Im Witz wird ein Unternehmensberater als jemand definiert, der 99 Liebesstellungen kennt („Tools“), aber noch nie eine Freundin hatte, dem es also zumindest an Felderfahrung fehlt.
Aus Witz wird im Manageralltag schnell Ernst. Ich denke bei dem Thema Feldkompetenz im Coaching unweigerlich an eine Analogie zum Trend in der Management-Diagnostik: Für gestandene Führungskräfte in Großunternehmen ist es schon von jeher eine echte Zumutung, mit Management Appraisals, Quality Gates sowie mit dem Prüfungsmaßstab von auf obsoleter „Great Man Theory“ basierenden Kompetenzmodellen oder ähnlichem ständig auf ihre künftige Brauchbarkeit geprüft zu werden.
„Top of the Cream“ ist aber, dass ihnen dabei regelmäßig im Prokrustesbett des vollstrukturierten Interviews zwei „Jung-Psychologen“ eines internationalen Beratungsunternehmens als „Prüfer“ gegenübersitzen. Aus Managementsicht sind diese noch „grün hinter den Ohren“, haben vom Business eh keine Ahnung, werden billig bezahlt, dafür teuer fakturiert. Ein schlichtes Geschäftsmodell. Doch die besseren Diagnostiker machen zumindest dieser Pein neuerdings ein Ende. Sie ersetzen das Assessment durch ein „Business-Review“ und staffen die Gesprächspartner mit businesserfahrenen Senior-Experten. Das schafft Augenhöhe und Anschlussfähigkeit und am Ende weiß man, ob der Manager – auf seine individuelle Art – sein Geschäft im Griff hat. Was für den Diagnostiker gilt, gilt auch für den Coach: Erkennen setzt Kennen voraus.
Feldkompetenz, am besten durch (reflektierte!) Felderfahrung erworben, ist deshalb die entscheidende Eintrittskarte auch für das Management-Coaching. Natürlich ist noch viel mehr erforderlich, unter anderem eine solide Kompetenz vermittelnde Coaching-Ausbildung. Doch an erster Stelle steht eindeutig nach allen Umfragen bei Klienten die Feldkompetenz. Unbestritten ist man mit dem Diplom in Psychologie genauso wenig automatisch ein guter Psychologe, wie man mit dem Diplom der Philosophie zum Philosophen avanciert.
Demgegenüber: Wer – um eine alte Indianerweisheit zum Menschenverständnis aufzugreifen – selbst schon „in den Mokassins“ des Managers gegangen ist, versteht die komplexen Anforderungen der Managerrolle im System viel schneller und genauer. Er weiß, „wie sich das anfühlt“. Wirkliches Verstehen ist kein rein kognitiver Prozess. Statt sonst aufwendiger Erklärung des Problemkontexts ermöglicht die Feldkompetenz kraftvolle Konzentration und Fokus auf Entwicklungspotenzial oder Störungen und Blockaden. Der gesamte Prozess ist viel schneller und „einfühlsamer“ auf Lösungen ausgerichtet, die echtes Fundament haben.
Das Pro der Feldkompetenz setzt dabei schon viel früher im Beratungsprozess an, nämlich im partnerschaftlichen, vertrauensvollen Beziehungsaufbau auf Augenhöhe. Coach und Klient sprechen dieselbe Sprache: Free Cash Flow, Ebitda, Roce und Stakeholdermanagement und so weiter sind auch für den Coach keine Fremdwörter! Die hier postulierte Ebenbürtigkeit basiert nicht auf einer vielleicht sogar akademisch geadelten „ Master of Coaching & hast-Du-nicht-gesehen“-Ausbildung, sondern auf verbindenden, ähnlichen Erfahrungen im Feld. Zur Klarstellung: Mit „Feld“ meine ich nicht die Branche, sondern die spezifische Managerrolle. Ab einer bestimmten Unternehmensgröße und Managementlevel spielt die Branche für dieses Rollenverständnis in der Regel keine Rolle mehr. Damit ist auch der große Erfolg leicht zu erklären, den der international renommierte Coaching-Guru Manfred Kets de Vries mit der Ausbildung ehemaliger, global agierender Unternehmensvorstände zum Executive-Coach hat. Den gleichen Erfolg prophezeie ich der neuen Gruppe mit ehemaligen Vorständen um den früheren Eon-CEO Wulf Bernotat. Soweit ich das aus den Medien beurteilen kann, hat er in Deutschland eine vergleichbare Initiative gestartet, wenn er dafür auch die Flagge „Mentoring“ gehisst hat (vielleicht auch, um sich bei seinem Beratungsangebot von gewissen diplompsychologischen Begrenzungen im Coaching zu emanzipieren?).
Am Ende zugegeben: Coaching-Anlässe sind vielfältig. Der Eine und die Andere gehen für die Eheberatung statt zu Pro Familia zum katholischen Priester und es hilft – wie auch spezifische Themen wie Achtsamkeit und Wahrnehmung hervorragend von Künstlern adressiert werden können und Entscheidungskraft mit Schwertkampftraining (Ent-Scheiden!) geschärft werden kann. Für den Gesamtprozess jedoch ist Feldkompetenz unabdingbar.
