Die erste Phase eines Coaching-Prozesses ist für den Klienten und den Coach gemeinhin von zwei Herausforderungen geprägt: Zum einen nehmen beide Kontakt auf und entwickeln ihre Beratungsbeziehung. Diese Phase darf als sensibel betrachtet werden, weil von ihr ganz erheblich der weitere Verlauf der Arbeit und die erhofften Ergebnisse abhängen. In aller Regel berichtet die Führungskraft zunächst, welche Aufgaben und Funktionen sie im Unternehmen wahrnimmt, wo sie oder er aktuell steht und welche Schwierigkeiten sich dabei auftun.
In den Prozess der gemeinsamen Beziehungslegung fällt zugleich die Klärung der Bedarfe. Sie ist ein diagnostisch sehr anspruchsvoller Vorgang, in dem Eindrücke, Einschätzungen der Situation und Erfahrungen aufgegriffen und in einer abschließenden Beurteilung integriert werden müssen. Hier ist vor allem auch die Fähigkeit des Coachs gefordert, viele thematisch verschiedene Informationen verarbeiten zu können. Die Führungskraft berichtet von ihrem Anliegen, von Leistungserfolgen, aber eben auch von Einbußen, Schwierigkeiten und Problemen.
Die allermeisten Klienten – wenn sie sich (freiwillig) für ein Coaching entschieden haben – tun dies zwar sehr konstruktiv und mit der nötigen Selbstkritik. Gleichwohl: Wie verlässlich ist eine solche Diagnose? Wie groß ist das Risiko, allein das berichtete Selbstbild des Klienten zur Basis der Diagnose zu machen (Scherm & Scherer, 2011)? Sollte Coaching – zumal für Führungskräfte – nicht gerade auch systematisch die Sichtweise derjenigen Personen einbeziehen, mit denen der Klient intensiv zusammenarbeitet (vor allem: Mitarbeiter, Vorgesetzte)? Die Brisanz der Frage ergibt sich auch aus den vielfältigen Rollenerwartungen an Führungskräfte, die sie mal als Teamleader, als Motivator, mal als Antreiber, als Berater oder auch als Konfliktpartner sehen.
Zugegebenermaßen führen bereits manche erfahrene Coaches, wenn es denn die Vertraulichkeitsabsprachen erlauben, auch Gespräche mit Personen aus dem Umfeld. Sichtet man sowohl die wissenschaftliche als auch die praxisorientierte Coaching-Literatur (z.B. Backhausen & Thommen, 2006; Rauen, 2005), so wird man allerdings feststellen, dass dies eher sporadisch der Fall ist (von Schumann, 2011). Abhilfe für dieses Problem können Verfahren schaffen, die in den letzten Jahren unter Bezeichnungen wie „360-Grad-Feedback“ oder „Multisource-Feedback“ auch hierzulande zur Kompetenzentwicklung von Führungskräften eingesetzt wurden (Scherm, 2007; Scherm & Sarges, 2002).
Feedbacksysteme sehen einen Abgleich zwischen der Selbsteinschätzung einer Fokusperson („Selbstbild“, hier unser Klient) und der Einschätzung durch relevante Personen aus ihrer Umgebung („Fremdbilder“ durch Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kollegen, Projektpartner und so weiter) vor (Lepsinger & Lucia, 2009; s. Abb. 1). Auf der Basis wissenschaftlich erprobter, weitgehend standardisierter Fragebögen werden managementrelevante Kompetenzen wie „Führen“, „Konfliktmanagement“, „Motivieren und Empowern“ thematisiert.
Die Forschung zur Handlungsregulation stützt denn auch die Erwartung, dass allein schon der Abgleich von kompetenzbezogenen Selbst- und Fremdeinschätzungen einen entwicklungsstiftenden Reiz darstellt (Kluger & DeNisi, 1996; Scherm, im Druck). Dieser Reiz wird in seiner Wirkung verstärkt, wenn die Fokusperson im Zuge der Rückmeldung der Feedbackergebnisse Differenzen zwischen ihrem Selbstbild und den Fremdbildern erkennt. Aus den Feedbackergebnissen geht hervor, wo eben gerade die entscheidenden Interaktionspartner einer Führungskraft deren Entwicklungsbedarf sehen. Dabei wird den Fremdurteilern als Feedbackgeber nicht der Status einer mechanisch abzubildenden Wahrheitsinstanz zugewiesen; auch ihre Einschätzungen bleiben subjektiv und individuell konstruiert.
