Methoden

Einsatz von Virtual Reality im Coaching

Konkrete Anwendungsmöglichkeiten und Erfahrungen

10 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 11 | 2023

Aktuelle Relevanz von Virtual Reality im Coaching

Virtual Reality (VR) ist eines der Zukunftsthemen im Coaching (Rauen, 2017). Derzeit nutzen jedoch laut RAUEN Coaching-Marktanalyse 2023 nur weniger als ein Prozent aller Coaches die Potenziale von VR (Rauen et al., 2023), welche vor allem in der Immersion und damit dem erlebnisorientierten Ansatz begründet liegen. Durch das vollständige Eintauchen in die virtuelle Welt ist eine Fokussierung auf das Anliegen und die Lösungen im besonderen Maße möglich. Aufstellungsarbeiten, Visualisierungen, Umgebungs- und Perspektivwechsel sowie Gesprächsführungs- und Präsentationstechniken sind vielversprechende Anwendungsgebiete für die Arbeit mit VR. Mehrere Studien belegen mittlerweile die Wirksamkeit von VR (Dunmoye et al., 2022; Hofmann et al., 2021; Makransky & Petersen, 2021; Schäfer et al., 2023; Schuster et al., 2022; Wolfartsberger et al., 2021).

Auf einen Blick

  • Der Einsatz von Virtual Reality (VR) kann im Coaching auf vielfältige Weise erfolgen und beispielsweise die Arbeit mit dem inneren Team unterstützen, Visualisierungen von Metaphern ermöglichen, zur Stressreduktion beitragen und herausfordernde Situationen simulieren.
  • Die Potenziale des VR-Einsatzes im Coaching bauen u.a. auf das soziale Präsenzerlebnis, die Förderung der Vorstellungskraft und den erlebnisorientierten Transfer auf.
  • Zu vermeiden ist hingegen u.a. eine kognitive oder körperliche Überlastung der Klienten. Letztere benötigen zudem ein gutes Onboarding.

Praktische Erfahrungen von Virtual Reality im Coaching

Nachfolgend sollen verschiedene Möglichkeiten vorgestellt werden, wie VR im Coaching genutzt werden kann. Gleichzeitig werden erste Erfahrungen mit der Arbeit in VR geteilt.

Arbeit mit dem inneren Team und systemische Aufstellungen

Aufstellungs- und innere Teamarbeit lassen sich auf verschiedenste Weise in VR umsetzen. So können sich in so genannten Multi-Player-Umgebungen Teilnehmer, repräsentiert durch Avatare, im Sinne eines Psychodramas aufstellen. Interagiert der Klient allein mit dem Coach, lassen sich 3D-Objekte oder beschriftete Karten als Repräsentanten einsetzen. Aufstellungsarbeiten mit Objekten sind dabei nicht an physikalische Grenzen gebunden. Objekte können über dem Klienten schweben oder in der Größe skaliert werden. Die Basis dafür bilden VR-Plattformen wie z.B. RAUM, Spatial.io und Glue.

Eine besondere Möglichkeit, sich sogar in den Repräsentanten zu verkörpern (Embodiment), bietet die Software Virtual Inner Team. Diese arbeitet mit Skulpturen, die unterschiedliche Posen aufweisen und damit eine gewisse Haltung symbolisieren. Die Skulpturen lassen sich in der Größe skalieren. Verkörpert sich ein Klient z.B. mit einer sehr großen Skulptur, nimmt er die Umgebung als auch die anderen Repräsentanten entsprechend als klein wahr.

Erfahrungen:

Die Arbeit mit dem Virtual Inner Team wurde mit Fokus auf die darin liegenden Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen der Masterarbeit von Christopher Gas in einer Gruppe mit vier Teilnehmern systematisch erprobt und ausgewertet. Während die Vorbereitungen der inneren Teamarbeit und damit die Identifikation der inneren Anteile ohne die Nutzung von VR stattfand, wurde die Aufstellung der Teamanteile in einer VR-Umgebung vorgenommen.