Sich in der Rubrik „Kontroverse“ zu positionieren, ist für einen Systemiker eigentlich eine Zumutung. Am Ende wird dann doch das eine oder andere von beiden Seiten brauchbar oder unbrauchbar sein. Die Frage, ob ein Coach Feldkompetenz benötigt oder nicht und wenn ja, wie viel, wird wohl zwangsläufig bei den Antworten landen: Ja, ein Coach braucht Feldkompetenz – aber nicht immer und überall. Und: Nein, Feldkompetenz lenkt ihn von der viel wichtigeren Prozesssteuerung ab, die den Klienten zu einem aktiven, selbstgesteuerten Handeln bringen soll.
Hier muss ich mich nun klar auf die Kontra-Position festlegen, was mir trotz aller Skepsis eine diebische, naive Freude beschert. Ich wollte es doch immer schon diesen hochspezialisierten Fachleuten zeigen. All den Besserwissern, die jedes Problem mit der Suche nach der Ursache angehen und in der Folge eine passende Lösung bereithaben. Nach dem Motto: „Der Spezialist hat für jedes komplexe Problem eine passende Lösung.“ Nur ist diese leider häufig nicht die Richtige, was in den immer komplexer werdenden Abläufen und hoch getakteten Veränderungen in Unternehmen auch nicht verwunderlich ist.
Die Gefahr der Polarisierung im Blick, wohl wissend, eine Grenze zu berühren, argumentiere ich leidenschaftlich: Nein, ein Coach benötigt keine Feldkompetenz. Im Gegenteil, sie steht ihm eher im Weg. Immer noch verbreitet ist die Forderung, dass ein Coach neben der selbstverständlichen psychologischen Kompetenz und einem ausreichenden Introspektionsvermögen auch eine beachtliche Feldkompetenz mitbringen sollte. Demgegenüber kann ich als Prozessexperte argumentieren, dass ich meinem Klienten nicht fachlich gleichwertig oder gar überlegen sein sollte, um nicht von vornherein ein gravierendes Beziehungsgefälle zu schaffen. Der Klient soll schließlich im Coaching die Antworten auf seine Fragen selbstaktiv finden. Die Überlegenheit des Coachs in Fachfragen bedingt beim Kunden schnell das Gefühl von Inkompetenz, die der Lösungsfindung im Wege steht. Einmal in Gang gesetzt, lässt sich dieses Gefälle kaum mehr korrigieren. Vorgegebene Lösungen, Ratschläge und Weisungen fördern auf der Kundenseite ein Konsumverhalten, das selbstorganisierte Prozesse und damit die Coaching-Idee an sich unterdrückt.
Die Pro-Feldkompetenz-Anhänger geben vor, dass sie nur dann wirksam werden können, wenn sie ausschließlich Kunden beraten, deren Fachgebiet sie kennen. Und ich höre schon das Raunen und den Vorwurf der Hybris, ein Coach für jede Person und jedes Problem zu sein. Meine Antwort ist: Nein, das glaube ich nicht. Im Gegenteil, ich werde gezwungen, klare Unterscheidungen zu treffen, was geht und was nicht. Welchem Prozess, mit welchem Kunden und dem dazugehörigen Problem ich mich widmen kann und welchem nicht.
Was soll denn mit einer breiten Feldkompetenz eigentlich gemeint sein? Fragt mich beispielsweise ein Mitglied des Vorstands des Bauernverbands an, muss ich dann zum Nachweis meiner Qualifikation zunächst ein Landwirtschaftsstudium absolvieren? Nach meiner Erfahrung wollen diese Kunden mich als Prozessberater und nicht als korrigierenden, allwissenden Konkurrenten ihres Fachgebiets.
Allerdings muss ich kleinlaut zugeben, dass gerade zu Beginn eines Coaching-Prozesses die Frage nach Feldkompetenz oft zum Kriterium der Auswahl wird: „Kann dieser Coach mich überhaupt verstehen, wenn er keine Ahnung von dem hat, was mein tägliches Geschäft ist?“ Hiermit ist jedoch selten Feldkompetenz im Sinne der Definition als spezifischer Sach- und Fachkenntnis, die durch Erfahrung in einer bestimmten Branche oder einem Tätigkeitsfeld erworben wurde, gemeint. Vielmehr sorgt sich der Klient darum, ob ich ihn im Kontext seiner Organisationsstrukturen sehen und hinterfragen kann. Dazu reichen weder isolierte Prozessorientierung noch breite Feldkompetenz aus.
„Brauchbare Feldkompetenz“ erwächst aus der Praxis: Dem Entwickeln vieler unterschiedlicher Organisationen; der Planung und Durchführung großer und kleiner Change-Prozesse sowie der Neugier und Begeisterung, immer wieder mit Menschen in differenten Systemstrukturen neue Wege zu suchen und auszubauen.