Die Anfrage für diese Kontroverse lässt mich erst einmal stutzen: Graue Schläfen? Meinen die mich? Ist es schon soweit? Macht es überhaupt Sinn, Coaching-Kompetenz und Coaching-Erfolg übers Alter zu definieren – und dann zudem kontrovers? Zu jedem Pro fällt mir sofort ein Kontra ein. Natürlich sind Lebens- und Berufserfahrung für einen Coach vorteilhaft, aber Alter an sich ist ja noch kein Kompetenzbeweis.
Im Gespräch mit Kollegen schälen sich dann doch ein paar eindeutige Vorteile heraus. Manches wird im Laufe eines Coach-Lebens mit der gesammelten Erfahrung eindeutig leichter: Die Feldkompetenz wächst und die Einsatzmög lichkeiten werden breiter. Die Themen der Klienten werden vertrauter, Interventionen, Methoden und Modelle sind ohne Nachdenken parat. Die ganze Aufmerksamkeit steht der Fragestellung des Klienten und dem Prozess zur Verfügung.
Man wird gelassener und kreist weniger um sich selbst. Die Frage, ob man als Coach gut genug ist, verschwindet allmählich und macht Platz für die viel sinnvolleren Fragen: Kann ich das gut begleiten? Reicht meine Fach- oder Feldkompetenz für die Fragestellung? Will ich das Coaching annehmen? Oder lieber seriös weitervermitteln? Man hat über die Jahre gelernt, aus unmöglichen Anfragen sinnvolle Aufträge zu machen – oder sie frühzeitig abzulehnen, ohne dabei die Konzilianz und den Humor zu verlieren.
Vorteilhaft ist auch, dass mit zunehmender Lebens- und Berufserfahrung in der Regel auch die Kompetenzzuschreibung wächst: Die Klienten sind weniger mit der Frage beschäftigt, ob der Coach ausreichend kompetent ist und können sich umso besser ihrem eigentlichen Anliegen widmen. Die altersbedingte Kompetenzzuschreibung ist allerdings nur ein kurzfristiger Kredit, der dann über echte Feld- und Gesprächskompetenz auch eingelöst werden muss. Älter und wenig anregend ist nicht unbedingt besser als jünger und wenig anregend.
Soweit die farbenfrohen Aspekte der grauen Schläfen. Aber es gibt natürlich auch ein paar Herausforderungen, mit denen ältere Coaches umgehen müssen: Man muss ausreichend selbstkritisch, neugierig und lernbereit bleiben, auch wenn man in den über Jahre gewachsenen Routinen immer wieder erfolgreich ist.
Man muss sich auf jede individuelle Geschichte neu einlassen, auch wenn sich die Fragestellungen wiederholen und man oft nach wenigen Sätzen des Klienten meint, schon Bescheid zu wissen. Eine andere Frage ist: Helfen graue Schläfen beim Erwerben von Coaching-Kompetenz? Oder sind sie eher hinderlich, sind die jungen Leute hier im Vorteil? In unseren Ausbildungsgruppen erleben wir die ganze Vielfalt: Es gibt 30-jährige „Hochbegabungen“ mit einer natürlichen Autorität, die nicht nur spielend lernen, sondern auch als Persönlichkeiten früh reif sind und als Coach schnell Akzeptanz gewinnen.
Auf der anderen Seite erleben wir 50-jährige gestandene Führungskräfte oder Unternehmensberater, die sich nur schwer lösen können von der Rolle des allwissenden Experten. Aber dann gibt es eben auch jüngere Ausbildungsteilnehmer, deren Ehrgeiz sie daran hindert, gelassen zu lernen. Und natürlich gibt es auch 60-Jährige, die aus der Fülle ihres Lebens schöpfen und zugleich ihrem Gegenüber voller Neugier und in großer Offenheit begegnen.
Mein Fazit: Alter, Lebens- und Berufserfahrung an sich sind keine Erfolgsrezepte im Coaching. Es kommt darauf an, welche Haltung und welcher Geist hinter den grauen Schläfen stecken. Und wie das dann zu den Wünschen des Klienten passt: Wer Gelassenheit und Lebensklugheit sucht, wird diese vielleicht eher bei einem älteren Coach finden.
Wer sich unbeschwert anregen und ermutigen lassen will, kann das sicher bei Kollegen jeden Alters erleben. Und wer Expertise oder fundiertes Feedback zur Klärung seiner Fragen braucht, wird sich vermutlich – unabhängig vom Alter – eher einen Coach mit entsprechender Fach- oder Felderfahrung suchen.