Die Gesamtbilanz der Erfahrungen war durchweg positiv. Es ließen sich deutlich mehr Möglichkeiten als Grenzen für die Arbeit mit dem inneren Team in VR feststellen. Die dreidimensionale Darstellung in VR sorgte bei den Testpersonen für eine hohe Identifizierung mit den eigenen inneren Teammitgliedern. Zudem empfanden die Klienten die Arbeit mit dem inneren Team als sehr fokussiert. Den größten Nutzen bietet der Perspektivenwechsel durch das Embodiment. Die Probanden berichteten von einem verbesserten Verständnis für ihre einzelnen inneren Teammitglieder, der ihnen dadurch ermöglicht wurde. Die Chance, das imaginäre innere Team in der virtuellen Welt „zum Leben zu erwecken“, erzeugte bei allen Probanden ein noch tieferes Verständnis über die vorherrschende innere Zerrissenheit, die sie verspürten.

Als bedeutsam stellte sich ein gutes Onboarding der Klienten heraus. Auch wurde deutlich, dass VR-Sitzungen eine Dauer von 45 Minuten nicht überschreiten sollten, um körperliche Belastungen zu vermeiden.

Insgesamt lassen sich bis auf das Embodiment auch auf den anderen Plattformen Aufstellungsarbeiten durchführen. Objekte müssen hier jedoch teilweise noch integriert werden.

Wirkung von Umgebungswechseln

Die Plattform Spatial.io eignet sich insbesondere dafür, Klienten durch Umgebungs- oder Raumwechsel eine neue Perspektive zu ermöglichen.

Erfahrungen:

In Spatial kann mit sogenannten Skyboxes gearbeitet werden. Diese beinhalten 360°-Aufnahmen von realen und fiktiven Umgebungen und können als Hintergrund in eine Umgebung eingebettet werden.

So lässt sich die Wunderfrage z.B. in einer auf die Frage und die Bedürfnisse des Klienten abgestimmten Fantasiewelt stellen. Die Skybox bietet hierfür den Hintergrund. Dies kann Klienten helfen, sich auf die Frage einzulassen. Eine weiteres Anwendungsfeld ist die Disney-Strategie und damit der Wechsel in den Raum des Träumers, des Realisten und des Kritikers. Für jeden Raum kann ein anderer Hintergrund gewählt werden.

Räume können auch durch „Portale“ gewechselt werden. Klienten reisen so per Klick durch Portale zwischen verschiedenen Räumen umher. Alle Umgebungen lassen sich individualisiert gestalten. Eine Hürde liegt darin, die Skyboxen und Umgebungen erst einmal anzulegen. Coaches brauchen hierfür entsprechende Kompetenzen. Zukünftig wird über die Nutzung von generativer KI jedoch eine einfachere Gestaltung möglich sein.

Visualisierungen und Bilder

Die meisten Plattformen ermöglichen den Upload von Bildern oder Objekten. Bilder können im Coaching z.B. zur Visualisierung, als Metaphern oder als Motto genutzt werden.

Erfahrungen:

VR eignet sich in der Arbeit mit Bildern insbesondere dann, wenn der Raum selbst miteinbezogen werden soll. So können Bilder in Distanz oder Nähe zum Klienten aufgestellt werden. Die Größe eines Bildes macht die Wahrnehmung eines Problem- oder Lösungszustands deutlicher. Auch das Erstellen einer eigene Erfolgsgalerie, in welche sich Klienten zur Ressourcenanreicherung begeben können, ist in VR möglich. Ebenso lassen sich Timelines mit Bildern anreichern.

„Bilder im Kopf“ lassen sich mittels 3D-Objekten auch räumlich darstellen. Eine darstellbare Metapher wäre z.B.: „Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.“ Hier könnte der Wald mit 3D-Objekten erstellt werden. Klienten können sich dann zwischen den Bäumen bewegen, beschreiben, was sie fühlen, und Lösung direkt im Bild erarbeiten.

Zur Vorbereitung müssen Bilder oder Objekte ausgewählt und vorab in die Umgebung hochgeladen werden.

Entspannungsübungen

Verschiede Anbieter bieten Meditationen, Fokussierungs- oder Atemübungen sowie entspannend wirkende Umgebungen in VR an. Das Eintauchen in die Umgebung macht es möglich, die stressige Außenwelt auszublenden und so Ablenkungen zu vermeiden. Neben spezifischen Apps können über YouTube VR auch entsprechende 360-Grad-Videos kostenfrei angesehen werden.