Um wissenschaftlich nachprüfbare positive Effekte zu bewirken, sind beim Einsatz von Feedbackverfahren eine Reihe von Aspekten zu beachten.
Handelt es sich bei den Klienten um Führungskräfte, so sollte das eingesetzte Instrument genau solche Kompetenzen thematisieren, die für eine erfolgreiche Tätigkeit bedeutsam sind. Die Kompetenzen sollten eigenschaftsbezogen, vor allem aber verhaltens- und ergebnisbezogen ausgerichtet sein (Spencer & Spencer, 1993).
Der Eigenschaftsbezug ist wichtig, um auch solche Aspekte erfassen zu können, die quasi identitätsstiftend in der Persönlichkeit des Klienten verankert, jedoch wegen ihrer relativen Stabilität in einem Coaching nur schwer veränderbar sind. Als Beispiel für ein Feedbackverfahren, das in dieser Weise aufgebaut ist, kann das Konzept des Multirater-Instruments !Response (Scherm, 2004) dienen. Dort wird der Eigenschaftsbezug unter anderem bei den Kompetenzen „Kooperation“ und „Freundlichkeit und Empathie“ über verschiedene Items hergestellt. Bei „Kooperation“ werden die Persönlichkeitseigenschaften der „Extraversion“ und der „Verträglichkeit“, bei Freundlichkeit und Empathie gleichfalls die „Verträglichkeit“ adressiert.
Die Verhaltensnähe ist für ein Coaching unmittelbar wichtig, um die für die Arbeit mit dem Klienten veränderbaren Felder zu identifizieren. Sie wird besonders in den Kompetenzfeldern „Führen“, „Steuerung von Prozessen“ und „Konfliktmanagement“ thematisiert, da diese einen starken Handlungsbezug aufweisen und für den Erfolg von Führungskräften essenziell sind.
Der Ergebnisbezug schließlich wird unter anderem in Kompetenzen wie „Leistungsehrgeiz“ oder „Lernfähigkeit“ abgebildet. Hierbei wird abgefragt, inwieweit die Fokusperson nach exzellenten Leistungen strebt und welche Schlüsse sie aus Erfahrungen (Erfolge, Misserfolge) zieht.
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen nun, dass Vorgesetzte in ihren Feedbackurteilen besonderes Augenmerk auf den Ergebnisbezug und eigenschaftsseitig auf Facetten der Gewissenhaftigkeit legen. Mitarbeiter beobachten dagegen stärker das Verhalten ihrer Führungskräfte, vor allem, wie sie die Zusammenarbeit gestalten, ob Vereinbarungen eingehalten werden und Fairness herrscht (Scherm, in Druck).
In der konzeptionellen Logik von Feedbackinventaren besteht die Erwartung, dass die Feedbacks die Kompetenzlage der Fokuspersonen aus der Sicht der Beurteiler möglichst treffend abbilden. Dies setzt voraus, dass die Feedbackgeber hinreichend Zeit und Gelegenheit hatten, die Fokuspersonen zu beobachten und zu erleben. So hat beispielsweise die Dauer der Bekanntschaft mit der Fokusperson einen starken Einfluss auf den Grad der Übereinstimmung von zwei Beurteilern (als Maß der Zuverlässigkeit der abgegebenen Urteile) (Rothstein, 1990).
Um eine möglichst hohe Übereinstimmung zu erreichen, sollten die Feedbackgeber die Fokusperson mindestens zwei Jahre kennen – eine Konstellation, die sich in der schnelllebigen Unternehmenspraxis allerdings nur schwer realisieren lässt.
Zum anderen erfassen die Feedbacks nicht nur die Situation der Fokuspersonen. Sie geben auch interessante Hinweise auf die Beurteiler selbst und ihre Art der Einschätzung (Mount & Scullen, 2001): So lässt sich feststellen, dass die Urteile in erheblichem Maße von positiven und negativen Verzerrungstendenzen im Sinne von Milde und Strenge bestimmt werden. Nicht selten schließen die Feedbackgeber auch vom Vorhandensein eines bestimmten Merkmals (z. B. einer hohen Belastbarkeit) auf andere Merkmale (z. B. eine gewissenhafte Aufgabenumsetzung). Zudem, dies allerdings in geringerem Maße, bestimmt auch die hierarchische Perspektive – also welche Stellung der Feedbackgeber zur Fokusperson in der Organisation einnimmt – das Feedbackverhalten.
