe und Ausgeglichenheit zurückgeben.

Sollte der Klient jedoch beruhigende Medikamente oder Psychopharmaka wie Anti-Depressiva einnehmen, um mit seinem Stress klarzukommen, ist die Arbeit mit Introvision nicht möglich. Denn die Wirksamkeit von Introvision beruht darauf, sich seinen inneren Alarmen zu stellen und sie durch konstatierendes, wertfreies Beobachten leerlaufen zu lassen. Da Psychopharmaka jedoch die mentalen und körperlichen Unruheempfindungen unterdrücken, können während einer laufenden Psychopharmaka-Behandlung die Alarme mit all ihren Reaktionen auf der emotionalen, mentalen und körperlichen Ebene weder ausgelöst noch wahrgenommen werden.

Woher kommen die Stresshormone?

Auch wenn wir uns keineswegs an alle jemals gemachten Erfahrungen bewusst erinnern können – zum Glück, sonst wären wir wohl kaum handlungsfähig –, hinterlassen sie alle Spuren in unserem Gehirn. Vor allem Erfahrungen, die mit sehr negativen Gefühlen verbunden sind, hinterlassen ein Muster im Gehirn, im Folgenden „Alarm“ genannt. Dieses meldet sich zuverlässig wie ein Warnsignal, weil es verhindern will, dass wir wieder in Gefahr geraten, verletzt zu werden. Von allen Prozessen, die sich im Wunderwerk Gehirn abspielen, sind die bewussten in der Minderzahl. Es läuft sehr viel mehr, von dem wir bewusst gar nichts mitbekommen.

Ein Teil dieser unbewussten Prozesse spielt sich in einem entwicklungsgeschichtlich viel älteren Hirnareal ab, als es der Neo-Cortex ist, der für unsere bewussten Aktionen zuständig ist. Dieses Areal ist das limbische System. Das limbische System ist maßgeblich an der Steuerung von emotionalen Verhaltensweisen, Orientierungs- und Aufmerksamkeitsreaktionen sowie Lernprozessen beteiligt. Es gehört zu den sehr früh entwickelten Hirnbereichen und sorgt dafür, dass unsere Überlebensmechanismen funktionieren. Als unser „Schutzsystem“ besitzt es eine äußerst schnelle Reaktionsfähigkeit.

Reaktionen aus dem limbischen System finden um ein Vielfaches schneller statt als Reaktionen aus unserem Bewusstsein, das im entwicklungsgeschichtlich viel später entstandenen Großhirn beheimatet ist.

Diese schnelle Reaktionsfähigkeit hat das Überleben der Menschheit gesichert. Der Urmensch, der sich einer tödlichen Gefahr gegenübersah, hatte keine Zeit, die Situation verstandesmäßig zu analysieren und dann zu entscheiden, was zu tun war. Er musste blitzartig entweder rennen, sich totstellen oder angreifen, um sein Leben zu retten.

Für die Fragen, um die es hier geht, ist die zuvor genannte Amygdala von größter Bedeutung. Der Gehirnforscher Joseph LeDoux (2001) hat mit seinen Forschungen schon vor etwa dreißig Jahren nachgewiesen, dass Reize und Signale, die mit Angst, Schrecken, Gefahr verbunden sind, in der Amygdala verarbeitet werden und sofort zu Schreckreaktionen im Körper führen, noch bevor unser bewusstes Erleben davon etwas mitbekommt. Diese Schreckreaktionen sind immer mit der augenblicklichen Ausschüttung von Stresshormonen verbunden.

Die Forschungen von LeDoux beweisen außerdem, dass das limbische System und die Amygdala einen sehr viel größeren Einfluss auf unser Bewusstsein haben als umgekehrt: Das heißt, unser bewusstes Denken kann, nur durch Nachdenken und rationales Erkennen, ziemlich wenig ausrichten gegen einen Alarm, der sich einmal in der Amygdala gebildet hat. „Die Funktionen der Amygdala werden, soweit man weiß, durch Stress nicht beeinträchtigt, sondern sogar […] gestärkt. Daher ist es durchaus möglich, dass man eine schwache bewusste Erinnerung an ein traumatisches Ereignis hat, aber durch die von der Amygdala vermittelte Furchtkonditionierung sehr mächtige implizite, unbewusste emotionale Erinnerungen. Und diese machtvollen unbewussten Ängste können […] sehr großen Widerstand gegen die Löschung entwickeln. Sie können, anders gesagt, zu unbewussten Quellen heftiger Angst werden, die ein ganzes Leben lang ihre unerkannten bösen Einflüsse ausübt.“ (LeDoux, 2001, S. 264)

