Immer wieder hat technischer Fortschritt zu weitreichenden Umwälzungen menschlicher Lebensrealitäten geführt. Man denke beispielsweise an die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert, den späteren Ausbau des Schienenverkehrs oder an die Auswirkungen der Elektrifizierung. Ökonomisch produzierten die Neuerungen in erster Konsequenz nicht nur Gewinner, sondern – den Regeln des Wettbewerbs entsprechend – stets auch Verlierer. Heute ist der Digitale Wandel in aller Munde – und natürlich greifen die Mechanismen der Marktwirtschaft. Die Digitalisierung werde nahezu alle Gesellschaftsbereiche, aber vor allem auch die Arbeitswelt nachhaltig und zum Teil disruptiv verändern, heißt es beinahe einhellig. Unternehmen, die heute keine passende digitale Strategie entwickeln, seien auf Dauer nicht mehr überlebensfähig, so das vielbeschworene Szenario. „Wer in Zukunft nicht digital mitspielen kann oder will, wird bald gar nicht mehr mitspielen“, prognostiziert etwa Prof. Dr. Tobias Kollmann, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg-Essen, in einem der zahlreich verfügbaren Beiträge zum Thema.
Wie die Zukunft auch konkret aussehen mag, eines dürfte klar sein: Auch das Coaching wird sich nicht unabhängig vom Digitalen Wandel entwickeln können. Einerseits werde der Bedarf an individueller Beratung und Begleitung von Führungskräften aufgrund steigender Komplexität und Vernetzung sowie Beschleunigung von Abläufen und Prozessen anwachsen, so eine in der Branche vielfach zum Ausdruck gebrachte Erwartung. Andererseits ist jedoch auch damit zu rechnen, dass Klienten und Unternehmen als Auftraggeber von den Coaches selbst sowas wie eine digitale Strategie einfordern werden: Den gezielten Einsatz moderner Medien, der den veränderten, weil digitalisierten Arbeitsweisen und organisationalen Rahmenbedingungen der Klienten gerecht wird. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit automatisierte Coaching-Anwendungen in den Coaching-Markt Einzug halten können und diesen verändern werden. Versuch eines Ausblicks und Bestandsaufnahme.
Indizien hierfür liefert eine 2016 durchgeführte Mitgliederbefragung des Deutschen Verbandes für Coaching und Training e.V. (dvct). Befragt wurden 188 Mitglieder, darunter 112 Coaches. Wie der Verband berichtet, werde die ergänzende Integration digitaler Medien in den Begleitungsprozess bereits von einem Viertel der Coaching-Kunden aktiv nachgefragt. Im Trainings-Bereich treffe dies schon auf ein Drittel der Auftraggeber zu. Für den Verband ist dies der Anlass, von einer wachsenden Nachfrage nach „Kommunikation über elektronische Medien“ in Coaching und Training zu sprechen. Auf Vergleichszahlen früherer Erhebungen kann sich der Verband zwar nicht berufen, jedoch werde die Schlussfolgerung von Rückmeldungen aus der Praxis gestützt. „Die zunehmende Bedeutsamkeit des E-Learning im Bereich Coaching und Training wird auch durch den Austausch mit Verbandsmitgliedern im Rahmen von Foren, Messen und dvct-Veranstaltungen deutlich“, erklärt Vorstandsmitglied Silke Anbuhl. Nach 2016 veröffentlichten Ergebnissen der 14. Coaching-Umfrage Deutschland von Jörg Middendorf (Büro für Coaching und Organisationsberatung, BCO) ist der Einsatz digitaler Medien im Coaching, zu dem sich etwa die Hälfte der Befragten bekennt, zu immerhin 43 Prozent auf die Initiative des Auftraggebers oder des Klienten zurückzuführen. Die in beiden Umfragen erhobenen Werte liegen damit zumindest nicht gravierend auseinander.
Von der Mehrheit der Klienten, die in entsprechenden Settings gecoacht werden, scheint der Einsatz digitaler Medien gut angenommen zu werden, wie ebenfalls aus den Ergebnissen der 14. Coaching-Umfrage geschlossen werden kann. Von 193 befragten Coaches, die bereits digitale Medien in ihren Coachings nutzen, gaben lediglich zehn Prozent an, das Feedback der Klienten falle diesbezüglich negativ aus. 54 Prozent berichten von positiven, 36 Prozent von neutralen Rückmeldungen – ein weiteres Indiz dafür, dass die Nachfrage zunehmen könnte. Zu bedenken bleibt zudem, dass sich unter den Klienten nach und nach immer mehr in der digitalen Welt aufgewachsene Personen befinden werden.