Feedbackinterventionen sollen Verhaltensentwicklungen anstoßen und zu Verbesserungen führen. Metaanalytische, quantitativ angelegte Studien (Kluger & DeNisi, 1996) zeigen nun, dass Feedbacks im Mittel positive Effekte bewirken.
Allerdings führen immerhin auch etwa ein Drittel der Interventionen zu Verschlechterungen. Die Wahrscheinlichkeit für eine negative Entwicklung steigt, wenn die Rückmeldung nicht auf der Verhaltensebene ansetzt, sondern den Selbstwert der Fokusperson tangiert. Immer dann also, wenn der Klient im Coaching durch das negative Vorzeichen des Feedbacks grundsätzliche Zweifel an der eigenen Person und seiner Selbstachtung erfährt, besteht die Gefahr, dass sie oder er sich Änderungsmöglichkeiten gegenüber verschließt.
Werden Feedbackprozesse in Entwicklungs- und Förderprogramme platziert, so sind die Effekte deutlich besser als wenn sie in administrativ ausgerichtete Prozesse (Beurteilung, Beförderungsentscheide) eingebunden werden (Smither, London & Reilly, 2005). Offenbar geht in beiden Fällen der psychische Aufwand, das eigene Selbstkonzept gegen eine entsprechende Bedrohung verteidigen zu müssen, zu Lasten der Arbeit an konstruktiven Verhaltensalternativen.
Nachfolgend sollen nun – an einem fiktiven, gleichwohl realitätsnahen Beispiel – die Möglichkeiten aufgezeigt werden, die ein multiperspektivisches Kompetenzfeedback bei der Klärung der Bedarfe bieten kann. In die Befragung einbezogen wurden neben der Führungskraft selbst als Klient deren Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter (s. Abb. 2). Als für ein Coaching relevante Kompetenzen wurde ein Satz von Dimensionen aus dem Multirater-Inventar „!Response“ (Scherm, 2004) berücksichtigt.
Die erste Aufmerksamkeit gilt dem Gesamturteil aller Feedbackgeber (grauer Balken „Fremd gesamt“). Dieses wird nicht direkt erhoben, sondern unter Berücksichtigung der jeweiligen Größe der Beurteilergruppe aus allen Fremdeinschätzungen berechnet. Durch eine Gegenüberstellung des Selbsturteils des Klienten mit dieser Fremdeinschätzung lassen sich Hinweise für potenzielle Interventionsbedarfe ermitteln. In erster Linie liefert die Größe der Urteilsdifferenz in den jeweiligen Dimensionen Anzeichen dafür, ob eine weitergehende Analyse notwendig ist.
Daneben ist die absolute Höhenlage der Werte aufschlussreich, nämlich, inwiefern die Fremdurteile über oder unter dem Niveau liegen, welches für die Funktion des Klienten als notwendig erachtet wird (Sollprofil). Im Beispiel legen die relativ großen Urteilsdifferenzen den Fokus auf die Dimensionen „Konfliktmanagement“ sowie „Motivieren und Empowern“ und in geringerem Maße zusätzlich auf „Freundlichkeit und Empathie“ sowie „Führen“.
In einem zweiten Schritt liefern die verschiedenen Beurteilerperspektiven genauere Bilder der Rollenvorstellungen, die die verschiedenen Beurteilergruppen dem Klienten zuweisen.
Aus der Gesamtschau ergeben sich als wesentliche Ansatzpunkte für das Coaching zentrale Belange einer beziehungsorientierten Mitarbeiterführung. Hierbei sollten eine verbesserte Reflexion der Lage und daraus folgend auch die Verhaltensebene den Schwerpunkt bilden: Wie können Mitarbeiter aktiver beteiligt werden, wie lassen sich konträre Standpunkte und Meinungsverschiedenheiten konstruktiver und „auf Augenhöhe“ behandeln?
Das anspruchsvolle Ziel besteht darin, vom inneren Schema der „Ressource Mitarbeiter“ und ihrer Dominanz etwas abzugehen in Richtung eines stärker an unmittelbarer Wertschätzung orientierten Stils. Oft offenbaren sich anschließend im Coaching-Prozess gerade bei leistungsgetriebenen Führungskräften Ängste vor Leistungseinbußen, wenn eine verträglichere Führung angebahnt werden soll.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass ein sorgfältig ausgedeutetes Feedback gute Chancen bietet, die wirklich wichtigen Bedarfsfelder für ein Coaching zu identifizieren.