Immer öfter ist die Rede von agilem Coaching. Doch was verbirgt sich hinter dem Modebegriff? Welches Coaching-Verständnis liegt dahinter? Worin besteht der Unterschied zu einem Business-Coach, einem Team-Coach oder Teamentwickler? Dieser Beitrag blickt hinter die Kulissen, versucht eine Abgrenzung und gibt Empfehlungen für ein neues Berufsbild.
In immer mehr Stelleninseraten suchen Unternehmen einen „agilen Coach“. Studien wie die „State of Agile Survey“ (2018) räumen agilem Coaching eine Schlüsselrolle beim Erfolg von agiler Transformation ein und befeuern so den Hype. Die Zahl der Ausbildungen zum Thema ist auch aufgrund der somit steigenden Nachfrage unüberschaubar groß geworden.
Deren Inhalte sind allerdings so unterschiedlich wie die Vorstellungen von agilem Coaching. Das betrifft sowohl die Curricula als auch den Umfang: Von wenigen Tagen bis zu einem Jahr finden sich viele Varianten. Teils werden konkrete agile Praktiken gelehrt, teils Kommunikationstools, ein bisschen systemisches Denken hier, etwas Praktisches für die Konfliktlösung da – ein bunter Agil-Garten. Einigkeit besteht wohl nur darüber, dass agiles Coaching wichtig ist – was auch immer sich dahinter verbergen mag.
Einige Kurse beinhalten auch gleich die Vorbereitung auf eine „Scrum-Master-Prüfung“. Dabei werden in einem Test einer der beiden großen Scrum-Organisationen per Multiple-Choice-Online-Test Fragen zum Scrum-Guide beantwortet. Da geht es um Abfragewissen, mit Anwendungskompetenz von Coaching hat das nichts zu tun. Es befähigt niemanden, im agilen Kontext erfolgreich zu sein. Aber es vermittelt eine Ahnung, worum es beim agilen Coaching geht: z.B. Teamarbeit in Selbstorganisation. Also ein echtes Kollaborieren, kein Nebeneinanderher-Arbeiten. Und um Rollenkonzepte, die außerhalb formaler Hierarchie Verantwortungsbereiche definieren.
Für Interessenten an einer Ausbildung ist es auch aufgrund der unklaren Anforderungen an das Berufsbild schwer, sich zu orientieren. Worum geht es im agilen Coaching? Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet in den Konzepten der Anbieter – mal mehr aus Sicht der IT, des Change-Managements, der Personalentwicklung und Managementberatung oder Team- und Organisationsentwicklung.
Der große Marktplatz für agiles Coaching spiegelt, was gerade in den Unternehmen geschieht. Alle wollen oder vielmehr müssen agiler werden, jedoch unterscheiden sich die Vorstellungen davon, was Agilität eigentlich genau beinhaltet. Sie scheint dennoch als Geheimwaffe zur Komplexitätsbewältigung und damit zum Überleben auf dynamischen Märkten unbestritten zu sein. Der größte gemeinsame Nenner sind selbstorganisierte Teams und Netzwerkstrukturen – weg von Hierarchie und vor allem durch sie entstehende Bürokratie.
Dabei wird als erstes üblicherweise zu Tools gegriffen und sich auf Methoden verlassen, bis man merkt, dass nicht nur die Märkte komplex sind, sondern auch die Dynamiken in Gruppen. Vielfach suchen Unternehmen Coaches oder Scrum-Master mit Fachwissen. Deren Tätigkeit wird oft erst dann mit „Team-Coaching“ in Verbindung gebracht, wenn bereits die Erfahrung gemacht wurde, dass genau das gebraucht wird – und am Ende die Qualität der Kommunikation den Unterschied macht und nicht das Fachliche.
In dieser Lesart ist agiles (Team-)Coaching eine höchst anspruchsvolle Mischung mit dem Ziel der Teamentwicklung. Wissen um agile Frameworks ist dabei fraglos hilfreich. Kommunikation zu initiieren und im Sinne von Zusammenarbeit zu beeinflussen, fordert allerdings mehr. Das wird spätestens bewusst, wenn man sich vor Augen führt, was über Teamarbeit bekannt ist.
Verschiedene Studien, so auch Googles „Project Aristotle“, heben hervor, dass psychologische Sicherheit der zentrale Faktor für Teamleistung ist (Rework, 2018). Diese Sicherheit ist ein sensibles Konstrukt und hat mit Tool-Nutzung rein gar nichts zu tun. Ferner zeigt die Studie, dass Zielbindung und das Gefühl, mit seiner Arbeit etwas bewirken zu können, wichtig sind. Fachkompetenz dagegen habe, so die Studie weiter, zwar auch einen Einfluss, aber einen weit geringeren als die genannten Faktoren. Andere Studien bezeugen die Wichtigkeit gemeinsamer mentaler Modelle für die Zusammenarbeit, vor allem für Zusammenarbeit im Kontext selbstorganisierter, also nicht hierarchisch geführter Teams.