Werden nicht nur Unternehmen, sondern auch Coaches, die sich als nicht anpassungsfähig oder -willig genug erweisen, mittel- und langfristig zu den ökonomischen Verlierern der Digitalisierung zählen? Auch wenn dieser Gedanke nicht ganz abwegig erscheint, so können hierüber aktuell nur Vermutungen angestellt werden. Dies sieht Prof. Dr. Claas Triebel von der Hochschule für angewandtes Management (HAM) ähnlich: „Wir können aus anderen Branchen lernen, dass garantiert auch der Bereich Coaching von der Digitalen Transformation erfasst werden wird, aber wir können noch nicht genau sagen, auf welche Art und Weise sich das auswirken wird.“
Eine Vorstellung davon, wie sich der Markt entwickeln könnte, hat der Professor für Wirtschaftspsychologie, Kompetenzentwicklung und Coaching aber dennoch. Veränderungspotenzial verortet Triebel hierbei vor allem in Apps und Coaching-Algorithmen, die dem Anwender Selbst-Coaching ermöglichen sollen. Demnach werden es zukünftig vor allem Coaching-Angebote schwer haben, die sich unentschlossen zwischen „sehr analogen“ Ansätzen, die dem Markt erhalten blieben, und „sehr digitalen“ Formaten bewegen. Letztere werden sich nach Ansicht Triebels gleichzeitig durchsetzen und in Konkurrenz zu ebenjenen unentschlossenen Angeboten treten: „Rein toolbasiertes, normiertes Coaching wird in Zukunft durch Apps abgelöst werden.“ Mit anderen Worten: Coaching, das zwar im Kontakt von Coach und Klient stattfindet, Wirkung jedoch ausschließlich methodisch zu erzielen versucht, werde vollständig digitalisiert und vom Markt verschwinden. Coaching, das – in sehr analoger Weise – auf die Begegnung zwischen zwei Menschen und – vereinfacht gesprochen – auf Wirkung durch Beziehung setzt, sei hingegen nicht in Algorithmen abzubilden und werde daher auch in Zukunft nachgefragt, prognostiziert Triebel.
Welche Coaches sich letztlich in diesem Wettkampf mit digitalen Coaching-Lösungen werden behaupten können, empfindet Triebel vor allem als eine Frage von Qualität. Die Begründung: Gegenüber einer App, die effizientes Selbst-Coaching ermöglicht, könne zukünftig nur ein sehr kompetenter Coach einen echten Mehrwert bieten. Die Konsequenz, die der Psychologe sieht, dürfte nicht jedem Coach gefallen, muss im Sinne der Professionalisierung der Branche aber nicht zwingend als negativ verstanden werden: „Es werden dann weniger, dafür bessere Coaches unterwegs sein.“ Wird die Digitalisierung gar einen marktbereinigenden Effekt haben? Wird Face-to-Face-Coaching aufgrund der weniger kostenintensiven, automatisierten Alternativen wieder zu einem Privileg hoher Managementebenen?
Letztlich bleiben konkrete Antworten auf die Frage, wie die digitale Entwicklung das Coaching verändern wird, zum jetzigen Zeitpunkt spekulativ. Es bietet sich daher zunächst auch der Blick auf den Status quo an. Die Thematik des digitalen Medieneinsatzes ist in der Coaching-Branche längst angekommen. Im zurückliegenden Jahr war sie Gegenstand gleich mehrerer Studien. Nicht zuletzt widmete auch die HAM ihren jährlich stattfindenden Coaching-Kongress „Coaching heute: Zwischen Königsweg und Irrweg“ schwerpunktmäßig den digitalen Medien im Coaching. Welche zentralen Erkenntnisse lassen sich in der Gesamtschau der Umfragen herausheben?