Erfahrungen:

Entspannende Umgebungen können bei Klienten spürbar zur Reduktion des Stressniveaus führen. Ob die Savanne Afrikas, der tropische Strand, ein Wald oder das Schwimmen mit Delfinen: Klienten können die Umgebung wählen, die ihnen guttut. Die App Nature Treks VR z.B. bietet sogar geleitetes Atmen an, was die Entspannungswirkung noch einmal erhöht. Für diese Anwendung muss lediglich die Software vorinstalliert werden.

Redeangst und souveräne Gesprächsführung

Bei Redeangst oder Unsicherheiten in der Gesprächsführung können via VR-Apps wie z.B.      VirtualSpeech Vorträge oder Gesprächssituationen simuliert werden. Klienten üben ihre Fähigkeiten durch Interaktion mit Avataren, die typische Reaktionen zeigen wie Fragen stellen, Einwände erheben, Gähnen o.ä. Klienten können so üben, entsprechend ihrer Zielvorstellung zu reagieren. Zudem werden im Hintergrund Daten über Aspekte wie den Blickkontakt, Füllwörter oder die Sprechgeschwindigkeit erhoben, die anschließend ausgewertet werden können.

Mittlerweile kann sogar eine individuelle Gesprächsführung mit einem ChatGPT-gestützten Avatar erfolgen, welcher am Ende Feedback dazu gibt, wie das Gespräch empfunden wurde.

Erfahrungen:

Durch die Immersion und empfundene soziale Präsenz vergessen Klienten häufig schnell, dass sie in einer virtuellen Umgebung sind. Die Situation wird entsprechend als echt empfunden, findet aber in einer sicheren Umgebung statt. Neues Verhalten lässt sich so im geschützten Rahmen testen.

Positive Effekte und Hürden

Die Beispiele machen die Potenziale von VR deutlich. Insgesamt lassen sich entsprechend der Erkenntnisse aus diversen Studien (vgl. auch Cummings & Bailenson, 2016; Hartmann & Bannert, 2022; Mohring & Brendel, 2020; Slater, 2009; Slater & Sanchez-Vives, 2016; Wirth et al., 2007) folgende positive Effekte auch in der Anwendungspraxis feststellen.

  1. Soziales Präsenzerlebnis: VR ermöglicht soziale Interaktion, auch über Distanz, und schafft ein natürliches Nähe- und Distanzgefühl.
  2. Fokussierung durch Immersivität: VR ermöglicht die Konzentration auf die Aufgaben, ohne Ablenkung durch andere Medien.
  3. Emotionsgestützte Interventionen: VR erzeugt durch das Gefühl der Präsenz Emotionen und integriert auch unterbewusste Reaktionen in Situation.
  4. Vorstellungskraftförderung: 3D-Modelle erleichtern die Visualisierung von Herausforderungen und Lösungen.
  5. Perspektivwechsel: VR ermöglicht das Betrachten von Dingen aus verschiedenen Blickwinkeln.
  6. Transfer durch Erlebnisorientierung: VR ermöglicht das wirkliche Erleben von Situationen und fördert so den Transfer der Erkenntnisse.


Wie bereits angesprochen gibt es jedoch auch Hürden und Risiken in Verbindung mit dem Einsatz von VR im Coaching. Diese sind:

  1. Umgang mit der Technologie: Vor allem Coaches sollten versiert im Umgang mit der Technologie sein.
  2. Infrastruktur und Vorbereitung der Technik: Es bedarf eines VR-Headsets und eines PCs sowie einer ausreichenden Internetverbindung. Die VR-Brillen müssen eingerichtet und die Software installiert werden.
  3. Onboarding von Klienten: Klienten müssen im Umgang mit der Technologie geschult werden und die Navigation in Umgebungen beherrschen.
  4. Kognitive Überlastung: Zu viele Informationen über unterschiedliche Wahrnehmungskanäle können zu einer kognitiven Überlastung bei Klienten führen.  
  5. Körperliche Belastung und Motion Sickness: Selten, aber durchaus möglich sind Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel.