Aus alldem ergibt sich, wo ein agiles Coaching ansetzen müsste: Bei den Interaktionen im Team im Zusammenspiel mit der Organisation. Denn wenn die Unternehmenskultur gar keinen Boden für fruchtbare Teamarbeit bietet, kann darauf auch durch noch so viel agiles Coaching nichts entstehen. Auch da gibt es unzählige Studien etwa zur Bedeutung des Teamklimas für Innovation (Hofert, 2017). Dieses gedeiht vor allem auch durch Unterstützung von oben. Dafür brauchen Coaches Zugang zu den Schaltzentralen der Macht. Denn von hier lassen sich die Strukturen beeinflussen, die die Teamperformance am meisten behindern.
Aufgabe des agilen Coachs ist es aber auch, auf das „Mindset“ im agilen Sinn einzuwirken – und damit die Einstellung der Psyche, die Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln bestimmt, zu beeinflussen (Hofert, 2018). Sollten Mitarbeiter lange Zeit vor allem individuelle Ziele erreichen und Experten sein, gilt es jetzt gemeinsam an Verbesserungen und Innovationen zu arbeiten. Erwartet wird unternehmerisches Denken, Initiative und Gestaltungsfreude. Das ist ein erheblicher Kontrast zur Fleiß-, Ego- und Einzelleistungskultur des Industriezeitalters.
Was das dem agilen Coach abverlangt, ist den Unternehmen oft nicht klar. Gerade Führungskräfte erleben, dass Agilität das eigene Führungsverständnis und tief verankerte Grundannahmen berührt. Mit Motivationsparolen kommt ein agiler Coach da nicht weiter. Oft geht es darum, grundlegende Reflexionen anzustoßen. Widerstände, Doppelbotschaften und Konflikte sind dabei ganz normale Begleitumstände, mit denen ein Coach umgehen können muss. Das verlangt neben einer reifen Persönlichkeit eben auch Kenntnisse in Team- und Organisationspsychologie und methodische Kenntnisse, etwa in Konfliktmoderation.
Im Zentrum agilen Arbeitens stehen selbstorganisierte Teams. Diese sollen „empowered“ sein und eigene Entscheidungen treffen. Führung wird zu einem großen Teil von Prozess- und Kommunikationsstrukturen übernommen, wie etwa der „Retrospektive“ oder dem „Review“ im verbreiteten Framework „Scrum“. In einer so genannten „Iteration“ arbeitet das Team ungestört und eigenverantwortlich. Damit das möglich wird, gibt es die Rolle des Scrum-Masters. Der Scrum-Master im Scrum-Team ist zuständig für die Einhaltung der Scrum-Regeln und das Ausräumen von Hindernissen („impediments“). Damit sind ausdrücklich auch kommunikative Hindernisse gemeint, kurzum alles, was der konzentrierten Arbeit und Leistungsfähigkeit im Weg steht.
Es stellt sich die Frage, welche Rolle ein agiler Coach in diesem Konzept einnimmt. Steht er über dem so genannten Scrum-Team? Ist es also eine separate Rolle? Oder ist diese ähnlich oder identisch mit dem Scrum-Master? Schaut man sich Stelleninserate an, so denken viele Unternehmen agiles Coaching und den Scrum-Master zusammen. Doch in der Praxis hat sich das als oft problematisch erwiesen, ist der Scrum-Master doch Teil des Team-Systems. In vielen Organisationen hat sich deshalb der agile Coach als weitere Rolle ausgebildet, die im Stab oder teils auch in HR verankert ist. Er unterstützt das Team zeitweise – etwa bei einem Konflikt – als Team-Coach. Er coacht auch die Scrum-Master, etwa in der Moderation wirksamer Retrospektiven.
Agiles Coaching positioniert sich somit zwischen den Polen Moderation und Team-Coaching oder auch Teamentwicklung im agilen Kontext. Teamentwicklung ist dabei der Prozess, Team-Coaching die Interventionsebene. Zudem bestehen Bezüge zum Training (Vermittlung von Methoden). Dabei bieten die Begriffe dem Profi Orientierung, im Unternehmenskontext werden sie uneinheitlich verwendet.
Die meisten Unternehmen sprechen von Coaching und meinen Verhaltens-Training, verbunden mit der Aufforderung: „Sorg dafür, dass sich das Team nach den agilen Werten verhält.“ Dass Werte sich nicht einfach lernen lassen und als Introjekte verwirrende Doppelbotschaften erzeugen, ist wenigen klar.