Insgesamt 375 Coaches gaben im Rahmen der 14. Coaching-Umfrage Auskunft darüber, ob sie digitale Medien in ihren Coachings einsetzen. Eine Mehrheit von etwa 51 Prozent bejahte. Dennoch stellt das Präsenz-Coaching den Umfrageergebnissen nach das mit Abstand am intensivsten genutzte Setting dar. Konsequenterweise schneidet es auch hinsichtlich der Frage, als wie geeignet die verschiedenen Kanäle für den Einsatz im Coaching erachtet werden, am stärksten ab. Auf einer Skala von 1 (sehr geeignet) bis 5 (völlig ungeeignet) ergibt sich für das Präsenz-Coaching ein Topwert von 1,08. Es folgen – mit bereits deutlichem Abstand – Video-Chats (2,39) und das Telefon (2,43). Virtuelle Räume, so genannte Social VR-Umgebungen (VR = Virtual Reality), werden bisher praktisch nicht genutzt. Auf generelle Ablehnung stößt dieses Format jedoch nicht. Mit einem Wert von 2,90 schätzen es die befragten Coaches im Schnitt immerhin als mittelmäßig geeignet ein. Als ungeeignet erscheinen den meisten Teilnehmern hingegen Instant Messages bzw. SMS (4,34). Die deutschland-spezifischen Ergebnisse der „2016 ICF Global Coaching Study“, eine global angelegte Umfrage der International Coach Federation (ICF), bestätigen diese Präferenzen im Wesentlichen. Demnach praktizieren Coaches mit Abstand am häufigsten das Präsenz-Coaching. Das Telefon sowie Video-Plattformen können immerhin eine gewisse Relevanz beanspruchen. Instant Messages und SMS sind hingegen auch laut der ICF-Erhebung zu vernachlässigen.
Es wird somit deutlich: Der Einsatz digitaler Methoden fällt im Coaching bisher eher verhalten aus. Selbst wenn, wie der dvct aus seiner Umfrage schlussfolgert, tatsächlich schon heute eine steigende Nachfrage nach digitalen Elementen im Coaching bestehen sollte, bedeutet dies nicht, dass das klassische Face-to-Face-Coaching in der Praxis an Bedeutung verliert. Für die meisten Coaches hierzulande stellt es weiterhin den unverzichtbaren Kern eines jeden Begleitungsprozesses dar. Moderne Medien nehmen allenfalls eine ergänzende Rolle ein. Auch die Mitgliederbefragung des dvct zeichnet ein entsprechendes Bild. So berichtet der Verband, dass elektronische Medien zwar häufiger, aber fast ausschließlich in Kombination mit dem Präsenz-Format angewandt würden. Einsatz fänden sie insbesondere zur Vor- und Nachbereitung persönlicher Termine, zur Wissensvermittlung sowie in der Transferbegleitung.
Weshalb setzen Coaches bisher nur bedingt auf neue Medien? Die Teilnehmer der 14. Coaching-Umfrage nannten im Vergleich zum Face-to-Face-Setting vor allem folgende Nachteile: fehlende direkte Interaktion, fehlende Kommunikationsebenen, Gefahr vermehrter Missverständnisse und eingeschränkte Interventionsmöglichkeiten. Die Teilnehmer der dvct-Erhebung sehen eine ähnliche Problematik. Sie bemängelten insbesondere fehlenden persönlichen Kontakt und erschwertes Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Klienten. Aber sollten sich Coaches angesichts potenziell immer effizienterer technischer Innovationen auf dieses Empfinden verlassen? Triebel sieht dies kritisch und mahnt an, es müsse verstärkt Wirkungsforschung betrieben werden, „um den Vorteil der persönlichen Begegnung gegenüber der App auch langfristig rechtfertigen zu können.“
Die überwältigende Mehrheit der Coaches in Deutschland scheint weiterhin auf das Face-to-Face-Coaching und damit auf die persönliche Begegnung mit dem Klienten zu setzen, was vor dem Hintergrund der These, rein toolbasiertes Coaching werde vollständig digitalisiert und von Apps abgelöst, durchaus sinnvoll erscheint. Eine Antwort auf eine möglicherweise steigende Nachfrage nach digitalen Elementen im Coaching ist hiermit jedoch nicht gegeben. Der Einsatz vorwiegend mit Distanz-Coaching assoziierter Medien scheint aus Sicht vieler Coaches keine echte Alternative zu sein. „Die Digitalisierung kümmert sich aber nicht darum, was die Coaches wollen. Und die Kunden kümmern sich darum auf die Dauer auch nicht“, gibt Triebel zu bedenken.
Im Coaching-Magazin 2/2017 wird die Frage aufgeworfen, ob Innovationen im Bereich der Virtual Reality eine andere, stärker von digitalem Fortschritt geprägte Entwicklung anstoßen können. Hierzu soll der Blick u.a. auf bereits vorhandene Erfahrungen in der Therapie und in Teilfeldern der Human Resources gerichtet werden.