Ich gehöre zu den Frauen, die mit 30 Jahren noch keine grauen Haare haben – zum Glück! – Oder Pech gehabt für den Job als Coach?
Nun, beginnen wir mit der Klärung der Frage etwas früher: Ich war 27 Jahre alt, hatte zwei Studienabschlüsse, einschlägige Berufserfahrung und war fertig ausgebildeter systemischer Coach. Kann das funktionieren? Da ich mir diese Frage selber mit Nein beantwortete, war der Kreislauf perfekt: Ich hielt mich für zu jung. Kunden beauftragten mich nicht. Also ging ich davon aus, dass Kunden mich nicht beauftragten, weil ich zu jung war. Und nun? Selbstpositionierung ist folglich das Stichwort. Aber wie?
Vor dieser Herausforderung steht jeder, der sich auf dem Coaching-Markt behaupten will. Ob jung, alt, graue Schläfen oder nicht … Dazu gehören für mich auf der einen Seite spezifische fachliche Qualifikationen, unter anderem:
Auf der anderen Seite stehen für mich grundlegende soziale/persönliche Anforderungen, beispielsweise:
In meiner bisherigen Entwicklung als Coach kann ich zwei entscheidende Wendepunkte erkennen: Der erste war jener, an dem mir klar geworden ist, dass ich selbst vermutlich der Mensch war, der aus seinem Alter das größte Thema machte. Ich musste also aufhören, mein Alter zuerst durch die Tür zu schicken. Das war schwer angesichts von Kunden, die offen bekundeten, mit mir aufgrund meines Alters nicht arbeiten zu wollen.
Die klare Positionierung löste andererseits meinen „Welpenschutz“ auf. Es lebt sich gut hinter einer Schutzmauer und sei es drum, dass sie „Alter“ heißt. Hinter der Mauer hervor zu lugen und langsam den einen oder anderen Stein zu entfernen, hat sich gelohnt. Denn wer hört nicht gerne, dass man ein gutes Beispiel dafür sei, dass Souveränität nichts mit biologischem Alter zu tun hat. Mir hat es gefallen!
Die zweite Wende brachte die Erkenntnis, dass nicht jeder Kunde gut bei mir aufgehoben ist. Es ist okay und im Übrigen auch völlig verständlich, dass sich ein 60-jähriger Vorstandsvorsitzender eine(n) meine(r) grau melierten Kollegen(innen) als Coach aussucht.
Da half es, dass mir mit 28 Jahren ein Lehrauftrag an der Hochschule Bremerhaven zum Thema Coaching angeboten wurde. Mit Studenten zu arbeiten, erschien mir beispielsweise passend.
Durch die Differenz an Alter, Erfahrung und Kompetenz war es mir möglich, die anfängliche Unsicherheit zu überbrücken und im Lauf der Zeit mehr an Sicherheit zu gewinnen. Ebenso schaffte ich es, mich in Kundengruppen mit Berufseinsteigern zu behaupten. Dies grenzt aus: Klienten auszuschließen, wenn am Anfang der Karriere der Kundenstamm noch überschaubar ist, ist schwer. Aber letztlich habe ich mit dieser Ausdifferenzierung meine Kundengruppe, mein Profil und damit mein Auftreten geschärft.
Ich musste mich nicht eingrenzen, weil mir von Außen Beschränkungen vorgegeben wurden. Dies diente vielmehr meinem persönlichen Entwicklungsprozess. Meine eigene innere Erlaubnis, mit Personen zu arbeiten, die jünger oder gleich alt waren, weniger oder ver gleichbar viele Erfahrungen wie ich hatten, war höher. Und gleichzeitig ermöglichte ich mir, damit mehr Erfahrung und mehr Sicherheit aufzubauen.
Diese Entwicklung ließ mir die Chance zum Perspektivenwechsel: Konnte es sein, dass Kunden mich aufgrund meiner Kompetenz, Souveränität und Professionalität beauftragten und nicht aufgrund meines Alters? Das war eine Überlegung wert. Vor allem war sie sehr hilfreich, da sie mir am Ende zeigte, dass es weniger um das Außen geht als um meine eigene innere Haltung.
Musste ich dies tun, weil ich Ende 20 war? Ich denke nicht … Ich musste dies tun, weil ich mich in einem völlig neuen Arbeitsfeld positionieren musste. Und dies kann ich eigentlich nur jedem angehenden Coach empfehlen: ob 30, 40, 50 oder 60 Jahre … ob graue, schwarze, rote oder blonde Haare.
Und die gute Nachricht zum Schluss: Meine Kunden scheinen seit einiger Zeit älter zu werden!