Wie agiles Coaching interpretiert wird, hängt somit auch entscheidend an der Unternehmenskultur. Viele hängen agiles Arbeiten und anschließend auch agiles Coaching in ihr vorhandenes Paradigma, z.B. ein Effektivitätsparadigma. So wird lediglich der alte Rahmen ausgetauscht, das Bild bleibt hängen. Denning (2018) sieht den agilen Coach als Motivator und Architekt der Teamleistung, der den Fokus auf die gemeinsamen Ergebnisse lenkt. Die Steigerung von Konzentration und Aufmerksamkeit ist dabei wichtiges Element, ähnlich wie bei Leistungssportlern. Der agile Coach ist im Effektivitätsparadigma ein motivierender Trainer, der gern auch moderieren und Workshops halten darf.
Dem steht ein deutsches Verständnis gegenüber, dass stärker im Effizienzparadigma verhaftet ist. Aus diesem ergibt sich oft Methoden- und Best-Practice-Gläubigkeit. Der agile Coach ist aus diesem Blickwinkel der Experte, der Tools vermittelt und schult. Die Strukturrahmen der Agilität sind statischer interpretiert. Man legt Wert auf Output und Beschleunigung, übersieht aber regelmäßig die Bedeutung der Qualität von Kommunikation. Die vergangene Arbeitswelt, vor allem im industriellen Umfeld, hat Effizienz-Denken ausgeprägt, das den Menschen an die Bedingungen anpasste, anstatt ihn Bedingungen gestalten zu lassen. Selbstführung blieb da auf der Strecke, Kommunikationsvermögen als Kompetenz wurde zur Nebensache – die jetzt in Verbindung mit Agilität in den Fokus rückt.
Adkins (2010) schreibt dem agilen Coach sechs verschiedene Rollen zu: Mentor, Facilitator, Lehrer, Problemlöser, Konfliktnavigator, Förderer der Zusammenarbeit. Zudem könnte man noch die Rolle des Motivators anführen, da Adkins davon ausgeht, dass Klienten nicht wie Esel durch Karotten oder Schläge, sondern durch die Sinnhaftigkeit und den Nutzen ihrer Tätigkeit motiviert werden. Das ist ein ganz schöner Balanceakt und ein Konglomerat aus verschiedenen Ansätzen der Teamentwicklung, des Team-Coachings und des Trainings.
Doch wie sollen sich agile Coaches in den unterschiedlichen Rollen angemessen bewegen? Wer hier einen Konflikt moderiert und dort agile Methoden vermittelt, braucht Rollenklarheit und als Angestellter mit unterschiedlichen „Hüten“ auch Rollenflexibilität. Erst recht wenn man zugleich in einer Führungsrolle ist. Ein Spagat, über den sich ein agiler Coach jederzeit bewusst sein muss.
Ein erster Schritt liegt darin, sich die eigene Haltung bewusst zu machen:
Teamentwicklung als Prozessbegleitung liegt zwischen allen diesen Positionen, wobei es dem Teamentwickler stets bewusst sein sollte, wo er agiert und sich sein Schwerpunkt phasenbezogen ändern kann und muss. Team-Coaching liegt auf der Interventionsebene und ist Teil von Teamentwicklung.
Haltung ist jedoch nicht nur eine Frage der Rollenbewusstheit. Es geht auch um Grenzziehung. Kann ein agiler Coach auffangen, was er anstößt? Vom „agilen Lehrer“ hin zu einem die Persönlichkeits- und Teamentwicklung fördernden Coach ist es ein weiter Weg, der einen hohen „EQ“ und viel Selbsterfahrung verlangt. Die beste Coaching-Ausbildung kann die nicht bieten, eine agile Coaching-Ausbildung erst recht nicht. Sie kann nur eines leisten: Zeigen, was es bedeutet, agil zu denken und zu handeln und die bisherigen Grundannahmen über Zusammenarbeit und Führung zu aktualisieren. Sie kann auch der Orientierung dienen: Welche Art von agilem Coaching kann und will ich selbst anbieten?
Wer dazu eine klare Haltung hat, kann auch seinen Arbeit- oder Auftraggeber dahingehend beraten. Wer mehr sein will als ein Trainer für agile Methoden, braucht psychologisches und gruppendynamisches Know-how, das weit über die von Laien schnell inkompetent angewendeten „Tuckman-Phasen“ hinausgehen muss. Die komplexe Dynamik in Gruppen erfordert immer auch den Blick auf die systemischen Zusammenhänge. Der Coach im agilen Kontext muss eine Situation analysieren und Hypothesen aufstellen können. Dabei helfen ihm verschiedene Ansätze, systemische und psychologische. Er muss agile Werte wie Offenheit, Feedback, Fokus, Respekt, Mut und Einfachheit vorlegen, iteratives Arbeiten verstehen und bereit sein, sich schnell durch Hilfe zur Selbsthilfe überflüssig zu machen. Das sorgt für einen abwechslungsreichen und spannenden Job, ist aber auch ganz schön anspruchsvoll.