Trier Social Stress Test

Wie einflussreich auch scheinbar bedeutungslose Erinnerungen vor allem bei Stress wirken, zeigte eine Untersuchung, die an der Universität Bochum durchgeführt wurde (Bierbrauer et al., 2021). Dabei wurde ein Verfahren angewandt, das unter dem Namen „Trier Social Stress Test“ (TSST) bekannt ist und in der Sozialpsychologie häufig eingesetzt wird. Im genannten Fall haben die Forscher TSST genutzt, um herauszufinden, wie das Gehirn Informationen abspeichert und warum Menschen sich an Aufwühlendes detaillierter erinnern als an Episoden, die gefühlsmäßig nicht aufgeladen waren.

Die Testpersonen wurden dazu in eine fünfminütige Prüfungssituation gebracht – die eine Hälfte der Gruppe erlebte eine unangenehme Situation mit zwei Prüfern, die mit versteinerten Gesichtern oder mit Stirnrunzeln, ansonsten gar nicht, auf den Probanden reagierten. Das erzeugte Stress, obwohl die Testpersonen wissen, dass es sich um eine gestellte Situation handelt. Sie fühlten sich abgewiesen, zweifelten an den eigenen Fähigkeiten und schämten sich für das vermeintliche Ungenügen. Die andere Hälfte erlebte zwei zugewandte Personen, die lächelten, ermutigend nickten und positives Feedback gaben. In beiden Situationen benutzten die Prüfer die gleichen Requisiten – eine schwarze Teekanne sowie einen Becher, aus dem ab und zu ein Schluck getrunken wurde.

Am folgenden Tag zeigte man allen Probanden Bilder der Teekanne und des Bechers, während ihre Gehirne von den Forschenden mit einem MRT beobachtet wurden. Dabei stellte sich heraus, dass die stressige Situation von den Testpersonen anders abgespeichert wurde als die angenehme Situation der anderen Versuchsteilnehmenden. Während die Bilder der Teekanne und des Bechers bei denjenigen, die eine angenehme oder neutrale Situation erlebt hatten, keinerlei Reaktion auslösten, reagierten die Gestressten auf die Bilder der Requisiten genauso stark wie auf Bilder der beiden unfreundlichen Prüfer.

Durch den erlebten Stress hatte sich im Gehirn eine Erinnerungsspur etabliert, die das ganze Szenario miteinschloss – also auch Dinge, an die man sich unter neutralen Umständen gar nicht erinnert. Durch den Stress reagieren auch solche Hirnregionen, die normalerweise nicht aktiv geworden wären, auf die anwesenden Objekte. Die Forschenden fanden heraus, dass die Amygdala bei der Erinnerung an die Teekanne beteiligt war – obwohl die Amygdala eigentlich für emotionale Zustände, meist solche die negativ erlebt werden, zuständig ist, und nicht für das Wahrnehmen von Gegenständen. Aber weil die Teekanne durch die stressige Situation emotional so aufgeladen war, sprang die Amygdala auch auf sie an.

Die Funktion von Alarmen

Durch den Erregungszustand, in den das Hirn in stressigen Situationen gerät, wird die Wahrnehmung schärfer und das Gedächtnis speichert Erinnerungen besser ab, außerdem werden unterschiedliche Elemente der Erinnerung miteinander verknüpft. Deshalb wurde der Alarm „installiert“.

Der Sinn und Zweck eines jeden Alarms ist es, den Menschen zum schnellen und entschlossenen Handeln zu bewegen.

Die Sirenen von Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen sollen andere Verkehrsteilnehmer veranlassen, Platz zu machen. Die Alarmanlage in Häusern und Autos soll die Polizei oder andere Helfer herbeirufen, um die Gefahrensituation so schnell wie möglich zu beenden. Doch ein Alarm kostet eine Menge Energie und das menschliche Gehirn ist ziemlich gut darin, Energieverschwendung zu vermeiden. Deshalb gilt: Ein Alarm, auf den keiner reagiert, ist sinnlos. Das ist der Trick: Wenn keiner mehr auf den Alarm reagiert, kann man auch auf ihn verzichten. Das Gehirn hat besseres zu tun, als seine Energie an etwas Nutzlosem zu verschwenden (Vgl. Dehner, 2023).