Im Coaching-Prozess selbst kann es noch einmal zu folgenden spezifischen Risiken kommen. Wenn Klienten die Technologie nicht akzeptieren, kann dies die Beziehung im Coaching stören und Interventionen wirkungslos machen. Es ist also vorab zu klären, ob Klienten bereit sind, sich hierauf einzulassen. Wenn die Technologie selbst zum Thema im Prozess wird, kann dies zu einer triadischen Situation zwischen Coach, Technologie und Klienten führen und damit den Prozess beeinflussen. VR-Headsets können zudem derzeit die nonverbalen Signale des Klienten (noch) nicht ausreichend erfassen. Allerdings gibt es auf diesem Gebiet stetig Weiterentwicklungen.

Insgesamt hat VR das Potenzial, das Coaching in eine neue digitale Ära zu führen. Vielfältige Vorteile lassen sich bei Nutzung der Technologie verwenden. Dennoch gibt es Hürden. Viele lassen sich durch eine entsprechende Übung und Erfahrung des Coachs minimieren, einige werden sich reduzieren, je mehr Menschen diese Technologie auch privat nutzen. Die Wirksamkeit selbst muss jedoch durch entsprechende Studien überprüft werden.

Literatur

Cummings, J. J. & Bailenson, J. N. (2016). How Immersive Is Enough? A Meta-Analysis of the Effect of Immersive Technology on User Presence. Media Psychology, 19(2), S. 272–309. https://doi.org/10.1080/15213269.2015.1015740

Dunmoye, I.; May, D. & Hunsu, N. (2022). An Exploratory Study of Social Presence in a Collaborative Desktop Virtual Reality (VR) Land Surveying Task. IEEE. 2022 IEEE Frontiers in Education Conference (FIE).

Hartmann, C. & Bannert, M. (2022). Lernen in virtuellen Räumen. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 47, S. 373–391. https://doi.org/10.21240/mpaed/47/2022.04.18.X

Hofmann, S. M.; Klotzsche, F.; Mariola, A. et al. (2021). Decoding subjective emotional arousal from EEG during an immersive virtual reality experience. eLife, 10. https://doi.org/10.7554/eLife.64812

Makransky, G. & Petersen, G. B. (2021). The Cognitive Affective Model of Immersive Learning (CAMIL): a Theoretical Research-Based Model of Learning in Immersive Virtual Reality. Educational Psychology Review, 33(3), S. 937–958. https://doi.org/10.1007/s10648-020-09586-2

Rauen, C. (2017). Wie die Industrie 4.0 Coaching und Weiterbildung verändern wird. RAUEN Coaching-Newsletter, April. Abgerufen am 02.11.2023: www.coaching-magazin.de/beruf-coach/wie-die-industrie-4-0-coaching-veraendern-wird

Rauen, C. et al. (2023). RAUEN Coaching-Marktanalyse 2023. Abrufbar unter: www.rauen.de/cma

Sanchez-Vives, M. V. & Slater, M. (2005). From presence to consciousness through virtual reality. Nature Review Neuroscience, 6(4), S. 332–339.

Schäfer, C.; Rohse, D.; Gittinger, M. & Wiesche, D. (2023). Virtual Reality in der Schule. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 51, S. 1–24. https://doi.org/10.21240/mpaed/51/2023.01.10.X

Schuster, L.; Friedrich, A.‑S.; Kothgassner, O. D. & Zemp, M. (2022). Virtual Reality als Trainingstool in der Klinischen und Gesundheitspsychologie. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 51(2), S. 109–116. https://doi.org/10.1026/1616-3443/a000662

Slater, M. (2009). Place illusion and plausibility can lead to realistic behaviour in immersive virtual environments. Philosophical transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological sciences, 364(1535), S. 3549–3557. https://doi.org/10.1098/rstb.2009.0138

Slater, M. & Sanchez-Vives, M. V. (2016). Enhancing Our Lives with Immersive Virtual Reality. Frontiers in Robotics and AI, 3. https://doi.org/10.3389/frobt.2016.00074

Wirth, W.; Hartmann, T.; Böcking, S. et al. (2007). A Process Model of the Formation of Spatial Presence Experiences. Media Psychology, 9(3), S. 493–525. https://doi.org/10.1080/15213260701283079

Wolfartsberger, J.; Riedl, R.; Jodlbauer, H. et al. (2021). Virtual Reality als Trainingsmethode: Eine Laborstudie aus dem Industriebereich. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik, 59(1), S. 295–308.    

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