Alarme löschen

An diesem Punkt setzt die Introvision an: Mit dieser Methode soll der Alarm in der Amygdala gelöscht werden, indem man ihn einfach leerlaufen lässt. Gelingt dies, lösen Reize, die den Alarm bislang triggerten, keine Reaktion mehr aus, sodass auch keine Stresshormone mehr ausgeschüttet werden.

Wenn man jedoch auf den Alarm reagiert, und sei es nur, dass man ihn beschwichtigen will, so bestätigt man jedes Mal seine Berechtigung. Solange ein Alarm eine Reaktion auslöst, sei es eine physische Handlung oder ein bewusstes mentales Gegensteuern, bedeutet das für die Amygdala, dass der Alarm noch gebraucht wird. Denn die Amygdala „überlegt“ ja nicht, ihre Prozesse laufen automatisch ab. Auf diese Weise können sich Alarme aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter fortsetzen und unter Umständen sogar verstärken.

Dass Alarme zum Verschwinden gebracht werden können, wenn nicht auf sie reagiert wird, wurde in einem Tierversuch Anfang der 1970er Jahre bereits vom Experimentalpsychologen Martin Seligman nachgewiesen (Vgl. Dehner, 2023).

Seligman hatte sich mit konditionierter Furcht bei Tieren befasst. Bei diesen Experimenten werden Tiere dazu gebracht, eine ganz bestimmte Furcht zu entwickeln. Ratten lernten im Experiment, dass sie einen Stromschlag, der gemeinsam mit einem Summerton erfolgte, vermeiden konnten, wenn sie sofort bei Ertönen des Summers über eine Hürde in ihrem Käfig sprangen. Sie sprangen später selbst dann noch über die Hürde, wenn der Stromschlag abgeschaltet war. Als Seligman sich eingehender mit dieser konditionierten Furcht und ihren Folgen befasste, stellte er fest, dass die Vermeidungs-Konditionierung rasch erlischt, wenn den Tieren keine Möglichkeit geboten wird, ihr Vermeidungsverhalten auszuführen und sie auch keine Möglichkeit zur Flucht haben. „Nun zeigt Seligman aber, dass, wenn die Hürde durch eine Wand ersetzt und damit die Vermeidungsreaktion unterbunden wird, die Ratte schnell lernt, dass dem Summer nicht länger ein Schlag folgt, und den Summer zu ignorieren beginnt. Wird dann die Mauer wieder durch die Hürde ersetzt, springt die Ratte nicht mehr in Reaktion auf den Summer. Wird die Ratte zur Erkenntnis gezwungen, dass der Summer keine Gefahr nach sich zieht, erlischt die Furcht, und das führt zur Löschung der neurotischen Vermeidungsreaktion.“ (LeDoux, 2001, S. 254)

Dennoch war man damals der Ansicht, konditionierten Ängsten mit kognitivem Verstehen begegnen zu müssen. Ebenso wusste man aber aus einschlägiger therapeutischer Erfahrung, dass es vollkommen nutzlos ist, Klienten zu sagen, dass dem Summton kein Stromschlag folgt. Die Verhaltenstherapie ging mit der Dekonditionierung einen anderen Weg, bei dem die Klienten so lange mit dem furchteinflößenden Reiz konfrontiert werden, bis er seine Wirkung verloren hat. So ähnlich soll sich schon Goethe vor mehr als zweihundertfünfzig Jahren seine Höhenangst abgewöhnt haben. Er sei so lange auf den Turm des Straßburger Münsters gestiegen, am Anfang in Angstschweiß gebadet, bis er es ohne Zittern und Zagen tun konnte. Der Einsatz von Dekonditionierung ist aber nicht immer möglich. Zudem bieten sie zu viele Möglichkeiten für innere Fluchtreaktionen.

Der seinerzeit besonders in Amerika berühmte Psychotherapeut Albert Ellis, der die Rational-Emotive Verhaltenstherapie entwickelte und als Pionier der kognitiven Therapien gilt, führte einen ähnlichen Ansatz mit sich selbst durch, um sich von seiner Schüchternheit zu befreien. „Im Jahre 1932 war er ein schlaksiger 18-Jähriger, der zwar gewaltige Hemmungen hatte, mit Frauen zu sprechen, aber genug über Philosophie und Psychologie wusste, um zu versuchen, sein Schüchternheitsproblem durch ein praktisches stoisches Experiment in den Griff zu bekommen. Eines Tages in jenem Sommer […] begab sich Ellis in den Bronx Botanical Garden […] um seinen Plan in die Tat umzusetzen.“ (Burkeman, 2023, S. 64)

Ellis hatte beschlossen, einen Monat lang jeden Tag einen festen Plan zu verfolgen: Er würde sich auf eine Parkbank setzen, und wenn sich eine Frau neben ihm niederließ, wollte er versuchen, ein unverfängliches Gespräch zu beginnen. Am Ende teilte er sich Bänke und Gespräche mit 130 Frauen. „Zwar standen dreißig auf und gingen weg“, erinnerte er sich Jahre später. „Aber damit blieb mir eine Auswahl von hundert, was für Forschungszwecke gut genug war. Ich sprach mit allen hundert – zum ersten Mal in meinem Leben. […] Für Ellis war das ein triumphaler Erfolg.“ (ebd., S. 65).

Ellis hatte gemerkt, dass seine Befürchtungen nicht eingetreten waren – nach dem Summton (dem Ansprechen einer Frau) erfolgte kein Stromschlag (befürchtete negative Reaktion). Doch nicht jeder, der unter seinen Alarmen leidet und in seiner privaten oder beruflichen Laufbahn von ihnen behindert wird, hat so viel Zeit und Gelegenheit, sie aufzulösen. Man stelle sich vor, dass jemand, der Prüfungsangst erleidet, erst hundertdreißig Prüfungen ins Auge fassen – und in dreißig scheitern –muss, bevor er merkt, dass er nicht daran stirbt. Oder ein anderer, der Angst hat, in der Firma mit seinem Projekt zu versagen, sollte erst hundertdreißig Projekte angehen, um nach ungefähr dreißig vermasselten zu erkennen, dass das Scheitern keine Katastrophe ist. Ziel der Introvision ist es, einen einfacheren Weg anzubieten, sich seiner Alarme zu entledigen.

Introvision im Coaching

Im Coaching wird Introvision als Tool eingesetzt, um die inneren Alarme zu aktivieren und die Klienten anzuleiten, diese Alarme etwa zehn Minuten lang nur wahrzunehmen, ohne sie weghaben zu wollen oder in anderer Weise auf sie zu reagieren. Die Klienten werden während dieser Zeit angeleitet, nicht zu reagieren. Davon wird eine Aufnahme gemacht, die die Klienten mit nach Hause nehmen, um damit allein weiter zu üben, entweder bis zur nächsten Coaching-Sitzung oder bis der Alarm gänzlich verschwunden ist. Das ist ein wichtiger Punkt, denn der Alarm muss ganz verschwunden sein, um auch verschwunden zu bleiben – auch dann, wenn die schwierige Situation mit all ihrem Stress wieder eintritt.

Die Anwendung der Methode im Coaching wird – u.a. unter Berücksichtigung der Ermittlung stressauslösender Sätze und des Aspekts der weiten Wahrnehmung – ausführlicher dargestellt und anhand eines Praxisfalls illustriert in Dehner (2023).

Literatur

Bierbrauer, A. et al. (2021). The memory trace of a stressful Episode. Current Biology, 23, S. 5204–5213.

Burkeman, O. (2023). Das Glück ist mit den Realisten. München: Piper.

Dehner, A. (2023). Der Umgang mit inneren Alarmen. Über die Wirkungsweise von Introvision-Coaching. Coaching-Magazin, 1, S. 36–40.

Dehner, A. (2022). Introvision-Coaching. Stress-Resilienz erhöhen. RAUEN Coaching-Newsletter, Oktober.

Dehner, U. & R. (2016). Introvisioncoaching. Bonn: ManagerSeminare.

Eßing, G. (2015). Praxis der Neuropsychotherapie. Berlin: dpv.

Introvision Association (2022). Introvision-Coaching. Abgerufen am 28.11.2024: www.introvision-association.com

Iwers-Stelljes, T. (2008). Gelassen und handlungsfähig. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

LeDoux, J. (2001). Das Netz der Gefühle. München: dtv.

Roth, G. & Ryba, A. (2016). Coaching, Beratung und Gehirn. Stuttgart: Klett-Cotta.

Wagner, A. (2021). Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Stuttgart: Kohlhammer.

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